[tagebuchbloggend 14.1.]

Gestern im Kino gewesen, in einem Film, dessen Titel ich jetzt nicht sage. Überhaupt haben wir uns geschworen, niemanden zu sagen welcher Film das war. K sagte: Du bist der einzige Mann hier. Ich sagte: da ganz vorne links sitzt noch einer und etwas mittiger ein anderer. Aha, sagte sie, das hast Du schnell gesehen. Achja, sagte ich, war mir wichtig.

Vorher waren wir in den Potsdamer Platz Arkaden, weil ich dringend winterdichte Schuhe brauche, stattdessen sind wir in einem Uhrenladen hängen geblieben, Uhren, Uhren, Uhren, Himmel, ich habe ja nichts mit Uhren, wollte eigentlich nur eine Uhr, weil es vielleicht praktisch ist, die Zeit am Arm abzulesen, aber auch weil es mir gefällt, in unsicheren Zeiten, den linken Arm zu strecken und nachdenklich|planerisch auf die Uhr zu schauen und die Zeit abzulesen, die Geste nur, aber gegen die SPIEGEL|ZEIT-Abo-Uhren bin ich allergisch, und das meine ich wörtlich, der Drehkopf an der Seite verursacht bei mir Ausschlag, nur der Drehkopf, nicht der Rest der Uhr, und gestern hat man mir in diesem Laden an den Potsdamer Platz Arkaden versprochen, dass deren Uhren keine Allergien verursachen würden, zudem bin ich jetzt von dieser Einstellung abgekommen, eigentlich eine ganz klassische, einfache Uhr zu wollen, eigentlich wolle ich ja nur etwas klassisches und einfaches, weil ich nichts anderes kenne, und es einfacher ist, sich zu nichts zu bekennen und schön im Hintergrund zu bleiben, aber dann stieß ich auf diese spanische Uhren von LOTUS, mit diesen eigenartig expressionistisch-artdeco-mäßigen Aussehen, die so Sachen machen wie: Aufmerksamkeit erregen. Ich mag ja Anstoß. Gekauft. Ich werde sie dann in zwei Wochen von K zu meinem Geburtstag bekommen.
Ich habe die Uhr gestern zweimal vor ihr versteckt, ich fand das blöd, nach so vielen uhrlosen Jahren, jetzt auch noch zu warten. Ja, das mit dem Verstecken war albern, deshalb habe ich es bald sein lassen.

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Heute hat mich Anke Gröner wegen dieser Tagebuchblogsache verlinkt, so mit Danke und all dem. Das hat mich sehr gefreut. Ich habe mich gefragt wie ich das mit dem Dankezurück am besten mache, weil sie ja die Kommentare ausgeknipst hat, und Mail zu schreiben ist ja auch wieder so eine verstummte Sache, bin dann allerdings auf keinen grünen Irgendwas gekommen, weshalb ich das jetzt einfach mal blogge, so pingpong, über Netz. Und dabei habe ich kurz überlegt, für diesen Eintrag die Kommentare auszuschalten, das hätte ich witzig gefunden, ist aber auch wieder albern, ich finde das ja gut, dass sie keinen Bock auf Kommentierer hat, und das stünde dann wieder so larmoyant: siehste die Gröner mag keine Kommentare jetzt zeige ichs ihr mal, aber, eben, das ist ja nicht so.

[tagebuchbloggend 13.1.]

Wieder zwischen den Tagen. Die Nacht also im Büro verbracht. Ich weiß gar nicht wie ich diesen Tagebucheintrag betiteln soll, noch welcher Tag das eigentlich gewesen ist. Vor der Nacht habe ich ein bisschen vorgeschlafen und nach der Nacht ein bisschen nachgeschlafen, zwei Stunden vor, vier Stunden nach, und dazwischen diese lange Nacht, das fühlt sich viel mehr Raubbau am Körper an, als eine ganze Nacht lang in Bars oder zu Beats sich den Puls der Zeit zu erhöhen.

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Morgens um sieben, nüchtern mit der U-Bahn nachhause gefahren, mich zusammen mit den frühaufstehenden Arbeitsmaschinen im Pendlerblock durch die unterirdischen Schächte schleusen lassen. Gespenstische Stimmung. Dabei bin ich Frühaufsteher, nur so nebenher.

