[humptydumpty]

Am gestrigen Samstagmorgen war ich früh unterwegs. Sogar die Geschäfte hatten noch geschlossen. Ich gehe Morgens eigentlich nie in ein Geschäft. Daher wusste ich gar nicht, wie spät Geschäfte überhaupt öffnen. Während ich vor dem Eingang des Galeria Kaufhof am Alex stand und zusammen mit einigen wenigen Schicksalsgenossen auf die Türöffner wartete, sah ich dann Humptydumpty wieder.

Humptydumpty heißt natürlich nicht so. Aber so nannten wir ihn damals, weil er dem richtigen Humptydumpty aus Alice in Wunderland so ähnlich sieht. Remember? Das Ei mit Armen und Beinen? Wobei der Vergleich natürlich seltsam ist. Der Humptydumpty vom Alex hat keine Beine mehr. AUßerdem sitzt er in einem Rollstuhl. Aber es liegt vermutlich an seinem kahlen, auffallend eiförmigen Kopf und seiner langen, rutschbahnartigen Nase. Vermutlich liegt es auch an diesem schelmischen Grinsen, das mich immer an Wesen aus meiner Kindheit denken ließ. Keine wohlgesinnten Gestalten. Solche die nachts durch die Wälder streunen oder im Unterholz leben. Also so, wie ich sie mir immer vorstellte. Als wir ihn vor vielen Jahren das erste mal sahen, sagte jemand, schaut der sieht aus wie Humptydumpty und wir schienen alle den gleichen Gedanken gehabt zu haben.

Er wohnte in dieser Seniorenresidenz unweit des Alex direkt gegenüber meiner ehemaligen Firma. Es wohnten dort auffallend viele Menschen ohne Beine. Ich konnte sie von meinem Schreibtisch im ersten Stock aus sehen. Humptydumpty und seine beinlosen Heimgenossen saßen meist den ganzen Tag draußen und rauchten Zigaretten. Sie schauten gerne den jungen Frauen nach. Sie redeten nie viel, aber sie saßen da vorm Heim in ihren Rollstühlen und rauchten.
Damals rauchte ich selber noch. Wir hatten kein Raucherzimmer, deshalb rauchten wir unten auf der Straße. Wir hatten diesen großen Aschenständer. Humptydumpty rollte oft auf unsere Straßenseite herüber und puhlte die Kippen aus den Ascher. Er hatte sich am kleinen Finger den Nagel wachsen lassen. Etwa drei Zentimeter lang. Der Nagel war braun und hatte sich gekrümmt, er sah aus wie eine Kralle. Mit dieser Kralle kratzte er die Kohle von den Kippen und krümelte den Tabak in seinen Schoß. Wenn er genug Tabak darin versammelt hatte, zog er Drehpapier hervor und drehte sich eine Zigarette. Anfangs bot ich ihm immer ungefragt eine Zigarette an. Ich fand das so arm. Anfangs nahm er sie stets an. Es wirkte widerwillig, doch er nahm sie an, er bedankte sich nie. Irgendwann lehnte er ab. Er grummelte etwas in sich hinein und winkte ab. Dann hörte ich damit auf.

Manchmal sah ich Humptydumpty mit seinen Kumpels durch das neue, glitzernde Alexa düsen. Ihre Urinbeutel baumelten immer unter den Sitzen ihrer Rollsessel. Sie waren so schnell, es wirkte als würden sie Rennen fahren.

Das mit den fehlenden Beinen beschäftigte mich. Ich googelte das einmal. Man kann Beine durch übermäßiges Rauchen verlieren. Wenn man Pech hat. Das ist ein schleichender Prozess. Man merkt es zuerst daran, dass man keine langen Strecken mehr laufen kann. Die Strecken werden immer kürzer. Bis die Beine weg müssen. Es kann aber auch ganz anders ablaufen. Es war jedenfalls das Jahr als ich zu rauchen aufhörte. Sage ich jetzt mal so dazu. Auch wenn es nicht damit zusammenhing. Klingt nur gut.

An diesem Samstag wirkte er glücklich. Er saß auf dem Alex, in seinem Rollstuhl und war der Morgensonne zugedreht. Er hielt die Augen geschlossen und rauchte.