[Do, 25.1.2024 – Rovaniemi]

Nach kurzem Zwischenstopp in Helsinki landeten wir etwa um halb drei in Rovaniemi. Ich ging davon aus, dass die Sonne bereits untergegangen sein würde. Dem war aber nicht so. Der Sonnenuntergang findet erst um 15:18 statt. Der Tag ist schon 6 Stunden lang, vor einigen Monaten hatte ich aber 3 Stunden recherchiert. Da muss mir ein Rechenfehler unterlaufen sein.

Während der Landung wir daher über eine unwirkliche Landschaft von endlosen, schneebedeckten Nadelbäumen, die einseitig von einer tief stehenden orangenen Sonne angeleuchtet wurden. Nur unterbrochen von zahllosen vereisten Seeen und Flüssen. Es liegt hier viel Schnee, richtig viel Schnee. Lustigerweise wirkt Lappland wesentlich mehr wie ein Winterwunderland als Spitzbergen. Das hat mit den Bäumen zu tun. Während Spitzbergen eine Landschaft aus vereisten Bergen, Tälern und Gewässern ist, hat man hier wegen der schneebedeckten Bäume eher das Gefühl, es käme jeden Moment ein Bär oder ein Fuchs oder ein Schlitten mit einem rotnasigen Rentier hinter den Bäumen hervor.
In diesem Zusammenhang verstehe ich jetzt auch den Santa Claus Tourismus in Rovaniemi. Bei Buchung der Reise waren wir uns dessen gar nicht bewusst. Als wir den Leuten von der bevorstehenden Reise erzählten, wurde es oft mit “Grüsst den Weihnachtsmann” o.ä. kommentiert. Wir fanden heraus, dass es etwas nördlich der Stadt ein etwas kitschig angelegtes Weihnachtsdorf gibt. Aber das beschäftigte uns zunächst nicht weiter. Im Flieger sichteten wir allerdings seltsam auffällige Passagiere mit Weihnachtsschmuck, z. B. eine Gruppe sehr junger, exzentrischer Frauen aus China, die auffallende Weihnachtsparaphernalia trugen. Von Rentierschmuck über Ugly-Christmas-Pullover bis hin zu auf Fingernägeln auflackierte Weihnachtsbäume. Sie wirkten wie Fangirls eines Weihnachtsmangas. Das fanden wir nett, aber auch schräg.

Dann nahmen wir den Airportshuttle bis in die Stadt, dort mussten wir noch etwa 5 Minuten bis zum Hotel laufen. Meine Jacke war offen und ich hatte keine Mütze auf. Auch zog ich den Rollkoffer ohne Handschuhe hinter mir her. Nach einer Minute hatte ich das Gefühl, dass sich mein Schädelknochen vereist und ich dachte einen Moment lang den Kontakt zu meinen Fingern verloren zu haben. Also zog ich mir schnell etwas über.
Es hatte -20 Grad. Das ist eine überraschend beeindruckende Temperatur. Es überraschte mich, weil ich minus zwanzig eigentlich aus meiner Kindheit in den Dolomiten kennen sollte, aber damals beschäftigte mich das vermutlich nicht so sehr, ich war einfach immer warm angezogen.

Nachdem die Sonne unterging, sackte das Thermometer noch einmal auf -23 ab und wir schauten uns etwas im Zentrum um. Ich hatte auf Googlemaps drei Kneipen und einen Pub ausgemacht. Die wollten wir uns von aussen ansehen und uns dann in einen reinsetzen. Das Zentrum ist nur klein und die ausgesuchten Kneipen lagen unweit von einander entfernt, also war die Runde nur kurz. Aber sie war lang genug, um uns auf die Wärme der Kneipe zu freuen. Wir tranken zuerst ein südfinnisches Bier, ein Pale Ale, das uns sehr schmeckte und danach probierten wir die Biere der Lappland Brewery, die wir aber viel zu malzig fanden. Also schwenkten wir wieder zurück zu der anderen Brauerei. Beachtlich ist auch, wie man ausserhalb Deutschlands neben Pils und Lager ganz selbstverständlich Pale Ales, IPAs, Neipas undsoweiter vom Hahn bekommt, wie ganz normale, etablierte Bierstile.

