[so, 19. Feb]

Ich putzte gerade die Zähne, als mich die Lust ereilte, wieder Tagebuch zu schreiben, hier, im Blog, die Tage dokumentiert, vielleicht wieder einen ganzen Monat, vielleicht nur ein paar Tage.

# Ziemlich spät aufgestanden (09:15) und mich mit einem großen Milchkaffee an die Nachrichten gesetzt. Vor allem die Stimmen von gestern weitervefolgt, über Rehhagels einstieg bei Hertha, was schon ein ziemlicher Kracher war. Ich kann mich der Faszination für Rehhagel in seiner Rolle als gutgelaunter, autokratischer Feuerwehrmann nicht entziehen. Wenn man Hertha retten will, dann sicherlich nur indem man sagt: ab morgen hören alle auf mein Kommando.

# Mit K die Tagesplanung verhandelt, sie würde arbeiten, also würde ich am Nachmittag schreiben. Ich kam dann wenig dazu und las stattdessen Mandels Büro von Berni Mayer, was bei mir allerdings die ärgerliche Nebenwirkung auslöst, keine Zeile mehr schreiben zu können, da es zu sehr auf meine Sprache abfärbt. Was beim Berni gut klingt indem er diesen Roadmovie-Sound aussprudelt, wird das bei mir zu einer hilflosen Verzahnung von Handlungsabläufen. Wenn ich Bernis Buch lese, muss ich nachher immer etwas anderes lesen um noch schreiben zu können. Sowieso ist dieses Abfärben sehr ärgerlich, momentan klingt bei mir alles nach Bolaño, leider dessen Bezirksliga-Version, was alles zusätzlich betrübt.

# Zwei Seiten geschrieben.

[trend. meiner.]

Diese von Cem Basman angeleierte Reflektion (früher nannten wir es Stöckchen) auch hier. Wie schön man daran auch ablesen kann, dass das Internet nie eine Bewegung gewesen ist, sondern immer einfach ein Werkzeugkasten, nur früher eben als Blogs gebündelt, die als eine Art gemeinsamer Nenner gesehen und daher missverstanden wurden. Die Werkzeuge im Netz haben sich vervielfältigt und wem ein gewisses Werkzeug gut in der Hand liegt verwendet es eben. Ich halte Facebook meistens offen, wenn ich am Rechner sitze, oder wenigstens öffne ich die Seite mehrmals täglich, um zu sehen, was meine Leute so machen, Fotos anzusehen, Links zu folgen, Facebook ist tatsächlich eine durchlaufende Linkliste, in der ich verfolgen kann, was mein sozialer Kreis liest, oder wie mein sozialer Kreis die Nachrichten aufnimmt und verteilt, es ist eine Meinungswolke, die sich durch das Tagesgeschehen schiebt. Dazwischen sind Befindlichkeiten gepostet und regelmäßig ein Comicbildchen, ich liebe Comicbildchen, ich klicke auf jedes der geposteten Comicbildchen. Googleplus ist im Funktionsumfang ähnlich, doch gefällt mir die Haptik besser, es wirkt ausgreifter auf mich, besinnlicher vielleicht auch, nicht so schreierisch, zudem werden auf Googleplus längere Einträge verfasst, und die besseren Diskussionen geführt, ich weiß nicht, warum das so ist, möglicherweise liegt es an der Ruhe, die die Oberfläche abgibt. Aber trotzdem schaue ich bei Googleplus seltener rein, manchmal habe ich das Gefühl, Googleplus würde ein bisschen schlafen. Aktiv beteilige ich mich weder das eine noch das andere übermäßig viel.