[s.]

S hatte einen schwarzen Pony, der immer in ihren Augen hing. Sie war Assistentin in einem alternativen Büro für alternative Projekte und wir sprachen das erste Mal in der Kaffeeküche miteinander. Sie war sehr mager, sie trug immer dicke und weite Wollpullis und hatte ihr Haar immer ein bisschen zu fettig. Doch mochte ich sie, ich fand sie irgendwie sehr schön, auf ihre ganz eigene Art. Sie sprach sehr leise und sehr gewählt, und sie hatte dieses eigenartige Leuchten in ihren Augen. Nicht die Art von Leuchten von schönen und stolzen Frauen, sondern diese Art von Leuchten, wie es verschüchterte Mädchen tragen, wenn sie neugierig unterm Pony hervorschauen. Sie war nicht mein Typ Frau.

Ich machte damals Zeitung in diesem alternativen Büro für alternative Projekte. Ein Wochenblatt für Subversives. Ich war immer montags da. Sie war immer da. Wir verbrachten manchmal Zeit in der Kaffeeküche. Sie erzählte hin und wieder von sich, sie schriebe Gedichte, gebe auch Lesungen in kleinen Kreisen, und wünschte sich, irgendwann ihren ersten Gedichtband herauszugeben. Ich sagte, ich hätte so meine Schwierigkeiten mit Gedichten. Ich möge Gedichte, wenn sie vorgetragen werden, als Lied zum Beispiel, aber das Lesen von Lyrik fände ich verkrampfend, gleich eine ganze Kulisse hochzuziehen, nur für die paar Zeilen, das mache mir keinen Spaß, ich wolle von Lyrik getragen werden, ich hätte bei Gedichten eine Kundenmentalität. Ob sie das verstünde, ja sie verstünde es, es sei aber trotzdem nicht gut.
Ja, das konnte sein. Ich fragte, ob sie mich zu ihrer nächsten Lesung einladen würde, das würde mich nämlich sehr freuen, sie sagte, ja, das würde sie.

Einmal trafen wir uns zufällig im Carafon in der Hamburgerstraat, spät nachts, sie hatte zu viel getrunken, ich auch, wie eben alle Leute, die noch spät nachts im Carafon landen. Wir saßen an der Bar, redeten und ich fragte sie nach Feuer, sie sagte, sie habe ein Feuer für mich, aber damit könne man keine Zigaretten anzünden. Ich wusste, welches Feuer sie meinte, wusste mir aber keine Haltung zu geben, stellte mich also doof und fragte, welches Feuer sie meine. Sie griff sich an die Brust, es käme von da. Ich sagte, ich sei ein Feuerwehrmann, ich würde jede Kerze zum Ersticken bringen. Sie lachte, und sagte, das glaube sie mir nicht, aber ich sagte, dochdoch, und sie sagte, auch sie habe einen Feuerwehrmann. Ich fragte nicht nach.
Später schlug ich ihr vor, sie nach hause zu fahren, auf dem Fahrrad, sie sagte, ich sei betrunken, ich sagte, ich sei der beste Fahrradfahrer der Welt, und sie sagte: OK.

Wir mussten quer durch die Utrechter Altstadt, sie wohnte im Norden, hinterm Vogelviertel, etwa fünfzehn Minuten auf dem Fahrrad, zumindest wenn man zu zweit fuhr, alleine ging es natürlich schneller. Wir gelangten zu ihrer Wohnung, sie sprang von Rad, stand noch eine Weile vor mir herum, trat von einem Bein auf das Andere, die Hände in den Hosentaschen. Wir sagten nichts, und das war gut, bald würde es wieder hell werden, irgendwie schienen die Worte sich schon verabschiedet zu haben, als wäre die Hastigkeit, die Geschwindigkeit, aufgelöst in diesen letzten Augenblicken vor dem Morgen.
Ich sagte dann irgendwann, ich würde ja noch etwas trinken bei ihr, in der Wohnung, ich warte nur auf die Einladung, aber sie sagte, nein, das ginge nicht, ihr Freund sei Feuerwehrmann, und schliefe oben in ihrem Bett, ah-ok, sagte ich, das meinte sie mit Feuerwehrmann, es gäbe ihn also tatsächlich, sie sagte, nein, es ist nicht so wie ich denke. Ich sagte, das sei OK, sie bräuchte das gar nicht weiter auszulegen, hey, es war alles gut.