Nachher assen wir einen Burger in einem Laden, in dem es einen Pizzaraum und einen Burgerraum gibt. Ich weiss, ich habe öfter betont, wie langweilig ich Burger finde, aber manchmal ist Burger einfach die beste Sache der Welt. Wir fanden diesen Burger sogar so gut, dass ich der Köchin mitteilen liess, den besten Burger der letzten 5 Jahren gegessen zu haben. Die Kellnerin versprach, es weiterzugeben. Meine Frau fand es lustig, dass ich schon wieder bei einem guten Burger Komplimente an das kochende Personal ausrichten liess. Ich sagte, das stimme ja gar nicht. Aber sie sagte, dochdoch, das hätte ich in Longyearbyen auch schon getan. Es steht tatsächlich im Blog. Hatte ich vergessen. Ich mache das nur bei Burgern. Das sagt sicherlich etwas über ich aus. Ich weiss nur nicht, was.

Auf dem Nachhauseweg war es wieder sehr kalt. Die Kälte kriecht nach einigen Minuten durch die Kleidung hindurch. Es ist immer das gleiche: die erste Minute ist es schön frisch, ab der zweiten Minute spürt man, wie die Kälte langsam durch die Jacke hindurch kriecht. Es ist eine beeindruckende Kälte, aber das sagte ich schon, dabei ist es nur minus 23. Jetzt habe ich immerhin eine Referenz, bei der ich weiss, dass die Jacke, der ich bisher so viel Vertrauen schenkte, ihre Kraft verliert. Wir übelegten, in den nächsten Tagen Bekleidungsgeschäfte zu besuchen und uns von den Locals beraten zu lassen. Wahrscheinlich kaufe ich nichts, aber interessant ist es schon. Meine Frau hat eine Jacke von Didrikson, sie beklagt sich bisher nicht.

[Mi, 24.1.2024 – die Gefühle für die Hündin]

Es war lange nicht ganz klar, wie wir die Hündin während unserer Finnlandreise unterbringen. In den letzten Wochen sah es so aus, dass sie den grossen Teil bei Frau Casino verbringen würde, aber am letzten Tag, den Montag bei unserer Nachbarsfamilie vom Nebenhaus. Es sollte folgendermassen ablaufen:

1) Am Donnerstag um 6 Uhr verlassen wir das Haus und lassen die Hündin alleine in der Wohnung
2) Am gleichen Tag um 9 Uhr kommt die Dogwalkerin und geht mit ihr spazieren bis 13 Uhr.
3) Zwischen 13 Uhr und 18 Uhr ist sie alleine
4) Um 18 Uhr kommt Frau Casino und nimmt sie von Freitag bis Sonntagabend zu sich
5) Am Sonntagabend holt unsere Nachbarsfamilie die Hündin bei Frau Casino ab
6) Am Montagabend kommen wir aus Finnland zurück und holen die Hündin bei den Nachbarn ab.

Das war der Plan. Meine Frau und ich hatten aber bereits seit Tagen ein schlechtes Gefühl bei Schritt 1). Der Gedanke daran, wie wir uns um 6 Uhr früh mit Koffern aus dem Haus schleichen würden und die Hündin uns mit ihrem traurigen Blick eines verlassenen Haustieres hinterherschaut und sie dann den ganzen Tag seltsam verlassen verbringt und weitergereicht wird, das nagte seit Tagen an uns.

Also planten wir die ersten drei Schritte um. Da ich wusste, dass unsere Dogwalkerin auch Hunde zum Übernachten aufnimmt, fragten wir sie danach und sie sagte zu. Also brachte ich die Hündin heute Abend zur Dogwalkerin, wo sie die Nacht verbringen wird, morgen tagsüber mit den anderen Hunden spazieren geht, den Rest des Tages wird sie beaufsichtigt sein und am Abend kommt Frau Casino und holt sie für das Wochenende ab.