Twitter hat mich nie sonderlich gepackt. Die Beschränkung auf 140 Zeichen hat mich bei meinen etwa zwanzig Tweets zwar nie gestört, im Gegenteil, ich reduziere gerne Saucen und Texte, bei Twitter fand ich diese Reduzierung auf Microebene eigentlich sehr anregend, aber Twitter wirkte auf mich immer eher wie Gegacker (Cackler) denn als Gezwitscher. Ohne es werten zu wollen, es funktioniert ja gut, aber wenn ich etwas lustiges tweeten will, sehe ich die Twitter-Timeline vor mir und denke: du kannst dein olles Gegacker jetzt doch nicht in diesen Hühnerstall schmeißen. Ganz schlimm für mich.
Andererseits lese ich Tweets gerne, besonders wenn sie in Facebook erscheinen.
cackler.com ist übrigens frei.

Das Blog ist immer noch am ehesten meine Form. Für die persönlichen Inhalte. Und nur die persönlichen Inhalte. Neuerdings las ich mehrmals, das jemand Wert darauf lege, seine Blogtexte als Fiktion verstanden zu wissen. Ich nicht. Mein Blog ist nur autobiographisch. Es gibt nicht einmal eine Kunstfigur (ok, ein Farbfilter -rosa- liegt vielleicht drüber). Ich glaube, ich will auch nur Blogs lesen, die autobiographisch sind. Ich lese Blogs, weil ich den Charakter hinterm Blog mag (ähnlich lese ich auch Bücher, mich interessieren die Figuren), ich mag die Subjektive Sicht der Person auf die Dinge. Wenn jemand mir eine Kunstfigur vorgaukelt: auch okay, aber Gemeinschaftsblogs lasse ich üblicherweise liegen, oder fiktive Sachen finde ich auch schwierig. Ich habe vier fiktive Texte in meinem Blog, offensichtlich Fiktion, die fühlen sich alle fremd an. Sie bleiben aber da wo sie sind, vielleicht weil sie jetzt Teil der Chronik sind, meiner Chronik, was weiß ich.
Andererseits: es ist mir total wurscht ob jemand Fiktion in sein Blog schreibt oder nicht.

Xing: Xing finde ich schwierig. Xing verstehe ich nicht ganz, ich adde aber Profis.

[lesbar]

Am Tag vor der Lissabonreise habe ich mir dann einen eBook-Reader von SONY gekauft, weil ich schon seit längerem neugierig auf die Verwendbarkeit solcher Geräte bin, zudem habe ich gemerkt, dass ich Roberto Bolaños “2666” nicht mehr mit in die U-Bahn nehme, da es mir schlicht zu schwer ist. Ich bin da ganz undogmatisch, lasse zwar die Wichtigkeit des Geruchs und der Haptik von Büchern gelten, kann mit dem Festhalten an dieser aber genauso wenig anfangen. Ein Buch ist ein Buch, aber eben nur ein Buch und ein Text ist halt ein Text und hat mit dem Buch erstmal nichts zu tun. Mir geht es beim Lesen eines Buches (oder je nachdem: eines Textes) hauptsächlich darum, dass es unumständlich ist. Ein dünnes Buch kann ich umbiegen, mit einer Hand festhalten, überallhin mitnehmen und einer lästigen Fliege mit dem Tod drohen. Mit einem eBook-Reader wirke ich auf lästige Fliegen unseriös, kann dafür aber scrollen und dicke Bücher handlich lesen. Ein dickes Buch ist ein umständlicher Klotz, den ich ungerne halte. So einfach ist das für mich.
Als ich den Reader dann in der Hand hielt und den ganzen Tag damit rumgenerdet hatte, machte ich mich ans Kaufen von eBooks und stellte fest, dass es “2666” gar nicht als eBook gibt. Zumindest nicht auf deutsch. Der deutsche Markt gibt es wohl noch nicht her. Das war natürlich enttäuschend, zumal ich gerade jenes Buch in Lissabon lesen wollte. Dafür lud ich mir andere Klötze herunter, die ich zwar als Bücher herumstehen habe, ich aber als unhandliche Klötze wieder zurück ins Regal gestellt habe. Hans Falladas Jeder stirbt für sich allein und David Foster Wallaces Unendlicher Spaß. Auf dem Reader sind sie beide lesbar. Vielleicht nehme ich jetzt auch wieder Ulysses auf.