Eine Woche später sahen wir uns wieder im alternativen Büro für alternative Projekte, ich sagte Hallo, sie sagte Hallo, wir lächelten einander zu. Nachher trafen wir uns in der Kaffeeküche, sie trank den Kaffee immer schwarz, das war so lieblos, wie sie den ekligen Filterkaffee aus der Thermoskanne goss und ihn einfach stehend trank. Sie sagte: du trinkst den Kaffee immer mit Milch. Ich sagte: ja. Sie lächelte unter ihrem schwarzen, immer etwas zu fettigen Pony hervor. Sie war eigentlich sehr ungepflegt, ihre Wollpullis hatten oft Flecken, sie hatte immer Ränder unter den Fingernägeln, sie hatte keine gesunde Haut, sie war zu mager, ihre strähnigen Haare, sie hatte sogar etwas Gebrechliches an sich, ihre Haltung war gebückt. Und doch fand ich sie schön.
Sie sagte, sie würde demnächst wieder einmal Gedichte vorlesen, im Bastaard, mit richtigem Publikum, ob ich kommen wolle. Ich sagte, ich käme. Wann? Das wüsste sie noch nicht.

Ich hörte dann auf, bei diesem Wochenblatt für Subversives. Und ich sah auch S nicht mehr. Sie hatte nie nach meiner Adresse gefragt, ich hatte sie nie nach ihrer Adresse gefragt.

Irgendwann trafen wir uns im ACU an der Voorstraat wieder. Eine russische Band spielte. Sie saß am Tresen und rollte Zigaretten für eine Freundin, die neben ihr saß. Sie hatte einen ganzen Haufen gerollt. Die Freundin hörte der Band zu und rauchte. S rollte konzentriert Zigaretten. Ich ging hin zu ihr, sagte: Hallo, brauchst du mein Feuer? Sie sah auf, und sagte: Hallo, freut mich dich zu sehen. Sie lächelte. Ich lächelte. Ich sagte: ich habe dich lang nicht mehr gesehen. Sie sagte: Du kommst auch nicht mehr ins Büro. Ich sagte: stimmt, hast du die Lesung im Bastaard eigentlich noch gehalten? Sie sagte: ja, war sehr schön, schade, dass du nicht gekommen bist. Ich sagte: Du wusstest mir kein Datum zu nennen. Sie sagte: ich weiß. Ich sagte: ich weiß auch.
Die Freundin drehte sich um, S stellte uns vor, ich sagte Hallo, sie sagte Hallo, wir lächelten uns an, sie war sehr schön, eine stolze Frau. Sie nahm eine Zigarette von dem Haufen und sagte zu S: von diesem Kerl hast du mir gar nie erzählt. S sagte: nein, hab ich nicht.
Ich bestellte ein Bier. Und dazu einen Whisky.
S fragte ob ich schlecht drauf sei, ich sagte: neinwarum. S sagte: nunja wegen dem Whisky zum Bier. Und ich sagte, das sei ein Ritus. Ich lächelte nicht, sie lächelte.
Es kamen einige Bekannte vorbei, wie immer im ACU. Ins ACU ging ich manchmal, wenn ich das Gefühl hatte, einsam zu sein. Im ACU kamen immer Bekannte vorbei. Es half vor dem Alleinsein aber nur bedingt. Es führte mir vor Augen, dass ich nur Bekannte hatte, keine Freunde. Das sagte ich zu S und S sagte: oh.
Ich sagte auch: oh. Und dann sagte sie, dass sie mir das nicht glaube, sie kenne Freunde von mir, und ich sagte: stimmt, Du hast recht, so schlimm ist es vielleicht gar nicht.
Ein Bekannter kam vorbei, lehnte sich zu uns an den Tresen und redete mit uns.

Später, als die Band nicht mehr spielte, wurden Platten aufgelegt, ich ging auf die Tanzfläche und tanzte, zu– ich weiß nicht mehr was, R.E.M. spielte man damals oft, ältere Chumbawamba-Sachen, auch Einstürzende Neubauten. S kam auch dazu.

