[böhmischrixdorf]

Mit Modeste in Neukölln gewesen um uns von Frédéric Neukölln zeigen zu lassen. Natürlich kennen wir Neukölln, aber man kennt die Dinge nie gut genug. Zu diesem Zweck haben wir Fred sozusagen als einheimischen Neukölln-Führer eingemietet. Das ist selbstverständlich totaler Schwachsinn, einen Freund als Führer einzumieten, wobei es durchaus etwas Beruhigendes hat, in einem klaren Rollenverhältnis zu stehen. Fred erzählte mit Begeisterung von seinem Kiez, die geschichtlichen Zusammenhänge, von den böhmischen Exilanten unter Friedrich, die Entwicklung von Rixdorf zum Puff der Hauptstadt. Wir waren gespannte Zuhörer.
Rund um den Richardplatz, mitten im wilden Neukölln dann, plötzlich patzbumm: Dorf.
Niedrige, locker verteilte Häuser, eine Art Dorfplatz mit einer freistehenden Kirche, hier und da ein paar Fachwerkhäuser. Wir setzten uns in einen Biergarten direkt am Platz. Der Biergarten erinnerte mich architektonisch an einen mittelalterlichen Handwerksbetrieb.Eine Schmiede vielleicht. Es ist eigentlich ein von niedrigen Baracken umgebener Hof. Im Hof stehen riesige, alte Bäume. Um den Bäumen herum Bierbänke und Tische. Die Gäste unterhielten sich ausgelassen, in den Baracken herrschte Betrieb, es brannte ein Ofen, ein Pizzamann schob Pizzen hinein und heraus. Ich aß Pizza, Modeste Rinderfilet mit Spargel, Fred eine Suppe. Wir redeten.
Später liefen wir zur Karl-Marx-Allee, dort war dann wieder Stadt, irre das. Wir schnappten uns ein Kurzstreckentaxi und fuhren bis zur Donaustraße und gingen ins Dilemma kickern. Rauch, Guiness, Pokertische. Wir wurden von zwei jungen Männern herausgefordert. Wir spielten abwechselnd. Fred ist gut im Tor, Modeste ist stark im defensiven Mittelfeld. Nach dem Spiel gab es stets einen Handschlag mit den Jungs und ein Danke für das gute Spiel. Man scheute nicht davor zurück, Modeste in ihrem eleganten, roten Kleid als Gleichgesinnte zu sehen.
Am Ende verlor ich eine Partie zu Null und musste eine Runde Schnaps ausgeben. Wir tranken Mexikaner. Mexikaner sind rot, tomatig und es schwimmen Chilistückchen darin.

[no manners]

Beim HNO im Wartezimmer. Neun Männer sitzen da und lesen aus Büchern und Blättern. Zwei Frauen sitzen da und lesen aus Büchern und Blättern. Eine junge Frau kommt ins Zimmer, sie trägt einen sehr kurzen Faltenrock, ihre Beine wirken außergewöhnlich nackt. Sie will ihr Handy aufladen, findet dann neben der Eingangstür auf zehn Zentimeter Höhe eine Steckdose. Sie bückt sich vor der wartenden Menge nach vorne und versucht umständlich den Stecker in die Dose zu drücken.
Neun Männer schauen von ihren Blättern und Büchern auf und fixieren ihren Blick auf die selben paar Quadratzentimeter. Zwei Frauen lesen in Blättern und Büchern und bekommen von alledem nichts mit.

[ Männer 🙂 ]

Ich lese gerade Stanisław Lems futurologischen Kongress, bin daher angenehm benommen von der Schilderung der Halluzination. Als ich die Blicke der Männer sehe, –meine mit eingeschlossen– meine ich, alle unsere Blicke als gelbe Lichtkegel zu sehen, wie sie, vorne zuspitzend, als Brennpunkt auf den gleichen genannten Quadratzentimetern enden. Wie wenn man gemeinsam versucht mit Lupen, trockene Blätter für ein Lagerfeuer zum qualmen zu bringen. Aber hier im Wartezimmer haut der Hormonpogo unsere Lichtkegel totalmente in die Marmelade. Das Geschlecht der Frau beginnt zu rauchen. So viel Demütigung tut mir ziemlich leid, die Geste ist ja sehr verachtend, das war nicht so gemeint. Aber das mit dem Rauch war ja nicht unsere Absicht.

[den Laut auf]

Es ist Freitagabend und ich so spät noch in der Firma. In meinen letzten Tagen an diesem Tisch will noch so etwas wie Wehmut aufkommen, ich gehe noch nicht, ich gehe noch nicht, ich nehme zuerst noch die Kopfhörer und drehe den Laut auf.

[verständigung]

Vorher haben wir Almanya gesehen und ich habe mir dabei gedacht, wenn wir es wirklich ernst meinen mit der Völkerverständigung, wenn wir dabei nicht auf künstlerische Eitelkeiten zurückfallen, sondern so etwas wollen wie die Ethnien einander näherzubringen, und dabei meine ich die bescheuerten Sarrazins, gleichwohl wie die Islamisten und die Witwen aus Wilmersdorf, wenn wir das wirklich wollen, dann müssen wir alles positiv darstellen, und dabei nicht in Gesellschaftskritik verfallen, sondern müssen positiven Portraits generieren, positive Gefühle.
Dann machen wir nur noch solche Filme wie Almanya.