Ich bin überrascht, wie gut sich auf einem Reader lesen lässt, es verhält sich wie beim Lesen eines Buches, man braucht Licht, je mehr Licht, desto besser liest es sich. Der Reader spendet selber kein Licht, hat keine Hintergrundbeleuchtung, nichts, das ist nicht vergleichbar mit einem Handy oder einem iPad, das nennt sich elektronische Tinte, und genau so wirkt das auch, Tinte, die man halt scrollen kann. Außerdem verbraucht das Teil kaum Strom. Was mich hauptsächlich von solchen Readern abgehalten hat, ist diese Abhängigkeit vom Strom, immer mit dem Akkustand meiner Geräte im Hinterkopf, durch das Leben zu stapfen, das ist ein hassenswerter Dauerzustand, seit ich Laptops und Handies besitze, ich wollte nicht noch ein Register in meinem Kopf dafür freigeben. Aber Reader brauchen kaum Strom, eigentlich nur beim Blättern, wenn sie Zeichen auf dem Bildschirm neu aufgebaut werden müssen. Und sonst schläft er. So wird er zum geduldigen Papier.

[fünf, vier, drei, etc]

Vorher zwei Stunden durch den Darßer Urwald gelaufen. Sumpflandschaften; im Wasser stehen die Bäume mit hochgezogenen Hosenbeinen und fristen der Dinge, lehnen aneinander, hängen und darben. Wir haben den Weg unterschätzt, wir wollten nur zum Weststrand, gäbe es nicht hin und wieder einen gutgelaunten Fahrradfahrer, ich würde dem GPS-Signal auf meinem Handy ankreiden, es sei verzaubert.
Eine Stunde später erreichen wir den Leuchtturm. Der Leuchtturm schließt, es ist sechzehn Uhr, der Tag dämmert, und uns dämmert, dass wir unmöglich den Heimweg durch den finsteren Wald antreten können. Wir sehen einen Kutscher, der auf Kundschaft wartet, er nimmt uns mit, und noch ein dutzend anderer Gestrandeter. Wir fahren eine Stunde durch den Wald, es ist finster, erst lachen wir noch, doch vom Sitzen wird es kalt, wir klappen die Kragen hoch und ziehen die Mützen ins Gesicht. Ich vergrabe meinen Kopf und schließe die Augen.
Irgenwann: Licht. Wir fahren in Prerow ein. Wir lassen uns in einem Cafe absetzen, nehmen Kaffee und Kuchen, bekommen wieder Farbe im Gesicht und spüren die Zehen wieder. Der Kutscher kennt seine Schäflein.

#
Fünf, vier, drei, zwei, eins.

F hat uns wieder Königsberger Klöpse gemacht. Wie letztes Jahr. Auf K’s und mein Bitten hin. Königsberger Klöpse sind R’s Lieblingsgericht. K und ich sind Traditionalisten, zumindest wenn es um Königsberger Klöpse geht.

Danach sind wir durch das Dorf zur Seebrücke gepilgert. Den gesamten Ort schien es an die Seebrücke zu ziehen, über diesen geschwungenen Weg, über eine Brücke und durch die Dünen zum Strand, als gäbe es ein Licht am anderen Ende.

#
Erster Januar. Ich schreibe diese Zeilen in Prerow an der Ostsee ins Notizbuch, während ich vor offenen Verandatüren sitze. Draußen regnet es leicht, es fühlt sich nach Oktober an, Ende September vielleicht. Vorhin habe ich mir einen Kaffee gemacht, ich las ein Buch und wusste lange nicht, warum mir so unwohl war. Als ich merkte, dass mir schlichtweg zu warm war, habe ich allererst die Heizung ausgemacht, als das nicht half, öffnete ich die Türen zur Veranda und fand draußen diesen wunderbaren Herbst vor.