Am Ende der Nacht ging ich zu S, die mit einer Frau redete und sagte, ich ginge, ich sei müde, und sie sagte, komm zu mir, und ich sagte: und dein Freund?, und sie sagte: das weißt du doch, und ich sagte: ich weiß gar nichts, und sie sagte: der war mein Feuerwehrmann, und ich sagte: es war eine Metapher?, und sie sagte: ja. Ob ich also zu ihr kommen wolle, und ich sagte, ich sei sehr betrunken, und ziemlich müde, und sie sagte, das sei ihr egal, ich könne einfach im Sessel sitzen, sie würde gerne meine Gesellschaft haben, während sie noch ein bisschen male, sie habe auch Bier zu hause, wenn ich denn noch eines möge.
Ich sagte: Bier ist OK, vielleicht auch einen Kaffee?
Sie sagte: Ich koche dir auch einen Kaffee.
Ich zweifelte daran, ob es eine gute Idee war, aber wir fuhren durch das Vogelviertel und waren dann bei ihr. Sie hatte ein großes Wohnzimmer, eine in dunklem lila gestrichene Küche, und ein fensterloses Schlafzimmer.
Setze dich in den Sessel, sagte sie. Ich hole dir ein Bier.
Ich setzte mich in den Sessel. Ich behielt meine Jacke an. Ich schaute mich um. Die Wohnung war vollgestellt, mit vielen Dingen. S kam mit einem Bier zurück. Sie reichte es mir. Sie sagte: du brauchst nicht zu reden, du kannst einfach hier sitzen bleiben, ich mag deine Gesellschaft, trinke dein Bier, ich male.
In der Mitte des Wohnzimmers lagen aneinander geklebte Papierbögen. Darauf hatte sie Farbmuster gemalt. Flecken, Kreise, Quadrate, Dreiecke. Hände.
Sie zog ihren Pullover aus und streifte dabei alles mit ab, was mitzustreifen ging. Dann stand sie mit nacktem Oberkörper vor mir und tat, als sei das völlig normal. Dann zog sie ihre Schuhe aus, ihre Hose, und auch ihre Unterhose. Sie sah mich dabei nicht an. Dann kniete sie sich auf den Boden hin und fuhr mit dem Pinsel über das Papier. Sie war sehr mager.
Findest Du mich schön? fragte sie, ohne mich anzusehen und ohne mit dem Malen inne zu halten. Ich sagte: du bist schön. Du bist sehr eigenartig schön. Sollte ich je eine Geschichte über dich schreiben, dann würde ich schreiben: du bist irgendwie sehr schön.
Das gefällt mir, sagte sie, irgendwie sehr schön zu sein, eigenartig schön zu sein.
Und du bist ungepflegt, fügte ich hinzu.
Warum musst du das jetzt sagen? fragte sie.
Weil ich das an dir mag, glaube ich. Sagte ich.
Ich will mit dir schlafen, sagte sie.
Sie ließ den Pinsel fallen, kam zu mir gekrochen, öffnete mir die Hose und nahm meinen Penis in den Mund.
Es kitzelte mich.
Es kitzelt mich, sagte ich.
Komm, folge mir, sagte sie.
Ich stand auf und folgte ihr ins Schlafzimmer. Wir hielten uns dabei die Hand. Dann gab sie mir Kondome.
Vor dem Bett wendete sie sich von mir ab und ging auf dem Bett in die Knie. Sie forderte mich auf, in sie einzudringen. Ich tat das.
Irgendwann fragte sie mich, was ich mit ihr tun wolle, irgendwas schmutziges, ich fragte mich, was ich mit ihr tun wolle, irgendwas schmutziges, aber ich wusste es nicht. Ich durfte nicht zu lange überlegen. Ich wollte entschlossen sein. Ich sagte: ich will dich an den Haaren ziehen. Sie sagte: dann zieh mich an den Haaren. Dann zog ich sie an den Haaren.
Und sie schrie.
Und ich erschrak.
Ich fragte sie, ob ich ihr weh getan hätte, es täte mir leid, sie sagte, ja, aber das sei schon OK, ob ich das nicht möge mit dem Haareziehen, und ich sagte: dochdoch, aber nicht wenn es dir weh tut, und sie sagte: aber ist das nicht der Sinn davon? Und ich sagte, das wisse ich nicht so genau.