Jetzt ist ein Stein von unserem Herzen abgefallen. Hätte ich das mit mir und den Gefühlen für die Hündin vorher gewusst, hätte ich- ach nein, hätte ich eh nicht.

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Morgen also Finnland. Ich war noch nie in Finnland. Ich werde vermutlich nicht ganz so euphorisiert und ausgiebig berichten wie von der Reise nach Spitzbergen, aber ich werde natürlich berichten. Die Audioaufnahmen werde ich aus technischen Gründen erst nachreichen, wenn wir zurück in Berlin sind.

[Di, 23.1.2024 – Vorbereitungen]

Am Montag ging ich zurück ins Büro und hatte viel zu tun.
Am Dienstag ging ich zurück ins Büro und hatte viel zu tun.

Donnerstagfrüh fliegen wir nach Finnland, also bereitete ich heute mehr oder weniger alles vor, was ich vorbereiten kann: Flüge einchecken, Restaurants und Bars in Rovaniemi googlen, Touren buchen, Kleidung packen usw.
Eigentlich wollte ich heute ins Camp4 an der Schillingstrasse um mir eine schickere Winterjacke zu kaufen, aber ich entschied mich dagegen. Zu meiner alten Jacke habe ich ein vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut. Ich kenne ihre Wärmequalitäten. Nur aus Eitelkeit mit einer neuen Jacke zu experimentieren und am Donnerstag in der arktischen Nacht zu frieren, schien mir plötzlich zu risikovoll. Ich werde nur eine einzige Jacke mitnehmen und die muss mich wärmen. Um eine neue Jacke werde ich mich kümmern, wenn ich zurück bin, ich sicheren, tropischen Hafen von Berlin. In Rovaniemi kennt mich niemand, da kann ich mit einer schäbigen, aber warmen Jacke herumlaufen. Lappland wird sich nicht an mich erinnern.

Es wird da gar nicht mehr so kalt sein. Letzte Woche waren es noch minus 30, aber die nächsten Tage höchstens bzw. tiefstens minus 18. Am Wochenende sogar nur minus drei. Das ist nix.

[So, 21.1.2024 – Gedenken, Demos]

Ich blieb vernünftig und ging nicht ins Olympiastadion, sondern schaute das Spiel im Fernseher. Das ganze Stadion war in schwarz gekleidet. Nur einzelne verteilte hellblaue Tupfer jener Menschen, die Kays sogenannte Präsidentenjacke trugen, jene Jacke, die er trug, als wir ihn vor anderthalb Jahren ins höchste Amt unseres Vereines wählten.
Es wurden keine Banner der Fanclubs und Fangruppen gehängt, keine Fahnen, nichts. Nur ein langes, schwarzes Banner unten im Umlauf, mit dem die Werbebanden überdeckt wurden. Darauf stand “In Gedenken an Kay Bernstein”. In der Mitte der Kurve zwischen Unter- und Oberring prangte ein weisses “Kay”. Alle Ultragruppen hatten angekündigt, während des gesamten Spiels keinen Support anzustimmen.

Dann wurde die Hymne gesungen. Die Kamera zoomte zu den Menschen auf den Rängen ein. Die Leute weinten. Nach der Hymne gab es eine kurze, emotionale Ansprache des Stadionsprechers. Dann schwieg das gesamte Stadion. Der Vorsänger der Harlekins stand unten in der Mitte der Kurve, dort, wo er immer steht, und dort, wo vor 25 Jahren eben Kay Bernstein als Vorsänger stand. Er zündete eine Fackel an. Dieser Moment. Der aufsteigende Rauch dieser einzelnen Fackel in der schwarzen Ostkurve. Und das ganze Stadion in Stille.

