[tcho]

Seit mein Fahrschullehrer mitbekommen hat, dass ich etwas mit Computern mache, erleidet mein Fahrverhalten einen ganz schlimmen Qualitätsschwund. Mein Fahrlehrer ist so etwas wie ein Hobbynerd, der ins falsche Jahrzehnt hinein geboren wurde. Als die Computer begannen sich in den Alltag auszubreiten, war er beruflich schon gefestigt, und er ist ein viel zu bodenständiger Charakter, um auf so eine verrückte Idee zu kommen wie eine berufliche Neuorientierung. Jetzt schlägt er sich seit Jahren ziemlich begeistert mit viel Halbwissen und der ComputerBILD herum, er ist der Typ, der Stunden in Elektronikfachmärkten um die Regale streunt, vergleicht und liest. Er fühlt sich schnell ein bisschen ausgenutzt, schlecht Beraten von den Verkäufern, von denen er immer glaubt, dass sie ihm etwas angedreht hätten, das gar nicht so gut sei, es ginge ihnen ja nur um den schnellen Verkauf usw. Ich kann seine Zweifel relativieren, ihn mit viel Detailwissen die Dinge erklären. Er mag das, er bleibt dann immer mit einem guten Gefühl übrig. Seit er weiß, dass ich sozusagen ein Profi bin, will er von mir zu allen Technologien und und Entwicklungen die Meinung wissen. Mein Problem ist, dass ich zu ziemlich allem ziemlich viel Meinung habe und je erregter ich beim Äußern meiner Meinung werde, desto blinder werde ich für Verkehrsschilder und anderen Verkehrsteilnehmern. Das geht seit ein paar Wochen so. Am Ende der Stunde sagt mein Fahrlehrer immer: Mek, ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber du wirst mir immer unkonzentrierter.
Ich schaffe es dann nie, ihm zu erklären, dass mich das viele Reden um die Konzentration bringt. Ihm scheint das so viel Freude zu machen. Es täte mir Leid, uns um unseren Gesprächsstoff zu bringen. Ich stelle mir das so vor, dass er in seinem Fahrschullehrerleben verbal ziemlich unterfordert ist, da er ja jeden Tag mit achtzehnjährigen Fahrscheinlehrlingen unterwegs ist, deren Interessen sich mit denen eines Mitte Fünfzigjährigen nicht besonders decken dürften. Denke ich mir so. Ich habe ihn aber nie danach gefragt. Ich sehe mich ein bisschen als Komplize. Es ist ganz blöd, ich weiß.
Seit vorletzter Woche versuche ich einfach zu schweigen. Zwar frage ich beim Losfahren, wie sein Wochenende gewesen sei, dann erzählt er ein bisschen davon (meist hat er neue Firmware installiert und ewig nach Dokumentation im Internet gesucht, oder am Laptop seiner Frau geschraubt, die sich immer aufregt, dass er ihr etwas verändert), das ist dann okay, ich höre zu einem Drittel zu, was ausreicht, um mich mit dem Verkehr und der Bedienung des Autos zu beschäftigen, aber sobald dann die erste Frage kommt (»kannst du mit deinem Android eigentlich Tethering? Ich kann das auf meinem iPhone nicht«), verliere ich das Gefühl für Geschwindigkeit. Kurz darauf ermahnt er mich dann total entrüstet, dass man in einer dreißiger Zone doch nicht 50 fahren darf, ich müsse schon auf das Tacho gucken usw. Es ist ein dummer Kreis von Umständen. Vielleicht aber gar nicht schlecht, schon mal zu üben.