Später wachte ich auf. Sie lag mit ihrem Kopf auf meinem Bauch. Aus dem Flur kam ein wenig Licht herein. Ich legte ihren Kopf sachte beiseite und zog mich an. Und stahl mich davon.

Wir sahen uns dann nicht mehr wieder.

Fünf Jahre später, in einer Stimmung, der Vergangenheit Bedeutung beizumessen, machte ich ihre Emailadresse ausfindig und schrieb ihr eine Mail. Ich entschuldigte mich dafür, einfach gegangen zu sein und mich nicht mehr gemeldet zu haben.
Sie antwortete gleich, war sehr erfreut über mein Lebenszeichen, und sie sagte: das mit dem Gehen sei OK.

[tagebuchbloggend 9.1.]

Und dann Soul Kitchen gesehen. Wir haben viel gelacht, und erst als ich später im Bett lag, und mich die gewaltige Ästhetik des Filmes innerlich nicht in Ruhe ließ, fiel mir auf, einen unendlich traurigen Film gesehen zu haben, der nur mit liebevollem Witz und wegen der grotsek gezeichneten Figuren, den Anschein gibt, eine Komödie zu sein. Ich bin auch heute noch eigenartig mitgenommen. Danach sind wir durch den Schnee, die Rosenthaler Straße hoch gelaufen, meine Schwester und ich, bis zum Rosenthaler Platz, haben uns verabschiedet, sie ist in die Ubahn gestiegen und ich bin die Brunnenstraße hoch gelaufen. Die verschneite Partynacht, alles gedämpft von einer Watteschicht, nur vereinzelte Idioten haben sich ins Auto gesetzt und fahren herum. Zuhause arbeitete K noch. K arbeitet zur Zeit Tag und Nacht. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb bis ungefähr vier Uhr. Danach legte ich mich ins Bett und konnte nicht einschlafen. Und da fiel mir auf, dass ich einen unendlich traurigen Film gesehen hatte.

[…]

Über diese Vernetzung und Omnipräsenz der webzweinull-Communities bin ich wieder mit ganz alten Freunden und Bekannten aus meiner Kindheit in Kontakt gekommen. Ich habe es in den Anfangszeiten dieses Blogs einmal erwähnt, dass ich in einem kleinen Dolomitendorf aufgewachsen bin, in dem man Rätoromanisch spricht. Das ist ein übriggebliebener lateinischer Dialekt, den man damals, zur Römerzeit, und auch später noch, im gesamten Alpenraum sprach, bis das Latein aus politischen Gründen ausstarb und durch Französisch, Deutsch, Italienisch und Slawisch ersetzt wurde. Bis auf die paar gallischen Dörfer. Die paar Täler in den Dolomiten und der Schweiz, die geographisch dermaßen isoliert waren, dass sich die Sprache über die Jahrhunderte hinweg konserviert hat. Das Rätoromanische in den Dolomiten nennt sich Ladin. Ich bin ladinisch aufgewachsen, das heisst, dreisprachig natürlich, weil die amtliche Sprache italienisch ist, meine Eltern Südtirolerisch sprechen, aber mein sonstiges gesamtes sozialen Umfeld eben ladinisch sprach. Ladinisch war meine Alltagssprache. Ich dachte auf Ladinisch, ich träumte auf Ladinisch, und um es vollends zu verkitschen: ich schrieb sogar meinen ersten Liebesbrief auf Ladinisch.
Als ich vierzehn war, zog meine Familie weg, in Richtung Bozen, berufliche Gründe meines Vaters; ich stand mitten in der Pubertät, ich hasste es, meine ganze Welt wurde mir genommen, und seitdem hatte ich, bis auf wenige Ausnahmen, kaum mehr ein ladinisches Wort gesprochen.