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Und Deutschland geht auf die Strasse um gegen die Rechtsradikalen zu demonstrieren. In Berlin waren es nach Polizeiangaben 100k, laut Veranstalterinnen 350k. Viele Leute aus meinem Fanclub gingen nach dem Spiel direkt zur Demo. In Pegida-City Dresden waren es überraschende 40k. Im ganzen Land waren mehr als eine Million Menschen auf der Strasse.

[Sa, 20.1.2024 – Winterstiefel, Winterjacke, Demos]

Bei meinem Mittagsspaziergang ging ich ins Trittfest, dieser Stiefelladen an der Warschauer. Ich bin mit meinem winterlichen Schuhwerk nicht besonders glücklich. Zum einen besitze ich Wanderschuhe. Das sind feste Schuhe in Outdoor-Ästethik, die ich mir für ein langes Wochenende auf Norderney gekauft hatte. Da Outdoor-Ästhetik aber meinen Augen schadet, trug ich sie in den darauffolgenden Jahren nur selten. Wandern kann ich in Turnschuhen genau so gut, ich habe einen stabilen Tritt und unwegsames Gelände hat mir nie Schwierigkeiten bereitet.
Dennoch bin ich als Arktisbesucher und Gassigeher immer auf der Suche nach einem technisch verbesserten Schuh. Nächste Woche fahren wir ins finnische Lappland, ich werde zwar meistens in meinen Nike Air herumlaufen, aber ich möchte nicht davon abhängig sein. Auf der anderen Seite gehe ich mit den schicken Turnschuhen nicht mit der Hündin in den Park, denn auf diese Weise habe ich mir bereits zwei Schuhpaare ruiniert. Ausserdem brauche ich einen Schuh, mit dem man bei Minustemperaturen im Stadion stehen kann. Ich suchte also nach einem Schuh, der gut mit Kälte und Wasser umgeht, mit dem man gleichzeitig auch in einem Café oder Restaurant sitzen kann, ohne den Eindruck zu erwecken, Outdoortourist zu sein.

So kaufte ich einen niedrig geschnittenen Winterstiefel von Keen mit dem Namen Anchorage III. Ein schicker Chelsea-Stiefel in der Farbe “Black/Raven”, der für Temperaturen bis zu -32 Grad ausgelegt ist genau das, was ich suchte. Spätestens nachdem ich sah, dass der Schuh nach der grössten Stadt Alaskas benannt ist, waren das Schuhpaar und ich verkauft.

Problematischer wird es mit der Auswahl der Jacken. Das Geschäft führt keine Jacken, deswegen werde ich am Montag oder Dienstag zu Camp4 in die Schillingstrasse gehen. Ich habe eine wirklich warme Winterjacke. Bei minus 10 hält sie mich warm und wahrscheinlich performt sie auch noch bei wesentlich tieferen Temperaturen. Aber ich sehe darin aus wie ein Schneemann, der von der Waldarbeit zurückkommt. So sehe ich immer aus, wenn ich mit meinem Vater im Wald Holz herunterarbeite. Zwar werde ich nicht müde zu sagen, dass man für einen richtigen Winter das ästhetische Empfinden einfrieren muss und seit mir das Aussehen egal geworden ist, friere ich im Winter auch nicht mehr. Das war eine erhellende Erkenntnis. Aber in schwachen Momenten will ich nicht so recht dran glauben. Ich lese immer wieder von Textilien-Tech, das Erstaunliches leistet. Beispielsweise die Jacken von Bergson oder Arcteryx, die wirken so dünn und teilweise auch gut geschnitten, ich kann mir aber nur schwer vorstellen, wie sie das Versprechen von Wärme halten wollen. Ich muss mich nächste Woche mit Profis darüber unterhalten.

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Demos. Die ganze Republik geht auf die Strasse. Am Sonntag auch Berlin. Meine Dauerkarte wäre frei geworden, ich könnte vielleicht wieder zum Spiel, und direkt danach, um 16Uhr, auf die Demo am Bundestag, andererseits meinte der HNO-Arzt, ich müsse meine Atemwege schonen, wenn wir nächste Woche ins eisige Finnland fliegen wollen. Ich bin ein bisschen hin und her. Traue mich nicht so recht. Mein Körper steckt eigentlich alles weg, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.

