[jahresende Fragebogen]

Januar
Januar ist immer dieser Leerlaufmonat zwischen den Weihnachtsfeiertagen und meinem Geburtstag am 28. Der Januar braucht zwei oder drei Wochen bis er wieder richtig hochgefahren ist und gleichzeitig ist es der Countdown zu meinem Geburtstag an dem ich meistens wegfahre oder sonstwie arbeitsfern verbringe. Wenn ich am Ende des Jahres auf den Januar zurückblicke, dann bleibt da immer nur ein langer Anlauf zum 28. in Erinnerung. Dieses Jahr sind K und ich nach London geflogen.

Februar
Diesen Februar hatte ich zum ersten Mal eine VIP-Karte für das Olympiastadion. K’s Kollegin hatte uns eingeladen. Der riesige VIP-Untergrund im Olympiastadion ist eine erstaunliche Welt, die mich noch lange beschäftigt hat. Meist im positiven Sinne.
Hertha verlor 0:1 und es war der letzte Tag mit Luhukay als Übungsleiter. Danach würde es aufwärts gehen.

März
Sonnernfinsternis. Die Jungs in meiner Abteilung bauen spontan eine Camera Oscura aus Karton. Das ist mir als eine schöne Sache in Erinnerung geblieben.

Dann habe ich auch mein altes Sofa über Ebay Kleinanzeigen verschenkt. Es kam ein junges Ehepaar, sie wollten das Sofa ihrer Tochter schenken. Ich hatte Rückenschmerzen, konnte (und wollte) mit dem Abtransport also nicht helfen. Als das Paar das Sofa durch das Treppenhaus nach unten schleppte, war es offensichtlich, dass das Sofa für die Frau deutlich zu schwer war. Sie quälte sich und wirkte ein wenig verzweifelt. Ich wollte ihr daher Mut machen und log, sie müsse sich keine Sorgen machen, meine Frau habe das auch geschafft und die sei deutlich kleiner und schwächer. Was für einen Mist ich da kommentiert hatte, war mir erst fünf Minuten später bewusst. Zwei Tage lang wollte ich per Mail für diesen Kommentar um Entschuldigung bitten. Ich habe diese Email aus unerfindlichen Gründen nie geschrieben.

Dann Germanwings. Das muss man doch erwähnen, oder? Hat mich lange beschäftigt.

April
Tickets nach Amsterdam gehabt. Reise abgeblasen.

Im April bin ich nach langen Jahren wieder einem Chor beigereten. Ein sehr ambitionierter Chor mit einem spannenden Programm.

Mai
Im Mai bin ich dem Chor wieder ausgetreten.

Hertha hat sich unter Pal Dardai zwar wieder gefangen, aber der Abstieg wird nur mit Ach und Krach verhindert. Noch einmal Glück gehabt.

Juni
Im Juni zum ersten mal im Leben nach Mallorca gefahren und zwar auf Dienstreise. So einen Satz wollte ich immer schon mal schreiben. Habe ich zwar schon auf Facebook getan. Aber jetzt nochmal, hier.

Juli
Juli war irgendwie nur heiß. Juli war doch irgendwie nur heiß, oder? So ist mir der Juli in Erinnerung geblieben. Viel Zeit Abends vor Restaurants und Bars verbracht. Und immer schlecht geschlafen.

Flüchtlinge auch. Im Juli eskaliert das Flüchtlingsthema. Oder schon im Juni? Ich weiß es nicht mehr genau. Plötzlich brennt es.

August
Ich fuhr wieder eine Woche zu meiner Frau nach Schweden in den Wald.

Im August bekam ich Autoprobleme. Mein Auto gehörte auf Papier noch meinem Vater und ist deswegen in Italien zugelassen. Nun war der italienische TÜV fällig. Weil ich es aber zeitlich nicht schaffte, eine zehnstündige Italienfahrt (und Rückfahrt) anzugehen, beschloss ich das Auto in Deutschland zuzulassen, damit ich hier die TÜV-Plakette machen lassen kann. Das Auto hat eine sozusagen “italienisch” (OK, Klische) eingebaute Gasanlage. Als ich zur Dekra fuhr um die Anlage in Deutschland abnehmen zu lassen, fängt der Prüfer an zu lachen, schüttelt den Kopf, fotografiert mit seinem Handy die Gasanlage und lädt sie auf Facebook hoch um sich mit seinen Gasanlagen-Kollegen lustig darüber zu machen.
Damit kam ich beim TÜV also nicht durch und das Auto musste schließlich auf dem letzten Drücker nach Italien, wo die Prüfer die Anlage “ganz OK” finden würden. Einer meiner Mitarbeiter brachte den Wagen nach Italien und jetzt ist alles gut. Das Auto blieb dort, bei meinem Vater, ich wollte nicht, dass sich nochmal jemand lustig macht.