Bis jetzt eben die webzweinull-Communities kamen. Und ich der Gruppe “Ladins” beitrat. Neulich schrieb mich eine junge Frau an: Hey, auch ich bin Ladinerin und wohne in Berlin. Lust auf einen Drink?
Ich hatte Lust auf einen Drink.
Vorgestern trafen wir uns also in der Weinerei in der Griebenowstraße, nahmen einen Drink, und ich stockte und hakte. Es war sehr fremd und ungewohnt, und schwierig vor allem, nach mehr als zwanzig Jahren Ladinisch zu reden, Konversation in einer Sprache, die einmal meine Alltagssprache gewesen ist. Die einfachsten Wörter fielen mir nicht ein, dauernd bat ich mitten im Satz, auf Deutsch, nach Hilfe: »Woche?« »Edema« »Naturalmënt, Edema! […]« und sofort tauten die einzelnen, erfragten Wörter aus den hintersten tiefgekühlten Weiten meines Gedächtnissen wieder auf, die so gut konserviert gewesen sind, dass regelrecht die Gerüche zu den Wörtern mit auftauten, sie sagte in einem Satz »Lüsa« und eine Erinnerung fing an aufzutauen, ich fragte »Lüsa?«, ich wiederholte: »Lüsa? Schlitten?«, sie nickte und ich sah mich als kleinen Jungen den Schlitten über die kleine Holzbrücke des Baches ziehen, während mir der Duft der Fichten auf der anderen Seite des Baches entgegenwehte. Blöder Psychoscheiß, das, aber schon Okee.

[tagebuchbloggend 7.1.]

Die letzten Tage mich vor der Kälte gedrückt. Diese berliner kontinentalsibirischen Minusgrade gehen mir in die Knochen, das bin ich so nicht gewohnt, das geht mir sehr auf das Gemüt. Dabei sollte ich die Kälte kennen. Da wo ich herkomme ist ungefähr sechs Monate im Jahr Winter, ein Monat ist Sommer und fünf Monate Herbst. Frühling gibt es da nicht. Der Frühling ist der Matsch im auslaufenden Winter. Später in meinen langen Jahren an der Nordsee hatte ich nie richtigen Winter; die Sache mit dem Golfstrom, wir wissen bescheid. Ich sitze also drin. Oder bewege mich über U-Bahn. Und was will ich damit eigentlich sagen. Während ich die Zeit also Großteils drinnen verbracht habe, fand ich diesen Ton. Beim Aufschreiben von Liebesgeschichten aus meiner Jugend, wie das damals mit den Gefühlen war, das ist eigenartig, diese Leichtigkeit mit der man sie plötzlich betrachtet kann, umschreiben auch, die Zusammenhänge sind plötzlich so klar. Obwohl. Mal sehen ob später etwas davon ins Blog passt, ist dann ja auch wiedermal etwas autobiologisches, das kann hierher, die fitkiven Sachen machen mir sonst das Blog immer so fremd.

[…]

Die Idee ist natürlich uralt, die Umsetzung eigentlich auch, aber dennoch, es geht sicherlich noch besser, deshalb: ein paar gewöhnliche Leser schreiben ganz gewöhnlich, höchst subjektiv über Bücher die sie so gelesen haben. Wir präsentieren proudly: The common reader.

[tagebuchbloggend 3.1.]

