[exilpost 1]

Exilpost 1

[Post 1 – Do 14:23]

Berlin Hauptbahnhof. Die Bahnsteighallen werden mit der Meldung zu den jüngsten Anschlägen beschallt. Eine freundliche, aber kühle Frauenstimme: SABOTAGEAKTE: WEGEN SABOTAGEAKTEN VERZÖGERT SICH…
Bedrohung hallt durch die Halle. Es erinnert mich an jener Szene aus Alien, in der die Frauenstimme aus dem Bordcomputer durch die Flure schallt und die Selbstzerstörung des Raumschiffes verkündet, gefühlte Stunden lang, in Dauerschleife, unbeirrbar und bedrohlich, doch es VERZÖGERTE sich im Film so gar nichts, das Raumschiff ging schließlich in die Luft.
Aber gut, da war man auch vorgewarnt.

# Der Zug ist abgefahren, und ich sitze drin. Ich hatte Glück. Tausende polnische Pilger drängten sich in meinen Wagon. Ich sah es schon vor mir, wie ich mit drei schnarchenden Polen im Schlafabteil liege und schlesische Schäfchen zähle. Stattdessen: Glück. Ich teile das Abteil mit einem langhaarigen, jungen Mann, der Theatermanuskripte liest und zwei Frauen Mitte dreißig. Die eine liest die ZEIT, die andere schaut verstrahlt aus dem Fenster. Schlanke Männer schnarchen nicht, und Frauen mitte dreißig schon gar nicht, vor allem nicht, wenn sie die ZEIT lesen. Ich habe also Glück, aber das habe ich schon gesagt.

# Eigenartige Auswahl Bücher habe ich im Gepäck:

* Helmut Krausser: die letzten Tage
* Roberto Bolaño: die Telefongespräche
* JM Coetzee: die jungen Jahre
* Haruki Murakami: wie ich eines schönen Tages im April das 100%ige Mädchen sah
* Paul Auster: Nacht des Orakels

Ich weiß nicht, warum ich fünf Bücher mitgenommen habe. In diesen vier Tagen werde ich höchstens fünf Seiten lesen. In einem Moment der Panik muss ich alle Geschmackssituationen und emotionalen Abhängigkeiten durchgespielt haben (ich hatte vierzig Minuten Packzeit) und zwischen die Hemden gequetscht.
Ich wollte eben ein paar Zeilen lesen. Aber diese eigenartige Auswahl hat mich dermaßen durcheinander gebracht, dass ich nicht mehr lesen kann.

# Wir kommen ins Gespräch. Man fragt nach meiner Herkunft, daraufhin reden wir über Südtirol, reden übers Wandern, und landen irgendwann beim Ersten Weltkrieg. Schließlich konstatieren wir: boah, wir sind beim Ersten Weltkrieg gelandet, wie konnte sowas passieren. Ich schlage vor, es als Leistung zu betrachten, immerhin reden wir über den Ersten Weltkrieg und nicht über den Zweiten, wann bitte macht man das schon. Man stimmt mir zu. Blöde Diskussion, wir lächeln unsicher.

# 23Uhr. Mist. Eh kein Internet. Ich habe den Stick vergessen, werde wohl erst morgen irgendwas online stellen können.

# 7:45. Die Berge fangen kurz nach Rosenheim an. Üblicherweise vermisse ich die Berge nicht sehr, aber wenn man so in die Alpen einfährt, und die Landschaft sich aufstellt, diese Kulisse, bei der man auf einmal den Boden unter den Füßen wahrnimmt, das ist schon beeindruckend.

# 11:15. In Kufstein den Laptop hervorgezogen um diese Notizen einzutippen. Mir fiel ein, dass ich mit dem Laptop ja auch über das Handy ins Internet kann. Seit Österreich weigert sich mein Handy allerdings, ins Internet zu gehen. Die Pest ist das. Roaming, was weiß ich, was da los ist. Ich verbringe die ganze Zeit bis Klausen, mit Versuchen, ins Internet zu kommen. In Klausen habe ich dann Kopfweh und schlechte Laune. Ich lehne mich zurück. Gleich kommt Bozen.

# 11:25. In Bozen einfahren löst bei mir oft ein sehr seltenes esoterisches Gefühl aus. Mein einziges esoterisches Gefühl überhaupt. Ich komme an meinen Geburtsort zurück. Über Bozen bläht sich eine hellblaue Kuppel auf, auf der Innenseite dieser Kuppel steht in geschwungener Schrift geschrieben: Meko, Dein Geburtsort, knie nieder und sehe dieses erhabene Zeichen.
Bei so einer Vorstellung werde ich natürlich total demütig.