Hertha. Bundesligaauftakt. Wir haben kaum neue Spieler gekauft, eher Ergänzungen und junge Perspektivspieler. Ich sehe einer harten Saison entgegen.

September
Nach Sardinien zu einer Hochzeit eines Freundes geflogen. Jeden Tag Fisch gegessen und mit meinen Mandeln eine Gräte aufgespießt. Selten so schlecht geschlafen.

Und dann. Bitte folgende schöne Reihenfolge beachten. Das passierte alles im gleichen Monat:
1) Am 5.9 kaufte ich mir mein erstes, richtiges, eigenes Auto. Ein kleiner Volkswagen.
2) In einem anderen Zusammenhang bekam ich VIP-Karten für das Herthaspiel in Wolfsburg. Ich fuhr also am 19.9. mit meinem neuen Volkswagen zu seinem Geburtsort.
3) In der dritten und vierten Septemberwoche kam der Abgasskandal bei Volkswagen ins Rutschen.
Natürlich gibt es keinen Zusammenhang, aber für mich, der nie etwas mit Autos zu tun hatte und mit Volkswagen noch viel weniger, war das eine dermaßen symbolgeladene Konzentration von Eregnissen, dass es sich wie religiöses Unheil anfühlt.

Oktober
Um mir die Angst vor Autos zu nehmen, fuhr ich den ganzen Oktober mit dem neuen Auto herum. Sogar morgens ins Büro.

November
Dienstreise nach Bollnäs. Kurze aber intensiv in Erinnerung gebliebene Reise. Ich informierte mich im Vorfeld auf Wikipedia über den Ort. Bollnäs liegt 350km nördlich von Stockholm, hat etwa zehntausend Einwohner und gilt als eine Hochburg des Powermetal. Ein Mitarbeiter von mir ist Powermetalkenner. Ich bitte ihn uns einen Mix zusammenzustellen, vor uns liegt eine dreistündige Autofahrt, wir sollten uns kulturell darauf einstellen.

Dann habe ich meine Schwester und meinen Patensohn zu Besuch. Danach fliegen wir gemeinsam nach Südtirol.
Als ich am 13.November einschlafen will und zum Müdewerden noch auf dem Handy die Nachrichten lese, erfahre ich von den Anschlägen in Paris. Ich bin dann hellwach und kann erst spät in der Nacht wieder einschlafen.

Dezember
Die Hertha glänz. Die Mannschaft spielt eine nie dagewesene Saison und beendet die Hinrunde auf dem dritten Platz, überwindert sozusagen auf einem Championsleague Platz. Kann so weitergehen. Außerdem habe ich fast alle Heimspiele im Stadion gesehen.

JAHRESENDFRAGEN:

Haare länger oder kürzer?
Kürzer.

Mehr Kohle oder weniger?
Mehr.

Mehr ausgegeben oder weniger?
Vom Gefühl her weniger.

Mehr bewegt oder weniger?
Weniger.

Der hirnrissigste Plan?
Hm.

Die gefährlichste Unternehmung?
Betrunken Fahrradfahren. Das könnte ich jedes Jahr schreiben. Ich halte betrunken Fahrradfahren aber gar nicht für gefährlich. Sondern nur super. Aber da stand ja nicht “Die superigste Unternehmung”.

Die teuerste Anschaffung?
Ein Auto. Ein kleiner VW, kostete nicht viel. Ich bin sehr geizig bei sowas. Weil ich zum Glück noch nicht verstehe welche Vorzüge man sich mit Geld bei einem Auto erkaufen kann. Je mehr ich mit damit beschäftige, desto mehr beginne ich eine Ahnung zu haben.

Das leckerste Essen?
Auf jener Hochzeit in Sardinien habe ich vom Gefühl her einige Geschmackserlebnisse gehabt, die ich als außergwöhnlich bezeichnen würde. Ich habe da aber über mehrere Tage hinweg so viel und so durcheinander gegessen, dass ich die einzelnen Gerichte nicht mehr zuordnen kann. Was ich sehr schade finde.

Das beeindruckendste Buch?
Ist es jetzt etwas plakativ, wenn ich Bov Bjergs Auerhaus hier aufzähle? Ist es vermutlich. OK, dann ein anderes: “Gutes Bier selbst brauen” 🙂

Der ergreifendste Film?
Zwei Serien:
– Zum einen Anfang des Jahres die amerikanische Version von “The Killing”. Wir haben die vier Staffeln an zwei Wochenenden durchgeguckt. Erstens: tolle Frauenfiguren. Zweitens: tolle Figuren generell. Drittens: spannende und vielseitige Geschichte. Viertens: dieses verregnete und neblige Seattle, das sogar in die Figuren überzugehen scheint, boah, ich könnte mir das ewig angucken.
– “The Leftovers 2”. Die erste Staffel war schon meine Lieblingsserie des letzten Jahres. Die zweite Staffel ist vielleicht noch ein Stück besser. Ausgenommen vielleicht die fabrlos gebliebene Rolle von Nora Durst. Nora Durst war in der ersten Staffel der vielschichtigste (und umwerfendste) Charakter. In der zweiten wurde sie zu einem konventionellen Frauenbeiwerk mit konventionellen Frauensorgen (Ausnahme der Monolog in Folge 6. Überhaupt: Folge 6, die beste FOlge in der ganzen zweiten Staffel) zudem mit einer unmöglichen Hausfrauenfrisur. Sehr ärgerlich das, auf Nora Durst hatte ich mich am meisten gefreut.