Was ich vergessen hatte zu erwähnen, ist die Aufgeregtheit am Potsdamer Platz. Die Menschenströme von Außerhalb, die sich Berlin geben wollen und dann vor der Kulisse des Potsdamer Platzes landen, am plattgetretenen Dreieck: Reichstag, Brandenburger Tor, Potsdamer Platz. Ich gehöre ja zur Generation der Berliner, die den neuen Potsdamer Platz schon als integrierten Stadtraum wahrnehmen, und ihn auch entsprechend nutzen, wegen dieser gespielten Mondanität, der wir uns manchmal hingeben, Filme nur im Originalton zu sehen zu können, weil man bei synchronisierten Filmen, nach einer kurzen Entwöhnungsphase im Ausland, diese hermetische TOTALAKUSTIK der Syncronschaltung nicht mehr ausstehen kann. K und ich saßen in einem dieser Touristencafes an der Erhardt-irgendwas-Straße und tranken einen Kaffee, wir waren ziemlich ausgekühlt von der Kälte draußen, K las das Kinoprogramm und ich tat das, was ich früher beim Rauchen auch oft tat: in den Raum schauen. Nur hat man ohne Zigarette das Gefühl man sei ein Tagträumer, während die Zigarette immer die Bedeutungsschwere mitlieferte. Eine alte Erkenntnis. Mir kam jedenfalls in den Sinn, dass die Anwesenden vermutlich dem Trug erlegen wären, sich unter Berlinern zu befinden, das glaube ich, weil ich allen ernstes auch immer glaube, in Paris im 1mere Arrondissement zu sitzen und mich unter Parisern zu befinden, und genauso geht es den Berliner Touristen, sie setzen sich in die Bars am Potsdamer Platz und wähnen sich unter Berlinern, das ist vielleicht das Eigenartige dieses industriellen Massentourismusses – gegen den ich übrigens nichts habe – dass wir uns in, öhm, Sicherheit wähnen. Meine Schwester zieht übrigens wieder um. Der Entschluß alleine zu wohnen. (Diese KAPITALNEBENSÄTZE, ich komme in diesen Tagen nicht drumherum.). Ich begleitete sie zu einer Wohnungsbesichtigung im vorderen Samariterkiez, unweit der besetzten Häuser in der Rigaer-/Liebigstraße. Eine eindrucksvolle urbane Kulisse, die Sprache der bemalten Fassaden, die so explizit daherkommt, in der Ästhetik mit der wir früher die Flyer gestaltet haben. Ein Dutzend Häuser, sie wirken wie eine Territoriumsmarkierung, es ist wie Popart, recycled auf Gründerzeitpappe, TOTALÄSTHETIK. Erst beim Schreiben diese Zeilen fallen mir die Parallelen zum vorgestern erwähnten Quartier Jägerstraße auf, möglicherweise ist Aldo Rossi in seinen letzten Tagen der TOTALPOPART verfallen, der KAPITALTOTALÄSTHETIK, ein gewisser Brutalismus, der angewandt werden will, wenn man mit der Neuen Sachlichkeit brechen muss. Weshalb ich ja auch das Alexa so toll finde. Aber ich schweife ab. Wir haben uns dann diese Einzimmerwohnung im Erdgeschoß in einem Hinterhof angeguckt, die jetzt von den drei Typisierungen her ganz entsetzlich klingt. Das war aber gar nicht so. Die Wohnung war ziemlich geräumig, ziemlich billig, und ziemlich hell. Ich ging mit, weil ich ein fürchterlich neugieriger Mensch bin. Sehen wie Menschen wohnen, die Details, Gegenstände die Identitäten stiften, zu Personen assoziieren, Möbelstücke, und deren Ausrichtung, wie die Inseln geschaffen werden, wie Intimitäten geschaffen werden, überhaupt, wie der Lebensraum von Intimitäten lebt, wie der Stadtraum von Intimitäten lebt. Ich könnte immer nur Wohnungen ansehen. Mein bester Job war vielleicht Ende der Neunziger in den Niederlanden, als ich fast drei Jahre lang Möbel geschleppt habe, etwa 15 Wohnungen pro Tag, 4 Tage die Woche, 12 Monate im Jahr, ich habe damals NUR Wohnungen gesehen, und ich bin morgens mit wunderbarer Laune in die Fabrik gefahren. Später habe ich dann mit der Büroarbeit angefangen und dann bin ich fett wie eine Mozarella geworden, und schlechtgelaunt dazu. Aber gut, wovon wollte ich erzählen? Ach von den Tagen nur. Am Abend haben wir dann Billy Wilders One, Two, Three geschaut, Film aus ’61 über das Sektorenberlin, eine Komödie in der die Menschen unentwegt brüllen, wie so oft in den Filmen aus dieser Zeit, ich weiss nicht, sogar Willy Brandt hat ja immer gebrüllt, wenn er seine Reden hielt. Ich war am Ende des Filmes jedenfalls ein herbstliches Blätterhäufchen, irgendwas mit Espen oderso, und total erleichtert, als K in normalem und ruhigen Tonfall sagte: toller Film, was? Ich nickte. Der Film wurde übrigens von der Geschichte eingeholt; während der Dreharbeiten wurde die Mauer gebaut, und die ganze Thematik war danach für den Dings. Weshalb der Film anfänglich auch gefloppt ist. Erst später fing man ihn an zu schätzen. Heute kam meine Schwester am Nachmittag vorbei, weil sie sich auf dem Flohmarkt am Mauerpark eine TOTALVEREISUNG zugezogen hat. Ich hatte K kurz vorher eine Nackenmassage versprochen, also bat ich meine Schwester aus »Es« vorzulesen, während K vor mir auf dem Boden saß und sich von mir den Rücken kneten lies. So ging das eine ganze Weile und ich fühlte meine Hände irgendwann gar nicht mehr, wobei Ks Nacken TOTALBREI geworden war, was sie aber ziemlich Okee fand. Stephen King jedenfalls– diese öden Abschweifungen vom Handlungsstrang die er macht, zu viel Ballast, zu viel Nebensächlichkeiten, ich verstehe das nicht, ich meine, ich verstehe den Mainstream, ich weiß genau was funktioniert, aber bei »Es« sehe ich schlichtweg nicht, was den Mainstream an diesen öden Ausschweifungen über öde Figuren reizen soll, doch auf irgendeine Art schafft er es, uns bei der Geschichte zu halten, und während ich das so schreibe, glaube ich, dass er uns einfach eindudelt, es ist vielleicht ein bisschen wie beten oderso, er zieht eine enorme Kulisse hoch, und fängt dann an zu beten, mantraartig irgendwie, auch wenn der Text weiterfließt, vielleicht schauen wir bei King tatsächlich dem Fließen zu, als säßen wir am Fluß, ließen die Füße baumeln und schauen stundenlang hinein. […] ah, der Text verliert an Fahrt, ich will jetzt ins Bett. Morgen fängt das Bürojahr an.