[Fr, 19.1.2024 – deutsche Staatsbürgerschaft]

Es dreht sich momentan alles um meine Nasenwunden und dem Tod Kay Bernsteins. Es finden gerade verschiedene Gedenken an den verstorbenen Hertha-Präsidenten statt. Beim Spiel am Sonntag wird ein Trauermarsch stattfinden und im Stadion wird es entsprechende Choreografien geben. Auch mein Fanclub bereitet etwas vor. Gerade jetzt würde ich am Sonntag gerne zum Spiel gehen, vielleicht wären meine Atemwege bis dahin auch wieder fit genug, um mich ins kalte Stadion zu begeben. Weil ich aber bereits seit Wochen von der OP wusste, gab ich meine Dauerkarte jemand anderem. Es ist jetzt natürlich nicht fair, sie zurückzuverlangen.

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Wenn die nächsten Wahlen anstehen, möchte ich deutscher Staatsbürger sein. Es ärgert mich immer, dass ich nicht wählen darf. Immer wenn die Wahlen anstehen, will ich deutscher Staatsbürger sein, aber dann verpasse ich immer alle Zeitfenster und wenn die Wahlen geschehen sind, ist mir die Staatsbürgerschaft wieder 5 Jahre lang egal.

Dieses Mal will ich vorsorgen. Vor allem mit den Rechtsradikalen am Horizont. Ich füllte also das Formular aus. Dabei musste ich feststellen, dass mir zwei wichtige Zertifikate fehlen: der Nachweis, dass ich deutsch sprechen kann und der Nachweis, dass ich weiss, wie man in Deutschland zusammenlebt.

Mein Deutsch ist vermutlich besser als das Deutsch des durchschnittlichen Neonazis. Und ich bezweifle, dass der durchschnittliche deutsche Neonazi über das Zusammenleben in Deutschland Bescheid weiss. Ich fühle mich ein bisschen genötigt, vor allem, weil der nächste freie Platz für diesen Test erst im März ist, ich wäre aber gerne jetzt und heute deutscher Staatsbürger, das ist immer so.
Nur darf ich es diesmal nicht auf die lange Bank schieben.

[Do, 18.1.2024 – rechte Trolle]

Und sonstso: Ich leide gerade dahin. Über den Mittwoch hatte ich nichts zu berichten. Ich kann nicht lange am Bildschirm sitzen, weil meine Augen schnell anfangen zu brennen. Das hängt wahrscheinlich mit den Wunden im Nasentrakt zusammen. Ausserdem schlafe ich schlecht, weil ich nicht durch die Nase atmen kann. Ich hoffe, das legt sich bald.

Gestern diskutierte ich auch im Internet. Das tat ich schon lange nicht mehr. Auf der Nachbarschaftsplattform nebenan.de postete jemand eine Ankündigung der Anti-AFD Demo vorm Roten Rathaus. Darunter gab es zwei trollige Kommentare, die von “Antifa sind Verfassungsfeinde” und “Warum immer gegen rechtsextrem? Linksextrem ist genau so schlimm” faselten. Typische Kommentare aus der braunen Ecke. Ich habe so lange ihre Unwahrheiten enttarnt, bis sie aufgaben. Man muss mit diesen Trollen einfach die Bühne nehmen. Die Unwahrheiten bleiben sonst ewig im Netz verstreut.

[Di, 16.1.2024 – Nasen-OP, Kay Bernstein, Björn Höcke]

Die OP im Nasentrakt war die unangenehmste körperliche Erfahrung, die ich bisher je erlebte. Eine Stunde lang Druck, Stechen, Brennen in der Mitte meines Kopfes. Zwar handelte sich nur um Arbeit mit dem Laser, aber es hätte genau so gut ein Bolzenschneider gewesen sein können, ich hätte den Unterschied nicht gemerkt.