# achtundzwanzig Grad, blauer Himmel. Scheiße, was ist denn hier los?

[melancholia]

In der achtminütigen Anfangssequenz von Melancholia bricht er vermutlich mit jeder einzelnen Dogma95-Regel, bis auf die Regel mit dem Filmmaterial vielleicht, die kann ich nicht beurteilen. Schließlich endet die Sequenz mit dem Bruch des Verbots, den Namen des Regisseurs zu erwähnen, indem der Name des Films eingeblendet wird. Nicht Melancholia, nein: Lars von Triers Melancholia.

Ich meine, eine wesentlichen Zug von Triers Filmen ausgemacht zu haben, es ist die ständige Anwesenheit der Antagonismen. Sei es in den einzelnen Charakteren, die immer in Spannung zueinander oder zu sich selber stehen, seien es die Situationen, die durchgehend Gewicht haben, bei jeder kurzen Befreiung lautert das nächste Gegengewicht, man mag sich gar nicht mehr darauf verlassen, die Geschichte, zwingend dargestellt, man bleibt immer gefangen in einer, ich nenne es jetzt mal, öhm, emotionalen Anhängigkeit. Der einzige Moment, an dem man losgelassen wird, ist die späte Szene im Pferdestall, ich verrate die Details natürlich nicht, aber der Film lässt einen kurz los, zeigt, was dort passiert ist und stellt fest, dass alles so erbärmlich ist.

Es gäbe viel über Lars von Triers Filme zu sagen, aber mir ist an seinen Filmen immer am Liebsten, dass ich danach schlecht schlafe, tagelang starke Bilder im Kopf habe und lange keine anderen Filme schauen mag.

Filmbesprechnung bei Anke.

[flttr]

Ich habe Flattr wieder abgeschaltet. Ich finde es nach wie vor eine gute Sache, ich finde auch Geldverdienen im Internet eine gute Sache, und ich möchte mich für die freundlichen Klicks bedanken, alles zusammengerechnet habt ihr mir 19,25€ geschenkt. Das hat mich sehr gerührt, und wirklich sehr gefreut. Dass einige von euch tatsächlich schlichtweg hin und wieder Geld liegengelassen haben, das finde ich toll. Dafür möchte ich mich bedanken.
Und trotzdem habe ich den Flattr-Knopf von der Seite entfernt. Diese Bettelhaltung, die nach jedem Posting kommt, die hat mich zu sehr gestört. Wie beim Straßenmusiker, von dem man weiß, dass er gute Laune macht, doch wenn das Lied zuende ist, will er Kohle von Dir. Man will schon gar nicht mehr hinhören. Ich gebe Geld immer nach Sympathie. Den Langweiligsten und Erfolglosesten gebe ich Geld. Den Guten nie. Es ist eine Frage der Vernunft. Die Schlechten können es brauchen, die Guten kommen schon irgendwie durchs Leben. Bei den Guten traue ich mich nie, die Musik zu mögen, weil ich glaube, dafür bezahlen zu müssen. Ich fürchte mich davor, versehentlich mit dem Fuß zu wippen. Schon könnte der Straßenmusiker herangeschossen kommen und mit dem Zeigefinger auf meinen Fuß zeigend, mir seinen Beutehut unter die Nase halten. Ich stünde öffentlich als Raubhörer am Pranger.

Trotzdem: Flattr finde ich gut. Gerade im Hinblick auf die Taz. Wenn ich es richtig verstanden habe, finanziert sich die Taz damit eine Praktikantenstelle, das ist eine tolle Sache, aber es funktioniert nicht in dem Maße, wie es möglicherweise erdacht war. Ein Micropayment-System braucht die Masse, mit der die kleinen Beträge sich rentieren. Sonst bleibt es ein nettes Spielzeug, mit einem ernsthaften Anstrich. Die Masse ließ sich nicht mobilisieren, ich glaube das wars jetzt, lasst uns weitersehen.

["in die Allee gegurkt"]

Als mir der Prüfer von der DEKRA meinen Führerschein aushändigte sagte er, ich hätte einen blinden Flecken für Geschwindigkeitsbegrenzungen, es sei, als würde ich sie in einer halluzinatorischen Gutgläubigkeit ausblenden. So sagte er das. Halluzinatorische Gutgläubigkeit. Weil ich aber zu Langsamkeit tendiere und sonst in allen anderen Bereichen ein überaus konzentrierter Fahrer sei, zudem auch in einem etwas reiferen und somit vernünftigeren Alter, fand er es falsch, mir wegen dieses Mangels, den Führerschein zu verwehren.