Oder anders gesagt: überraschenderweise funktioniert diese positive Art, die Ethnien darzustellen, diese Art, ohne jegliche Kritik sowas wie, öhm, Liebe zu erzeugen, wahrscheinlich leistet dieses Weglassen der bösen Gefühle, einen größeren Beitrag zur Völkerverständigung als es jede Gesellschaftskritik vermocht hat. Nun müssen wir bloß noch alle ins Kino kriegen.

Andererseits: wir können doch nicht ewig diesen positiven Scheiß ansehen.

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Nachher beim Spanier gesessen. Am offenen Fenster gegessen und getrunken, der Savignyplatz um uns herum intim und schwül, Berlin in HDR-Effekte getaucht.

[…]

Das Fahrrad zur Reparatur gebracht. Die Bremsen bremsen nicht mehr. Der Fahrradreparateur, jung und gutaussehend, begutachtet das Rad und geht von vorne bis hinten die Mängel durch. Es bleibt kein Einzelteil unbeschimpft zurück. Ich habe das Gefühl, ein verschrecktes und gedemütigtes Drahtgestell in der Werkstatt zurückzulassen.

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Mir überlegt, eine dieser Porno-Toplevel-Domains zu holen, www.mequito.xxx, so eindeutig gebrandmarkt, irgendwie gefiel mir, dieses Blog in einer Art öffentlichem Zwielicht abgleiten zu sehen.

[fronten]

Mein Problem:
Die Linken denken, ich sei ein Yuppie, die Rechten denken, ich sei ein Türke, die Türken denken, ich sei ein Deutscher, die Yuppies denken, ich sei ein Linker, die Manager denken, ich sei irgendwie subversiv, die Polizei denkt, ich sei ein Feind.
Andererseits: bei näherer Betrachtung ist das alles gar kein Problem.

[…]

Neuen Arbeitsvertrag bei neuer Firma unterschrieben, alten Arbeitsvertrag bei alter Firma gekündigt.

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Ich habe mir einen Song gekauft. Weil er mir immer wieder zum Ohrwurm wird. Und weil ich unter der Dusche singe: »Gesünder Streu-Wagen…«
Ich habe meinen Widerstand aufgegeben. Ich finde das Ohr-sand-Lied wirklich toll.

[ndrct]

Aha. Undercut also. Das muss ich meinen zukünftigen Friseuren also immer sagen. Ich habe immer angewiesen: »seitlich ein bisschen mehr weg«, aber recht zufrieden war ich damit nie. Heute hat die (neue) Friseurin gesagt, sie könne mir die Seiten ja ganz kurz machen, mit dem Rasierer und ich sagte, nein, das ist doch sehr frivol, die Friseurin sagte aber, das stünde mir sicher gut und ich sagte, ich mache das mal wenn ich weiße Haare habe, dann sehe ich so cool aus wie David Lynch, und sie sagte, der habe seinen Undercut auch mit dunklen Haaren schon getragen.
Dass sie David Lynch kannte sprach für sie und dann habe ich sie machen lassen. Undercut also. So heisst das, was ich immer wollte. Wusste gar nicht, dass David Lynch das auch hat.

[Suddd]

Vorhin vor dem Starten, der Gedanke an einen beunruhigenden Flug. Ich habe jetzt vier Flüge hinter mir, sie waren allesamt ruhig, ja traumhaft ruhig, aber irgendwann wird er kommen, irgendwann wird er kommen, dieser erste Katastrophenflug, dieser Flug in der Gewitterwolke, oder der Flug mit der brennenden Turbine, name it, irgendwann werde ich auch diesen Flug haben, von dem ich im Nachhinein anekdotisch erzählen werde, wenn man am Tisch mit Leuten sitzt und man von den schlimmsten Flügen erzählt. Bisher war ich immer ausgeschlossen, ich hörte nur gespannt zu. Die Aussicht, mich einzureihen, stimmt mich trotzdem nicht gut.

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Ich höre ja immer noch sklavisch den Sicherheitsanweisungen zu und studiere brav die Safety-Card.

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Bier.

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Der Anflug nach Innsbruck durch das untere Inntal, links Bauernhöfe, rechts Bauernhöfe, Wiesen, Kühe, es wirkt, als führe man mit einem schnellen Zug über ein Viadukt. Hinter Innsbruck dreht der Flieger in der Talsohle, links aus dem Fenster der Himmel, rechts aus dem Fenster die Autobahn und die LKW’s von oben. Der Magen überall.

Ich betrete den Flughafen Innsbruck und glaube mich in einem Vereinsheim.