Ich bin wirklich hart im Nehmen. Sachen wie Männerschnupfen kenne ich nicht. Wenn ich krank bin, brauche ich keine Pflege. Aber heute war ich sehr wehleidig. So kannte ich mich gar nicht. Der Arzt und seine Helferin waren immerhin lustig.

Um 12 Uhr durfte ich raus, wo meine Frau auf mich wartete. Man sollte sich in Begleitung befinden. Wir nahmen ein Taxi nach Hause. Bereits am Vormittag gab es aus meinem Hertha-Umfeld das Gerücht, dass unser Präsident gestorben sei. Ich nahm das nicht ganz ernst, ausserdem sass ich im Wartezimmer kurz vor der OP. Im Taxi las ich dann aber die offizielle Mail von Hertha: Kay Bernstein ist tot. Er wurde 43 Jahre alt.

Das hinterliess mich ziemlich entsetzt. Auch meine Frau war sprachlos, obwohl sie sonst mit Hertha und Fussball wenig zu tun hat. Kurz darauf erschienen die ersten Meldungen in verschiedenen Medien. In meinem Fanclub trauerten die Menschen. Später am Nachmittag erschienen die ersten Nachrufe. Am Abend versammelten sich einige meiner Freunde an der Geschäftsstelle am Olympiastadion und legten Blumen ab oder zündeten Kerzen an. Viele weinten. Das ist wirklich ein trauriger Tag für den Verein.

Vor anderthalb Jahren hatten wir als Fanclub uns sehr stark für seine Wahl engagiert. Dann schrieb er die Geschichte des Ex-Ultras, der zum Präsidenten seines Clubs wurde. In diesen anderthalb Jahren hat er Hertha wieder zu einem People’s Club gemacht. Aber wir stehen gerade am Anfang dieses Weges. Ich bin mir nicht sicher, ob jemand anders diesen Weg jetzt so konsequent fortführen wird. Ausserdem fürchte ich mich ja davor, dass die ganzen gedemütigten Bonzen jetzt wieder ihre Chance wittern.

Musste gerade googlen, was Bonze noch mal genau bedeutet. Ob das nicht nur ein etwas verfremdeter Kampfbegriff ist, aber so sieht es aus:
Bonze. abwertend -jemand, der die Vorteile seiner Stellung genießt [und sich nicht um die Belange anderer kümmert]; höherer, dem Volk entfremdeter Funktionär.”

Genau.

Den Rest des Tages war ich sehr wehleidig. Ich konnte nicht durch die Nase atmen, alles war geschwollen, das Zentrum meines Kopfes ist eine Wunde, Schlucken kratzt und währenddessen begleitet mich immer dieser Gedanke an Bernsteins Tod. In den Chats meines Fanclubs gibt es kein anderes Thema. Ich finde keine richtigen Worte.

Nachruf in der 11Freunde

Nachruf von Stephan Uersfeld

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Am Abend setze ich mich mit meiner Frau in den Erker. Sie liest mir den Text einer Petition vor, in dem Björn Höcke die Grundrechte entzogen werden sollen. Durch den Entzug der Grundrechte würde Höcke unwählbar.

Grundrechte sind nicht zu verwechseln mit den Menschenrechten. Das Interessante an dem Entzug der Grundrechte ist, dass die Handhabung dieser Rechte nach dem Niedergang des Naziregimes bewusst ins Grundgesetz geschrieben wurde, um eine Wiederholung des Geschehenen zu verhindern. Also wenn jetzt jemand mit Cancel-Culture kommt, dann möge man genüsslich auf die Mütter und Väter der Bundesrepublik verweisen. Es hat schon seinen guten Grund, warum man das damals gemacht hat.

Die Petition hat bereits über 1,2 Millionen Unterschriften. Gerne teilnehmen und verbreiten.