[das Licht ist okay]

Dieses Jahr hatte ich in einem abenteuerlichen Moment daran gedacht, einen Weihnachtsbaum anzuschaffen. Vielleicht nur um K zu erschrecken, vielleicht einfach um mal etwas wildes zu tun. Ich habe es dann nicht getan. Dafür hat uns die Putzfrau eine wächserne Tanne mit Docht auf den Tisch gestellt. Die hat uns beim Essen die Weihnacht geleuchtet. So ein Kitsch ist wunderbar, wenn man nicht selbst dafür verantwortlich ist. Ich habe mich sehr aufgehoben gefühlt.

Am letzten Arbeitstag vor Heiligabend kam die junge Russin in unser Büro. Sie ist nicht das, woran man denkt, wenn man eine junge Russin typisiert, sie ist eher der herzliche, strahlende Typ. Sie wollte sich persönlich bei uns bedanken, für das schöne Jahr, das wir ihr beschert hatten, für die gute Zusammenarbeit und sie würde sich sehr auf das nächste Jahr mit uns freuen. Es sei ihr sehr wichtig, das zu sagen. Das sagte sie so, strahlend, als sie in der Tür stand, in unser IT-Büro hinein. Wir wussten nicht so recht, wie wir damit umgehen sollten, es nahm uns ein bisschen mit.
Später, als A und ich die Firma verließen sagte ich zu ihm, Mist, wir sollten das auch so machen, herumgehen von Büro zu Büro, und den Menschen aus ganzem Herzen danken, für alles einfach, rundum ausholen und so einen erweichenden Dank über die Leute gießen.
Ja sollte man, aber wir waren uns schnell einig, dass das schlechtes Licht auf uns werfen würde.

“Ich möchte nicht deine Browserhistory sein”

[…]

Sie stieg aus einem großen Wagen aus und hatte etwas eigentümlich Konservatives an sich. Etwas, das in meiner Vorstellung nur ganz Reiche Menschen, die ungemein weit von der Welt entfernt leben, an sich haben müssen. Es war so unwirklich, wie sie aus diesem Auto stieg, sie war vielleicht Ende fünfzig, sie sah edel aus und wirkte unnahbar, ihr Blick bestimmt, sie trug ihr gelbfarben blondiertes Haar zwiebelförmig aufgetürmt.

Ich fuhr auf dem Fahrrad an ihr vorbei, sie sagte: Hey Sie, Sie haben kein Licht!
Ich habe mir oft vorgestellt, was man Menschen entgegnen könne, die sich genötigt sehen, fremde Menschen auf der Straße zu belehren. Ich wusste nie, was ich sagen soll. Heute fiel mir auch nichts ein, sie hatte mich nur etwas aus der Wirklichkeit geholt, also bremste ich erschrocken. Nach einer Pause der Besinnung sagte ich: Sie haben eine komische Frisur.

(So standen wir noch eine Weile, aber dann wurde es merkwürdig).

[…]

Seit wann ist Leonardo di Caprio eigentlich so unattraktiv geworden? Damals galt er ja als Schönling, eine Rolle, die ihm im Nachhinein betrachtet, nie besonders gut gestanden hat. Es war keineswegs Neid, ich bin ja nicht so, ich befinde mich mit schönen Männern nicht in Konkurrenz. Doch mittlerweile finde ich ihn richtig klasse, spätestens seit Shutter Island, und ab Inception wurde es nur noch besser. Die Rolle des nervösen Emporkömmlings mit den angespannten Stirnfalten, steht ihm ungemein, aber gleichzeitig wird sein Kopf stets breiter. Nicht das Kopffleisch, sondern die Kopfform an sich, sie ähnelt immer mehr einem Nachttischkasten, und sein Gesicht verrutscht seitlich nach oben hin weg in seine zurückgehenden Haarecken hinein. Es scheint eine Verbindung zwischen seiner Hässlichkeit und meinem wachsenden Gutfinden zu geben. Ich sollte es vielleicht sein lassen.