[heho]

Ich weiß nicht woher meine momentanen positiven Gefühle für Hertha BSC gekommen sind. Ich schaue mir alle Spiele, live, über graurechtliche Seiten an. Ich halte mir die Hände vor Augen, wenn Hertha ein Tor kassiert, und klatsche einsam, aber glücklich, vor dem Monitor in die Hände, wenn der Ball ins richtige Netz geht. Ich weiß nicht woher das kommt. Und ich kann mich gar nicht dafür schämen, zu positiv ist mein Gefühl für die Mannschaft. Hertha, Himmel, woher das jetzt plötzlich kommt? K sagt, dass ich ein Fußballfan sei, hätte nicht in unserem Kennenlernstatuten gestanden, und ich sage: ich bin ja gar kein Fußballfan. Ich habe nur total positive Gefühle für Hertha BSC. Ich habe sie gebeten, mir bis Juni Zeit zu geben. Hertha steigt dann vermutlich wieder in die erste Liga auf, und dann ist es vielleicht auch wieder vorbei. Komische Sache das. Dabei ist mir pietätvolle Underdog-Haltung übelst zuwider.

[gut]

Gestern im Kino des Tacheles gewesen und Tykwers »Drei« gesehen. Ungefähr zwei Monate verspätet. Das Bedürfnis auch, diese Art von Filme immer beim Erscheinen zu sehen. Vielleicht weil sie so am Zeitgeist festgenagelt sind. Auch Spalanzani hat ihn gesehen, und wohl eine der treffenderen und am wenigsten hämischen Betrachtungen darüber geschrieben. Das mit der Häme ist wichtig zu erwähnen, weil dieser gegenwärtige Tonfall der Leute so unerträglich ist, in den Blättern, in der Foren, wenn sie sich über ihresgleichen hämisch abarbeiten, um sich damit von einem Gefühl zu befreien, das einer Art Schuldgefühl ähnlich scheint. Die Angst vor dem eigenen Klischeebild von der Seele schreiben. Der Film, also die Charaktere darin, deren Leben, bieten Angriffsfläche für Ihresgleichen. Und diese stürzen sich darauf.
Jedenfalls habe ich ihn eben erst zwei Monate verspätet gesehen. Und ich verlinke dankend an Spalanzani. Es kommt merkwürdig daher, diesen Film noch zu besprechen.

Ich hatte vergessen, dass das Tacheles dermaßen trashig ist. Ich war zu lange nicht mehr wirklich da. Da war das Tacheles noch cool. Neben den vielen jungen Touristen, die staunend vor der Ruinenkulisse stehen, gehen auch ganz normale Leute ein und aus. Auch Ältere. Also Leute, die nicht Touristen sind, sondern ins Kino gehen, oder in eine Ausstellung, hiesige Leute, wie K und ich. Das hat mich dann doch positiv überrascht. Und mich mit dem Tacheles versöhnt. Möglicherweise ist unsere Interpretation der Tacheles-Ästhetik und der Verbindung mit Umsturz und Häuserkampf ein überholtes Bild. Ich versuche dem Tacheles dauernd Positives entgegenzubringen und wusste nie so recht warum, aber gestern blitzte es kurz in mir auf. Ich glaube, das hat mit der Sauberkeit zu tun. Die Sauberkeit des Hauptbahnhofes, die Sauberkeit der Foster-Architektur, die Sauberkeit der Lounges, die Sauberkeit der Weißweingläser, die sauberen Lebensläufe, die Sauberkeit in der Literatur, das Reduzierte, Zurückhaltende, vielleicht mutlose, weil unangreifbar, diese öde Zurückhaltung der Internationalen Moderne, mit der Berlin momentan vollgebaut wird, diese saubere Sagrotan-Ästhetik, hermetisch oder distanziert, je nachdem. Wäre ich Architekt, würde ich mit der Neuen Sachlichkeit abrechnen, ich würde es »Neue Unsachlichkeit« nennen. Ich würde jede Zurückhaltung nach außen biegen, jede Eleganz in Schieflage legen und jede Fassade die aussieht, als müsse jede Woche eine Reinigungsfirma ran, mit Betonpoke besprühen.
Die Architekturgeschichte hatte einfach noch nicht ihre Punkperiode. Oder 68-er Revolution. Je nach Sozialisierung.