[Mo, 15.1.2024 – Trraktorr, pre-OP]

Mein letzter Tag vor der OP. Ich musste ins Büro, es gab noch so viele Sachen zu erledigen. Da ich die Hündin hatte und gleichzeitig auch Stress, nahm ich das Auto. Ich hörte aus der Ferne bedrohlich klingendes Tröten. Erst, als ich losgefahren war fiel mir ein, woran mich das Tröten erinnerte. Es waren die Traktoren, die bereits vor einigen Jahren am Potsdamer Platz den ganzen Tag lang tröteten. Ich schaute auf das Navi und sah die vielen roten und orangenen Linien, die die verstopften Strassen wie verstopfte Venen anzeigten. Da mir das Navi dennoch eine akzeptable Reisezeit anzeigte, folgte ich der Route.

Ich stand nur an wenigen Stellen im Stau. Ein Mal überquerte ein Traktor langsam eine Kreuzung. Er wurde von einem LKW hinter mir akustisch unterstützt. Ich hätte dem Traktor gerne zugerufen, er solle mal arbeiten gehen.
Das sind ja die gleichen Leute, die das von den Klimaklebern und FFF verlangten. Aber wer Revolution spielen kann, will natürlich nicht arbeiten.

Meine Eltern sind Bauernkinder und ich bin zwischen Bauern aufgewachsen. Ich fand das Bauernwesen schon Scheisse bevor es von den Rechtsradikalen vereinnahmt wurde. Die Bauern bestimmten bei uns immer die Geschicke des Dorfes, waren immer dicke mit den Leuten in den wichtigen Ämtern, grenzten uneheliche Kinder und geschiedene Frauen aus. Oder Kiffer wie mich.

Jaja, alles über einen Kamm geschoren. In Wirklichkeit habe ich gar nichts gegen Bauern. Es ist nur so dumm, sich von den Rechten einspannen zu lassen, die sich ins Programm geschrieben haben, dass sie Subventionen abschaffen werden. Redet man da schon von Bauernopfer?

Aber ich möchte heute nicht schimpfen, ich muss auf meine Karmapunkte achten, morgen liege ich schliesslich auf dem OP-Tisch. Auf dem Merkblatt des Arztes steht:
BITTE FRÜHSTÜCKEN SIE AUSREICHEND.
Das klingt wie eine Drohung. Ich kann aber so viel frühstücken wie ein halbes Bauerndorf, das lasse ich mir nicht zweimal sagen.

[So, 14.1.2024 – Lage]

Den Vormittag verbrachten wir wieder einmal damit, die Weltlage zu besprechen. Wir lagen auf dem Bett und meine Frau las mir Mely Kiyaks Kolumne mit dem Titel “Es ist alles gesagt” und “Werden sie uns mit dem Flixbus deportieren?” vor sowie Herta Müllers Essay “Die Freiheit könnte uns gestohlen werden“.

“Ich weiß, dass wir gerade Zeitzeugen sind. Wir erleben die Faschisten an die Regierungsmacht kommen. Maximal zwei Bundestagswahlen, dann haben sie die Kontrolle. Ich habe dazu alles, wirklich alles, geschrieben.”

Vor dem gegenwärtigen politischen Hintergrund sind das deprimierende Texte. Heute zog mich das ganz besonders runter. Ich schreibe hier wenig über das aktuelle politische Geschehen. Das ist, weil mir Texte über aktuelle Politik selten gut gelingen. Aber ich scanne den ganzen Tag über, was da draussen passiert. Mir fehlen gerade die Instrumente, etwas gegen diese einschleichende Faschistisierung zu unternehmen. Der demokratische Diskurs mit Durchschnittsbürgern, die sich irgendwie benachteiligt fühlen und von gekauften und linksradikalen Medien schwafeln und ihr Deutschtum zurückhaben wollen, ist vorbei. Es gibt keinen Diskurs mehr.

Am Nachmittag gingen wir auf einen langen Spaziergang. Zurück zu Hause sah ich in diversen Socialmediabeiträgen Bilder von einer Demo am Brandenburger Tor. Mehrere Freunde von uns waren da. Ich fragte einen Freund, warum ich davon nichts wusste. Gerade diese Demo hätte uns heute etwas von einem Kampfgeist zurückgegeben.