[…]

I.

  Eigentlich wollte ich vorschlagen, zur Pause die Vorstellung zu verlassen. Ich saß mit K und B im Babylon Mitte, wir besuchten eine Vorführung von Miron Zownirs “Parasiten der Ohnmacht”. Birol Ünel las den Text und FM Einheit hämmerte dazu auf Metallfedern. Das liest sich super, ich mag FM Einheit, und K mag Birol Ünel und wenn die beiden etwas zusammen machen, dann kann es sich nur um Gutes handeln.
Ich war an jenem Abend vielleicht schlecht gelaunt, ich konnte mit den Klangperformances von FM Einheit nichts anfangen, fand es ganz schlimm zu empfinden, dass sich jemand seit zwanzig Jahren künstlerisch nicht weiterentwickelt hat, ich saß im Sessel und fand das ganz schlimm, konnte kaum zusehen, wie er Klänge machte. Und Birol Ünel las, mit zwar angenehmer Stimme, aber diesen fürchterlich aufgesetzten Text von Miron Zownir. Das fand ich noch viel schlimmer. Ein eitler Text, über eitle Kaputtheit, der Text ergötzte sich an Wörtern wie FICKEN, und nochmal FICKEN und alles so KAPUTT, und roadmoviemäßig plakativ, ICH FICKTE SIE NOCHMAL usw. Und noch schlimmer als den Text, fand ich dieses demonstrative Trinken auf der Bühne, dieses eitle Besaufen, ich fand das früher bei Shane MacGowan gut, aber da war ich achtzehn, aber Männer ab dem mittleren Alter sich heldenhaft einen Runtersaufen zu sehen, finde ich wahlweise peinlich oder traurig, oder beides gleichzeitig, Alkoholismus ist keine Heldentat, ich finde das dann nicht mal kaputt traurig, sondern so dumm eitel, so dumm traurig. Aber an anderen Tagen hätte es mich vielleicht nicht so sehr gestört, vielleicht war ich einfach schlecht gelaunt, vielleicht tue ich ihnen unrecht, ich hätte vielleicht ein Bier trinken sollen.
Ich wollte zu K und B zur Pause sagen, ich fände es grottenschlecht, ich möchte die Vorstellung verlassen, keinen Bock auf den Scheiß usw.

II.

  Kurz vor der Pause kam der Autor ins Spiel. In der ersten Reihe saß ein Mann mit blanker Glatze und einem schwarzem Nadelstreifen-Anzug. Er war mitte vierzig, vielleicht mitte fünfzig. Er scheuchte dauernd die Fotografen herum und gab ihnen Anweisungen. Regelmäßig schlug er sich die Hände über den Kopf zusammen. Manchmal hob er den rechten Finger und schien den Text mitzurezitieren. Zehn Minuten vor der Pause platzte ihm der Kragen und er bestieg seitlich die Bühne. FM Einheit spielte gerade ein Solo auf seinem Laptop und Birol Ünel trank von seinem Wein, während er gelangweilt im Manuskript blätterte. Der Mann aus dem Publikum (nennen wir ihn: Autor Miron Zownir) ging gebückt zu Birol und wollte ihm etwas ins Ohr flüstern. Er hielt das Manuskript in der Hand und schien ihn auf eine Stelle hinweisen zu wollen. Birol hatte sich schon in Stellung gebracht, offensichtlich wusste er, um was es gehen würde und schnauzte (für das Publikum hörbar): das ist meine Bühne, ich bin der Interpret. Er stand auf, und der Autor machte kehrtum, zurück in den Saal. Vor mir, hinter mir, neben mir, überall Tuscheln. Nur FM Einheit musizierte unbeirrt.
Zehn Minuten später, Birol las längst wieder, wurde der Autor vorne wieder unruhig, zappelte, dann stand er wieder auf und lief zur Bühne, schlich sich seitlich heran und wollte Birol ins Ohr flüstern. Während Birol las, wohlgemerkt. Diesmal platzte Birol der Kragen und es wurde bei laufendem Mikro eine ziemlich laut geführte Grundsatzdiskussion ausgetragen. FM Einheit ließ die Musik sein, brachte ja nichts, es wurde geschubst und Schlichter gingen zur Bühne, die beiden Protagonisten stiegen herunter und verhandelten weiter über Grundsätze, die Schlichter gingen ans Mikrophon und kündigten eine Pause an, während Birol laut maulend, sich seitlich ins Publikum saß. Das Publikum beklatschte Birol.
Jetzt war Pause. Ich sagte den Satz ganz oben, ich sagte: Eigentlich wollte ich vorschlagen, zur Pause die Vorstellung zu verlassen.
Man stimmte mir zu, grottenschlechte Vorstellung, grottenschlechter Text. Aber — wir waren uns auch ganz schnell einig: man konnte, gerade jetzt, doch nicht so einfach gehen (Ausrufezeichen). Würde es ein Happy End geben, würde es eskalieren? Wir waren vermutlich sensationsgeil, wir holten uns Drinks und gingen gespannt in die zweite Halbzeit.