Wir saßen also im Kino. Der Raum vollgestellt mit breiten, roten Ledersofas. Wir waren die ersten, nahmen uns das größte Sofa, ein schwules Pärchen setzte sich vor uns, ein älteres Paar hinter uns. Links brannte ein Propangas-Ofen. Er vermochte den Raum nicht zu wärmen, aber er zischte und ssschhtete den ganzen Film über von der linken Seite her ins Ohr. Rechts hinter den Brettern hörte man ab und zu die Straßenbahn von der Oranienburger her donnern. Zur Hälfte des Filmes entdeckten wir die Decken, wir deckten uns zu, meine Füße waren eisig. Ich weiß nicht ob ich das noch gut finde, aber uns war ganz gut zumute.
In weiten Teilen fanden wir den Film jedenfalls ziemlich gut.

[everyfing]

# Übrigens gibt es ein feines, kleines Buch im Text-Manufaktur Verlag zu erwerben. Die Jahresanthologie der Text-Manufaktur in Leipzig. Darin steht auch ein Text von mir. Etwas ältere Leser dürften sich an den Text erinnern, es ist der mit dem Titel »In meinem alternativen Leben (wäre ich Lehrer)«. In etwas überarbeiteter Form. Das Buch ist in Leinen gebunden und fühlt sich sehr fein an.

# Weil es gerade passt, und auch weil es zur Chronistenpflicht gehört, noch ein Rückblick mit ein paar Fotos vom Abend neulich in Leipzig. Hier.
Mein Romanprojekt heißt übrigens nicht wirklich »Alles«. Der Name stammt noch aus der Zeit, in der ich ALLES in diesem längeren Text unterbringen wollte. Ich wollte die Gegenwart darin unterbringen, ich wollte alle Zusammenhänge erklären, ich wollte Deutschland erklären, Österreich, die Welt, Italien, die Liebe, das Geld, die Aufstände, Berlin und das alles. Alles eben. Davon ist nur ein bisschen etwas übrig geblieben, aber einen Roman »ein bisschen etwas« zu nennen, fand ich dann ziemlich Marmelade.

# Später, als jener Text sehr berlinzentriert wurde, hatten ich ihn in einer lustigen Laune einmal in »Allet« umbenannt. Was mich daran am meisten gestört hat, war die Angst, der Titel könnte in so etwas krautiges wie »Everysing« übersetzt werden. Nicht jeder hat das Glück, gute Übersetzer zu haben. Oder das Pech, sich selbst zu überschätzen.

[…]

# Ich laufe derzeit nicht warm. Zu den Feuern in den arabischen Ländern nicht, wie auch nicht zu der Sache mit dem Plagiat. Für die Leute in Nordafrika freue ich mich natürlich, es ist die Zeit des Umbruchs, die Hoffnung auf ein besseres Leben. Aber das was kommt, ist vermutlich keine gute Zeit. Wir im Westen taugen eh nicht mehr als Vorbilder, wir haben es vergeigt, das was wir als Demokratie in andere Länder getragen haben, ist eine Art Verwertungsmaschinerie, ökonomische Interessen, aber nicht das, was Demokratie in Zeiten des Aufbruchs – auch für uns – immer bedeutet hat: Freiheit. Die Karawane dort ist weitergezogen, man scheißt auf unsere sogenannte Freiheit, man sucht wieder die Sicherheiten, die harte Hand, den Gott, Imame und Priester. Das gibt Halt. Und wird sich gegen uns richten.