Ich fahre immer vierzig oder sechzig. Ich übersehe Geschwindigkeitsbegrenzungen tatsächlich. Ich strenge mich zwar an, und werde es sicherlich bald beherrschen, aber es ist eine erstaunliche Schwäche. Ich glaube, das sind die natürlichen Stundenkilometer, mit denen ich mich motorisiert durch das Leben bewege. Vierzig in der Stadt, sechzig auf dem Land. Immer, wenn ich in Gedanken vertieft fahre, finde ich mich irgendwann mit vierzig Stundenkilometer wieder. Auf dem Land sind es sechzig. Meine natürliche Geschwindigkeit, als würde mein Bio im Rythmus mit Mutter über die Erde schweben.
Das hält auf dem Land die anderen Fahrer auf, das wusste ich vorher nicht, heute fahre ich zum ersten mal auf dem Land. Hinter mir bilden sich immer Kolonnen. Im Wald, unweit von Strausberg, sammle ich über ein dutzend Autos hinter mir, etwa sechzehn oder siebzehn. K zählt achtzehn, ich komme aber nur auf sechzehn. Auf einer geraden Strecke durch einen Acker wird das Überholverbot aufgehoben, man überholt mich sofort, aber niemand hupt.

Ortseingang Strausberg, ein älteres Ehepaar sitzt im Auto neben mir an der roten Ampel. Die Frau schaut abfällig auf meine Autotür mit dem Schritzug Carsharing Berlin herab. Ich musste also einer dieser schnöseligen Grün-Wähler aus der Stadt sein. Ja, so sehen wir aus. Ich lächle freundlich. Sie weiß natürlich nicht, dass ich die Piraten wähle.

Musikhören geht noch nicht, aber ich kann erstaunlich gut plaudern. K und ich unterhalten uns die ganze Zeit über blendend. Das habe ich von meinem Fahrlehrer gelernt.
Ich konzentriere mich auf 70km/h. Die Abwechslung von Licht und Schatten. Wenn man schneller fährt, geht die Allee in Sequenzen von Bildern auf, sie verschwimmen und werden zur Bewegung, nicht fließend, aber die Landschaft hinter den Bäumen geht in einen Super-8 Film über, eine Landschaft aus den Siebzigern, die Verschlußklappe des Filmes klappert, es fehlt das Audio, es könnten mir jeden Moment Menschen in die Kamera winken, man sieht die Lippen bewegen, aber man hört sie nicht. Wenn man beschleunigt, und die Augen dabei zu dünnen Schlitzen schließt, verwischen die Farben. Das Meditative der Brandenburger Alleen. Wir würden den Kopf in den Nacken legen.

Ich kann noch nicht tanken. Auch K kann nicht wirklich tanken. Ich schiebe mein erstes Tanken vor mir her, bis ich jemanden im Auto sitzen habe, der mich notfalls retten kann. Beim Carsharing muss man erst tanken, wenn der Tankanzeiger auf ein Viertel steht. Bisher hatte ich immer Glück. Sähe ich den Füllungszeiger einmal auf kurz vor Viertel, ich glaube, ich würde nicht einsteigen. Ich weiß nicht, was schiefgehen kann, ich könnte es natürlich auch googlen, aber Google mein Arsch, es muss auch ohne Google gehen.

Einfache Sachen machen wie fahren, ist einfach. Schwierig wird es bei schwierigen Sachen. Zum Beispiel: anhalten auf einer Landstraße. Ich habe das nicht hinbekommen. Es scheitert stets daran, dass ich die Parkstelle zu spät als solche erkenne und das Auto hinter mir im Weg steht, da ich Angst habe, zu fest auf die Bremse drücken zu müssen. Es hat mich niemand darauf vorbereitet, mir solche Dinge antrainieren zu müssen. Parkstellen frühzeitig erkennen. Was für eine bescheuerte Sache.