III.

  In der zweiten Halbzeit gab es natürlich weder Versöhnung noch eine Eskalation, dafür war die Vorstellung aber noch viel schlechter als davor, nicht nur schlecht, sondern Langweilig außerdem. Solche Sensationsgeilheit gehört aber bestraft, das war also schon okay.

[das mit dem Ballbesitz]

Übrigens: der junge Mann, der bei Fußballübertragungen den Ballbesitz der Mannschaften zählt, sitzt üblicherweise still in einer Ecke in der VIP-Lounge und hält eine hölzerne Schachtel mit einem kleinen Hebel, den er mit den Fingern bedienen kann, zwischen seinen Knien. Er schaut konzentriert dem Spiel zu, schaltet den Hebel nach links, wenn der Ball beispielsweise bei Dortmund liegt, und schaltet den Hebel nach rechts, wenn Arsenal am Ball ist. Dieser Hebel ist mit dem zentralen Computer der jeweils rechtehabenden Fernsehgesellschaft verbunden, der wiederum die Zeit mitzählt, die der Ball beim jeweiligen Team verbleibt und per Knopfdruck, in Echtzeit, die Prozentanteile des Ballbesitzes auf die dafür vorgesehene Fläche des Fernsehbildschirmes darstellen kann. Die beim Schalten auftretenden Ungenauigkeiten werden von der Fifa, der UEFA oder dem DFB in Kauf genommen. Es lässt sich nicht vermeiden, dass der junge Mann in seiner stillen Ecke, beim konzentrierten Zusehen den Emotionen verfällt, wenn er möglicherweise den Ball bei Mannschaft A erwartet, dieser aber von der Mannschaft B überraschenderweise abgenommen wurde, bevor der junge Mann dies auch emotional verinnerlicht hat. Zudem lässt sich nur schwer vorher feststellen, wenn beispielsweise ein langer Pass, den angespielten Mannschaftskollegen verfehlt und in Besitz der gegnerischen Mannschaft gelangt. Es wurde von den offiziellen Fußballorganen auch noch nicht festgelegt wem der Ball in dieser luftleeren Zwischenzeit tatsächlich gehört. Man vertraut hier sozusagen dem korrektiven Verhalten des Mannes mit der hölzernen Schachtel, wenn er seinen Emotionen folgt.