# Zu den Freiheiten, und wie es bei uns so weit kommen hat können. Es erschreckt mich, wenn ich mit sogenannten gebildeten Menschen aus meinem beruflichen Umfeld über Menschenrechte rede. Gebildete Menschen die sagen, Kinderschänder gehören lebenslang hinter Gittern. Schwarz-Weiß, Patzbumm, harte Hand, so wünschen es die Leute, keine Auseinandersetzung mit der Thematik, keine Reflektion darüber, wie Grenzen zu repressiven politischen Systemen schwinden. Die Angst. Und dann muss ich mir anhören, ich hätte ja keine Kinder, sobald man Kinder habe, denke man über so etwas anders. Mein Arsch, Menschenrechte gehen bei mir immer noch über eine diffuse, irrationale Angst um mein kleines Familienglück.

# Bildung ist auch nur Schule.

# Bei der Plagiatgeschichte nerven mich am meisten jene Leute die jetzt nach Rücktritt schreien. Ich kann dieses politische Marktgeschrei nicht hören. Andernseits habe ich nie studiert und kenne mich auch in der Doktortitelszene nicht aus, das ist alles sehr weit weg von mir.
Aber das, was Percanta sagt, wäre wohl meine Meinung, wenn ich eine hätte.

[U]

In der U-Bahn wieder. Ich erzähle nur noch von der U-Bahn. Vorhin schauten wir alle im Wagon auf den Nachrichtenbildschirm. Und dann kam der Bericht über dieses Kamel, das in Teltow eine Frau auf dem Bürgersteig umgerannt hat. Wir mussten alle grinsen. Und als wir das voneinander bemerkten, schauten wir ein bisschen ertappt.

[L]

# Hubert Winkels kommt am Beginn des Abends auf uns Finalisten zu. Ich strecke meinen Rücken und strecke meine Hand. Ich komme mir vor wie ein Musterschüler.
Thomas Hettche, der andere aus der Jury, hält sich im Hintergrund. Er ist eine beeindruckende Präsenz.

# Dummerweise war ich zwei Tage vor der Lesung auf einen etwas älteren Artikel von Winkels in der Zeit gestoßen. Es ging um Emphatiker und Gnostiker. Darin taucht Moritz von Uslar in einem negativen Kontext auf. Ich bin kein Uslar-Bewunderer, fand sein letztes Buch jedoch unheimlich gut. Das Dumme war in diesem Fall nur: Uslars Name taucht auf den ersten Seiten meines Romanes auf. Warum auch immer, fraget nicht. Ich werde also vor einem Kritiker lesen, dem in der Wertung meines Textes unweigerlich dieser Fakt aufstoßen wird. Das war schon witzig. Ich habe seitdem kein Auge mehr geschlossen.

# Nein, ich habe den Preis nicht gewonnen. Aber viel Erkenntnis.
Der Preis ging an Simone Adams. Und der Publikumspreis an Martina Klein. Alle beide sehr verdient. Wobei mir der letztere Text ein bisschen besser gefiel.

# Nachher haben wir viel Wein getrunken und beachtlich schweres, sächsisches Bier. Wir sitzen bis in die Nacht lose beinander. Winkels und Hettche im Mittelpunkt. Sie reden viel, und werden geliebt. Martina Klein, Winkels und ich bleiben übrig, ich bringe uns ins Hotel, ich habe noch meinen inneren Kompass. Unterwegs stapfen wir durch eine Eislandschaft und reden angeregt. So angeregt, dass wir auf die offene Hotelbar hoffen. Die hat aber zu, also legen wir uns ins Bett.

# Beim Einschlafen verblüfft das Neue Testament auf dem Nachttisch erspäht. Und den Anfang gelesen. Ein ziemlich beeindruckender Romananfang: Dies ist das Buch von der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes David, des Sohnes Abrahams. Danach wird über eine komplette Buchseite in Sätzen wie dem folgenden, der Stammbaum durchgerattert: Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder. Bis man eine Seite später bei Jesu angelangt.