Meine Schwester hat im Pfarrsaal des Dorfes zum politischen Film eingeladen. »Leben ohne Geld«. Sie organisiert unbeirrt, hängt Plakate auf, mobilisiert Nachbarn, Verwandschaft. K und ich malen mit Wachstiften Sprüche zu Existenz und wichtigen Lebensfragen auf einen acht Meter langen Papierbogen.
Der Film soll im kleinen Pfarrsaal aufgeführt werden. Man hat sich wenige Gedanken um die Technik gemacht — ich übernehme Laptop und Beamer.
Zur Vorführung kommen ganze dreißig Leute. Unter ihnen sind: die Nachbarin (ehemals Volksschullehrerin), der gottesfürchtige Busschaffeur, der pensionierte Maresciallo, ein unbekanntes Hippie-Ehepaar mit ihren beiden Kleinkindern, der retardierte Sohn der Wirtin vom Dorfplatz (er spricht mich an und ich merke, wie ich außerstande bin, mit ihm zu reden, da ich zu viel über seine geistige Hinterbliebenheit gehört habe, und nun steht er vor mir und wirkt eigentlich, nunja: ganz normal), meine Mutter, mein Vater, zwei ältere Damen, die sich im Hintergrund halten, und meiner Schwester Ex-Freund.
Wir schauen den Film, zur Mitte des Filmes beginnt die DVD zu holpern. Ich, als technischer Leiter putze die DVD und klicke im Programm. Das Publikum bleibt ruhig. Doch die DVD springt nicht mehr richtig an. Nach einer halben Stunde brechen wir ab. Man beschließt, geschlossen zu jemandem nach hause zu gehen, die DVD mit Alkohol zu reinigen und es auf einem richtigen DVD-Spieler zu versuchen. Da funktioniert es.

Ich will aus essen gehen. Es gibt nur eine Pizzeria im Dorf. Das hatte ich vergessen. Überhaupt: aus essen gehen heißt in Italien üblicherweise Pizza essen gehen. Auch das hatte ich vergessen. Ist aber in Ordnung.



Helmut Krausser. Jedesmal wenn ich das Buch zur Hand nehme, habe ich einen Ohrwurm. Das Buch heißt »Einsamkeit und Sex und Mitleid«. Ich nehme das Buch zur Hand und summe die deutsche Nationalhymne. Und werde sie nicht mehr los. Es ist die Pest.

Den Rest der Woche bleiben wir in Meran. Es ist Sommer, wir holen uns Eis bei Sabine. Bei Sabine gibt es das beste Eis der Welt. Meine Schwester entbindet in zwei Wochen, sie trägt einen riesigen Bauch vor sich her, doch sie will gehen, wir schlendern in Schneckentempo durch die Stadt und reden von den Dingen. Auf jeder Holzbank setzen wir uns hin und verschnaufen.

Ich treffe Silvia G. zufällig auf der Straße. Silvia habe ich 5 Jahre nicht mehr gesehen. Und davor zehn Jahre nicht. Silvia habe ich Anfang der Neunziger auf einem Open-Air Konzert in Rovereto kennengelernt. Sie hatte ein Jahr in Holland gelebt, und da ich einmal nach Holland fahren wollte, gab sie mir die Adresse eines besetzten Hauses, in dem ein Freund von ihr wohne. Ein halbes Jahr später fuhr ich dorthin und blieb sieben Jahre. Zu Silvia habe ich keinen Kontakt mehr. Als ich sie aber auf der Straße sehe, realisiere ich, wie wichtig jene kurze Begegnung in Rovereto gewesen ist. Ohne sie wäre ich nicht nach Holland gefahren, dann hätte ich auch nicht Albert getroffen, der mich für die Thematik erwärmte, mit der ich heute meine Brötchen verdiene, dann hätte ich auch meine damalige Freundin nicht kennengelernt und wäre deshalb nie nach Madrid und nachher nach Hamburg gezogen. Vermutlich würde ich jetzt ziemlich brotlos irgendwas mit Schreiben machen und in Bologna wohnen. Und würde auch nicht K lieben. Andererseits: an Berlin hing ich immer schon. Vielleicht wäre ich jetzt trotzdem da, nur über einen anderen Weg hingelangt. Vielleicht hat es sich auch deshalb so sehr nach Heimkommen angefühlt, als ich vor vier Jahren in Berlin wieder meinen Koffer auspackte. Als wäre die Biegung im Lauf der Dinge geradegebogen worden, korrigiert.

Ich spreche Silvia an. Sie freut sich. Wir unterhalten uns locker, breiten unser Leben in wenigen Sätzen aus. Das mit meinem an sie geknüpften Schicksal erwähne ich nicht, ohne besonderen Grund, ich weiß es noch nicht ganz auszuformulieren.
Sie hat drei Kinder lebt mit einem Mann zusammen, den sie »Kumpane« nennt. Bald verabschieden wir uns wieder, alles ist gesagt, aber ist alles gut, mehr ist nicht nötig.

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Eis bei Sabine.





Das erste mal ohne Laptop weggefahren. Die Mails auf dem Handy, die Notizen ins Buch.

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Eis bei Sabine.

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Nachmittags sitzen wir im Garten, trinken Wasser und Kaffee, schauen den Jungs beim Spielen zu, erzählen uns von den Dingen.
Mit den Schwestern aufs Foto, wir blödeln, keines der Fotos mag wirklich gelingen. Wir mögen sie alle.






Wir holen Eis bei Sabine.

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