[vorgestern also]

Die Popkultur auch, als vorgestern Rambo II im Fernsehen lief. Ich habe den Film als elfjähriger zum ersten mal gesehen und war sehr angetan von der Figur dieses einsamen Wolfes, der meine ersten pubertätsbedingten, persönlichen Rückschläge mit dem Pathos und dem Selbstmitleid des geschlagenen Hundes perfekt zu spiegeln wusste.
Zudem hat Rambo II zu meiner Bildung beigetragen. Das Gespräch mit der vietnamesischen Geheimagentin auf dem Piratenkutter, das meinen Wortschatz erweiterte, als sie Rambo mit einem etwas dämlich platzierte französischen Akzent nach dem Glück fragt: »Und was ist mit Dir?« »Ich bin entbehrlich.«
Sie wieder: »Was bedeutet… entbehrlich?« Rambo spielt mit seinem Rambomesser und sagt: »Entbehrlich bedeutet, wenn man auf einer Party eingeladen wird und man nicht hingeht. Und keiner merkt es.«
Er lächelt wie ein gepeinigter Hund, sie schaut nachdenklich übers Wasser. Seitdem weiß ich, was entbehrlich bedeutet, und seitdem muss ich immer an diese Szene denken, wenn ich irgendwo dieses Wort lese.
Meine Deutschlehrerin wollte einmal die Klasse herausfordern und die intellektuellen Vorteile von Büchern gegenüber des Fernsehens hervorheben. Sie stellte der Klasse die eher rhetorisch gemeinte Frage, wo wir denn jemals im Fernsehen etwas für unsere Intelligenz gelernt hätten. Ich hob nichtsahnend meine Hand, und sie machte den Fehler, mir das Wort zu gestatten. Ich sagte: Rambo II. Ich hätte da das Wort »entbehrlich« gelernt.

Ich habe den Film wieder geschaut. Es war ein interessanter Spaziergang in meine Pubertät. In der Werbepause lief der Trailer der neuen »Es« Verfilmung von Stephen King. Ich erinnerte mich daran, dass ich das Buch vor zwei Jahren angefangen hatte, weil ich mich mit Stephen King beschäftigen wollte, Mainstream verstehen, ich finde Mainstream ungemein faszinierend, das ist die Totalgegenwart, den Mainstream zu verstehen ist unerlässlich um die Gegenwart zu erfassen. Wobei ich Stephen King trotzdem nicht verstanden habe. Ich kann mich für vieles begeistern, besonders wenn ich eine Sinnhaftigkeit dahinter erkenne, aber »Es« fand ich in weiten Teilen schlicht zu langweilig. Ich hatte vieles befürchtet, aber Langeweile hatte ich nicht erwartet. Möglicherweise liegt es an der Langatmigkeit des Buches, Seitenstränge werden zu weitläufig ausgebaut, die einzelnen Figuren werden mit langen Vorgeschichten aus der Kindheit eingeführt, mühsam wird deren gemeinsame Geschichte aufgebaut. Vielleicht ist der Mainstream (und somit das Publikum) gar nicht so flüchtig und nervös oder auf die schnelle Unterhaltung aus, wie er oft dargestellt wird. Dieses Buch, das ja als eines seiner erfolgreicheren gilt, fordert auf, sich Zeit zu nehmen. Das wirkt unheimlich altbacken. Tröstet allerdings.
K liebte es, wenn ich ihr im Bett aus »Es« vorlas. Sie schlief immer innerhalb weniger Minuten ein. Ich nahm es gelassen, es lag ja nicht an mir, es lag am Buch, wir scherzten, haha, die Langeweile. Nach 400 Seiten stellte ich das Buch wieder weg. Als ich vorgestern also den Trailer in der Werbepause sah, fiel mir ein, dass vor zwei Jahren auch die Dreharbeiten begonnen hatten und ich das Buch eigentlich vor der Veröffentlichung des Films gelesen haben wollte, ich bin manchmal so, bei mir ist alles immer Projekt. Ich holte es wieder hervor. Als K schlafen ging, sagte ich, dass »Es« ins Kino kommt und ich das Buch weiterläse, ob ich ihr daraus vorlesen solle. Sie sagte: »Super, dann schlafe ich wieder schnell ein.«