# Am Frühstückstisch setzt sich Winkels mir gegenüber. Er ist am Frühstückstisch geistig schon so rege wie nachts nach dem letzten Glas Wein. Er isst nichts, trinkt nur Kaffee und weist mich auf die Schwachstellen meines Manuskriptes hin. Das liegt alles schwerer im Magen als die Frühstückssalami, die ich zu essen versuchte, man kann sich fundierter Kritik eines berühmten Kritikers nicht entziehen, man hört zu gespannt hin und schluckt es. Das Frühstück auch. Im Magen kommt ohnehin alles zusammen, egal wie es auf dem Teller aussah. Er hat aber auch lobende Worte, die gehen mir hingegen runter wie Öl.
Als ich später vom Frühstück aufstehe, weiß mein Verdauungstrakt nicht mehr weiter.

[remember, remember]

Morgen also Preislesen. Ich lese aus meinem Romanprojekt vor. Ich habe eine Viertelstunde. Ich werde vermutlich den Anfang lesen, oder ein paar ausgewählte Szenen. Es ist eine Art Liebesgeschichte, sie handelt vom Verlust, von der Obsession, zudem erkläre ich darin die Welt. Und noch viel mehr. Ab und zu taucht dabei eine Henne auf. Und am Ende stehen wir in Brandenburg, während Berlin hinter uns in Rauch aufgeht. Aber vielleicht lasse ich das mit dem Rauch auch weg.

Morgen um 19Uhr im Horns Erben, Leipzig. Eintritt 2.-

[hr]

Mein Schreibtisch im Büro steht am Fenster und ich schaue oft hinunter in den Hof. Unter dem Flügel unseres Büros führt sich ein breiter Durchgang hindurch, durch den Menschen laufen, wenn sie in die Firma kommen oder nachhause gehen. Ich sehe täglich Männer von oben. Ich sehe laufend Männer, deren Haupthaar sich oben in der Kopfmitte lichtet, wie bei Mönchen, von innen nach außen, die sieht man nicht von der Straßenperspektive aus, ich habe von meinem Schreibtisch aus sozusagen den Blick auf die Evolution, und es werden immer mehr, an manchen Tagen ist es ganz schlimm, ich sehe nur noch runde Hautflecken zwischen den Haaren, ich versuche dann vernünftig zu arbeiten, aber ich kann dann nur noch der Welt beim Haareverlieren zusehen. Das macht mich fürchterlich deprimiert.

Bitte abstimmen

Heute bin ich auf diesen Schreibwettbewerb gestossen. Daraufhin habe ich mein Blog nach ein paar kurzen Mehrzeilern durchstöbert und sie auf hundert Wörter zurechtgestutzt. Das nennt sich Drabble. Und auf jener verlinkten Webseite wird den drei besten Drabbles ein Preisgeld von 500, 200 und 100€ ausgezahlt.
Jetzt habe ich sechs Drabbles geschrieben und will, dass ihr entscheidet, welche drei ich einreiche. Wenn ich einen der drei Preise gewinne, dann kaufe ich für das Preisgeld Bier und Salzstangen und lade euch alle (Bekannte und Unbekannte) in meine Wohnung ein um das Preisgeld zu verfeiern.

Und nein, ich habe kein freundschaftliches oder geschäftliches Verhältnis zu Bloomsbury/BerlinerVerlag. Ich habe nur Lust zu feiern und dieses Poll-Plugin zu probieren.

Hier die sechs Drabbles, und unten bitte abstimmen.

I

ch war früh da, am Flughafen. Ich dachte, genug Zeit mitzunehmen sei gut, ich warte immer gerne an Flughäfen. Zeitungsläden durchstöbern, auf die Uhr schauen, auf Anzeigentafeln schauen, das ist sinnlich. Heute bin ich dann durch das Oktogon gelaufen. Im Kreis, mehrmals. Alle Terminals im Kreis. Ich habe über Tegel gelesen, dass er weit über seine Kapazitäten hinausgewachsen ist, Tegel platzt sozusagen, und so lief ich durch das Oktogon im Kreis, an Polizisten vorbei, an den Wartenden vorbei, an den Brötchenverkäufern vorbei und dachte die ganze Zeit: Tegel ist am Platzen, irre das, alles irre, Tegel hat seine Kapazitäten überschritten.