[tagebuchbloggend 1.1.]

Neujahr. Gut reingerutscht irgendwie. Nach Mitternacht, gegen zwei oder drei, wurde, in der soundsovielten Rückblende, die soundsovielte Uhr eingeblendet, wie der Zeiger in den letzten Sekunden auf das neue Jahr zugeht. Um 00:00 geschah dann gar nichts, der Zeiger der Zeit ging einfach weiter, ohne inne zu halten und zu reflektieren, ohne jemanden zu küssen, oder den Sekt aufzumachen, nach der nullten Sekunde des neuen Jahres, kam einfach die erste Sekunde des neuen Jahres, und die Zweite, und weiter in seiner unendlichen Schleife. K und ich sahen das geschehen und waren total gerührt. Heute war das mit dem Aufstehen dann doch wieder schwierig. Warum auch immer. Am Nachmittag wollten wir spazieren gehen, auch mit meiner Schwester, die Silvester alleine in ihrer Wohnung verbracht hatte, verbringen wollte, es muss in der Familie liegen. Aber unsere Aufbruchstimmung war für sie dann ein wenig zu hektisch. K und ich fuhren also mit der u8 bis zur Heinrich-Heine-Straße, weil ich von dort durch die Luisenstadt zur Friedrichstadt in Mitte laufen wollte, das Quartier Schützenstraße von Aldo Rossi, genauer anzusehen. Bisher war ich ja immer nur daran vorbeigefahren, und in jene Ecke von Mitte kommt man sonst nicht so schnell, ist ja eine dieser Ex-Mauer-Gegenden, die so eigenartig unerreicht bleiben, für das Berlin, das man so im Kopf hat wenn man Berlin im Kopf hat, was vielleicht auch nur an mir liegt, und meinem Lebensumfeld, das so geprägt ist von diesem Aufbruchberlin, das das Berlin seit 1968 geworden ist. Wir sind dann um den ganzen Block herumgelaufen, ahh, die Körperlichkeit, und sehr angetan gewesen von dieser Architektur die sich so verliebt in Szene setzt. Wir sind dann noch weiter durch die Friedrichstadt gelaufen, durch das rechtwinklige Straßenraster der Quarrees, wie es Ende Sechzehnhundert angelegt wurde, und haben uns im Zickzack bewegt, ein bisschen als wäre es ein Abenteuerurlaub, wegen der Schluchten und des historischen Kontextes, was zwar nur zur Hälfte Abenteurlich ist, aber unsere Generation ist ja geprägt vom aufgezwungenen pädagogischen Wert unserer Kindheit. Sag ich jetzt mal so.