Irgendwann vor Berlin: ich sehe das Tankstellensignal aus der Ferne. Tankstelle bedeutet Parkplatz, ich kann mich vorbereiten: Blick in den Rückspiegel, Blicke in die Seitenspiegel, Blinker, runter vom Gas, dritter Gang, zweiter Gang, leicht bremsen und: rechtsrum. Ich fahre auf eine Zapfsäule zu, will aber doch nur parken, reiße das Lenkrad rum und gelange auf eine asphaltierte Fläche hinterm Tankhaus. Keine aufgemalten Parkfächer, ich stelle mich also an die Seite, bin mir aber nicht sicher, ob ich richtig stehe, wende zwei mal, beschließe einfach, dass ich richtig stehe, ich bin ja der einzige hier, und puh, stelle den Motor aus, gerate erst ins Rollen, erinnere mich an die Handbremse, ziehe sie an und: gut ist. Das Auto steht.
Wir steigen aus. Gehen in den Tankstellenshop und bestellen einen Kaffee. Der Tankwart an der Kasse lächelt mich freundlich an. Er reicht mir eine Karte und fragt:
-Trinken sie öfter bei Shell Kaffee?
-Ob ich öfter bei Shell Kaffee trinke?
-Ja
-Ich weiß nicht genau
-Wollen Sie denn öfter bei Shell Kaffee trinken?
-Ich weiß nicht genau
-Ich gebe Ihnen unsere Kaffeekarte, für jeden Kaffee bekommen Sie einen Aufkleber. Den sechsten Kaffe bekommen Sie umsonst.

Ich nehme die Kaffekarte entgegen. Es kommt mir vor, als würde ich ab jetzt Fleißbildchen sammeln.

[pafo]

Heute in die italienische Botschaft zu fahren war eine eher so mittelmäßig gute Idee. Der kürzeste Weg führte entlang der katholischen Bischofskonferenz und mitten durch das Regierungsviertel. Berlin war in den katholischen und in den säkularen Sektor geteilt. Ich bin dann Umwege gefahren, entlang der Polizistenketten, durch eine gespenstisch leere Friedrichsstadt. In der Botschaft standen die Zeichen auf Papst. Poster. Verkürzte Arbeitszeiten.

Pontifex
Pontifex
Pontifex
Pontifex
Pontifex
(Was für ein Wort. Das könnte ich ewig vor mir hersagen)

Mein neuer Pass enttäuscht mich, ich hatte Technik erwartet, ich weiß nicht woher die Erwartung kam, ich dachte man sähe die neuen Sicherheitstechnologien offensichtlicher, oder wenigstens aus Plastik, dem Führerschein gleich, da hat man ja auch das Gefühl, alles sei in Plastik gemeißelt. Für die Ewigkeit und unumstößlich. Der Pass hingegen, ist immer noch papieren.

Ohmann, bin ich gealtert.





Apropos Führerschein. Am Sonntag großgeistig Piraten gewählt, mit Freude einen Bonus zum Verspielen gegeben. OK, die Sache mit dem Urheberrecht, da müssen wir nochmal drüber reden, aber macht erstmal.
Dabei habe ich ganz kleingeistig der Wahlleiterin meinen Führerschein vorgezeigt. Stolz und inbrünstig. Der Wahlleiterin war das ziemlich egal.

[…]

Die Leute feiern und lachen. Sie tun als würde sich die Welt nur um sie drehen. Dabei wissen sie gar nicht was heute passiert ist. Heute bin ich das erste mal ohne Fahrlehrer Auto gefahren.

(Hätte ich ich natürlich auch Twittern können, aber: -48)

[ja, ich komme]

Dieses Mitteilen. Als ich heute die Führerscheinprüfung bestanden hatte, wollte ich nur noch mitteilen. Ich stand da so alleine auf der Straße, hielt diesen Lappen in der Hand und wusste nicht wohin mit meiner Freude. Ich habs dann gleich mit dem Handy auf Twitter gepostet, denn wenn ich es auf Twitter poste, dann wird Facebook und Googleplus automatisch upgedingst. Führerschein ist eine feine Sache, glaube ich. Ich wollte immer schonmal mit K raus an die Seeen rund um Berlin, mit einem Korb und einer Decke, ein bisschen Obst und Käse, und einer Flasche Wein (die ich dann nicht trinken darf). So ungefähr stelle ich mir das vor. Mehr weiß ich mit einem Auto vermutlich nicht anzufangen. Außer, dass das natürlich ganz super erwachsen ist. In letzter Zeit träumte ich oft, dass ich in einem Auto sitze und das Fahren übernehmen müsste, doch dann besinne ich mich stets darauf, dass ich nicht fahren darf. Neulich saß ich in einer Art Seifenkiste, ein Mann saß am Lenkrad, er hatte den Führerschein, konnte aber nicht fahren. Hinter uns war etwas Gefährliches, wir wurden verfolgt, ich musste das Fahren übernehmen, aber den Eindruck vermitteln, dass er fahren würde und nicht ich. Ich wusste wie das alles geht, mit Kupplung drücken, drei Blicke beim Abbiegen und links vor rechts, ich gab vom Beifahrersitz aus Gas und verrenkte mich um Schaltung und Lenkrad zu bedienen. Der Mann auf dem Fahrersitz saß nur da und vermittelte Eindruck.
Ich frage mich, was aus diesen Träumen wird.