I

n der U-Bahn sitzt ein junger Mann Mitte dreißig und liest ein Buch auf seinem eReader. Ich habe das noch nie live gesehen und fühle mich entsprechend in die Wirklichkeit geholt. Am Bahnhof Weinmeisterstraße steigt eine junge Frau hinzu, sie hält einen eReader locker in der Hand, und setzt sich dem jungen Mann gegenüber. Sie bemerken einander nicht sofort, schließlich ist es aber soweit. Sie sehen sich, und lächeln sich mit einer wissenden Geste an.
Ich lese Kafka auf meinem Handy. Ich fühle mich ausgeschlossen. Aber vielleicht bin ich auch nur neidisch auf das Lächeln, das er bekommen hat.

N

eulich bei der Friseurin gesessen. Sie hatte lilane Haare, dunkel umrandete Augen, Ringe in der Lippe und in der Nase. Und Beine, die mir bis zum Hals reichten. Ich schaute ihr verträumt beim Schneiden meiner Haare zu. Das war so verspielt, wie sie mit den Fingern durch meine Haare fuhr, die Länge schätzte, und in kurzen Schnippen, mit einem kecken Blick in ihren Augen, meine Frisur stutzte. An einer Seite ging ihr lilanes Haar in einem langen geflochtenem und verfilztem Zwirbel bis unter ihre Hüfte. Wären meine Träume als kleiner Junge etwas unanständiger gewesen, wäre sie wohl mein Rapunzel gewesen.

A

n jenem langen Tag im Büro, als mir das Wasser bis zum Hals stand, gab ich meinen Kollegen keinen Abschiedsgruß, sondern ging wortlos in die Hocke. Um zu warten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Geräusche der Oberfläche hören konnte, oder ob es nur die Bewegungen des Wassers waren. Die dicken Fische mit den Glubschaugen sahen mich verwundert an, weil ich zum Spaß große Luftblasen hochblubbern ließ. Sie versammelten sich bei mir, und der größte aller Glubschaugenfische schnitt mir Grimassen und ich machte dicke Wangen, und ließ dabei Luftblasen aus der Nase wachsen, wie ein närrisch gewordener Unterwasserstier.

E

ines der beachtlichsten Dinge in Schottland, sind die überschminkten, dicken Frauen in enggezurrten Kleidern oder leopardenfellmusternen Leggings. Frauen, die anderswo als ordinäre, dumme Hühner verachtet werden. In Glasgow prägen sie am Samstagabend das Straßenbild. Ich bin hingerissen von der selbstbewussten Art, wie sie hier auftreten, sich schön finden, und laut lachen. Solche Frauen tauchen oft in meinen Träumen auf. Dort sitzen sie auf grünen Sofas, haben toupiertes Haar und die Fingernägel rot lackiert. Sie essen nicht und trinken nicht, sie sitzen nur da und sehen zu mir herüber. Manchmal schauen sie ein bisschen böse. Doch ich weiß nie warum.

V

or dem Supermarkt stehen drei Rentner beisammen und reden über die unerzogene Jugend von heute. Ganz klassisch: sie stehen beisammen, reden von der unerzogenen Jugend und stammeln kopfschüttelnd Wortfetzen wie “schlimmschlimm”.
Ich stehe daneben und belade mein Fahrrad. Ich befestige mühsam zwei große Plastiktaschen, eine Großpackung Toilettenpapier, und eine Büchersendung. Dann fällt mir das Fahrrad um, eine der Taschen geht auf, ein Joghurt platzt und das Gemüse rollt über den Bürgersteig. Die Dreiergruppe nimmt es zur Kenntnis und widmet sich wieder dem Gespräch über Erziehung.
Weissnich. Die Rentner von heute sind auch nicht mehr das, was sie früher waren waren.

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