Die beste Musik?
Moby. Ich habe im Dezember Moby entdeckt. 20 Jahre zu spät. Warum hat mir niemand gesagt, wie toll Moby ist.

Das schönste Konzert?
Apparat im Admiralspalast

Vorherrschendes Gefühl 2015?
Viele Dinge getan die überraschend leicht von der Hand gingen.

2015 zum ersten Mal getan?
In eine Brauerei crowdinvestiert 🙂

2015 nach langer Zeit wieder getan?
Seit 2006 das erste mal wieder in einem Chor gesungen.

Drei Dinge, auf die ich gut hätte verzichten können?
Dinge im privaten Umfeld über die ich hier nicht schreiben möchte.

Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Diese Frage fällt mir jedes Jahr sehr schwer. Ich verbringe sehr wenig Zeit damit, Leute von etwas zu überzeugen.

Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Ich habe nachgefragt. Der 15€ Gutschein für Google Play. Das ist ganz unironisch. Ich kann mich tatsächlich noch erinnern, wie sehr sie das gefreut hat. Weil sie ihre Kreditkartendaten nicht ins Handy eingeben will, aber eine bestimmte superpraktische App haben wollte.
Später stand ich im Supermarkt an der Kasse stand und sah diese Gutscheine. Von Google Play, itunes, etc. Darauf waren wir nicht gekommen.

Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Da zu sein.

Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?
“Schlaf gut”

Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?
Das kann ich nicht beurteilen.

2015 war mit einem Wort …?
Ziemlich Super.

[koffer]

Mein sechsjähriger Patensohn war in Berlin zu Besuch. Nachdem sich das Schloss an seinem Koffer nicht mehr öffnen ließ, musste ich zu jenen Methoden greifen in denen ich viel Übung habe und knackte den Schließmechanismus schließlich mit einem Brechstängchen. Der Koffer war somit natürlich hin.
Als wir später im Kaufhaus standen ließ ich ihn kurzerhand einen Koffer aussuchen, den ich ihm dann kaufte. Er wählte einen kleinen Koffer mit vier Rädern und einem Eisbären vornedrauf.

In den Stunden danach war er wie verzaubert von diesem Koffer. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich so intensiv mit einen Koffer beschäftigte. Wir waren zu dritt in der Stadt unterwegs, mit seiner Mutter, also meine Schwester. Er lief ständig mit seinem Koffer neben uns her. Oft lief er voraus und kniete sich hin um den Koffer zu öffnen und wieder zu schließen bis wir ihn wieder eingeholt hatten. Jede Pause nutzte er um Dinge darin zu verstauen und daraus wieder hervorzunehmen. Waren die Bodenbedingungen gut (Kaufhäuser) verwendete er den Koffer als Vehikel auf das er sich Rollen ließ oder es wie einen Rollator benutzte indem er sich darüber bückte und sich vorwärts schob.

Beruflich bedingt muss ich oft einschätzen ob jemand selbstständig arbeitet oder ob ich die Qualität der Arbeit kontrollieren muss. Mein sechsjähriges Patenkind schätzte ich gleich als Profi ein. Ihn und seinen Koffer brauchte ich nicht zu kontrollieren.

Wir waren dann im weitläufigen Untergrund am Alex, kauften Blumen und eine Zeitung, und beide mussten wir noch zum Geldautomaten. Es war Samstagnachmittag, im Untergrund wimmelten die Menschen. Als wir danach auf die Ubahn warteten sah ich zu meinem Patenkind hinunter. Er strahlte mich an. Was mir aber auffiel: mein Patenkind war kofferlos. Und irgendwo war ein Koffer herrenlos.
In diesen Zeiten des Terrors ist ein Kofferverlust nicht bloß ein Kofferverlust sondern man bringt auch die Zivilisation aus dem Lot. Ich erzählte meiner Schwester wie eine Woche vorher der Bahnverkehr eine Stunde lang zum Erliegen kam. Der Grund, ja genau, ein herrenloser Koffer am Alex. Ich fragte den kleinen Jungen wo der Koffer sei. Er schaute zuerst auf den Boden und schlug sich danach die Hand vor den Mund.
Keine gute Sache.

Das Ende der Geschichte lasse ich jetzt aber weg. Nur so viel: am Abend aßen wir Nudeln mit Pesto und hatten alles schon vergessen. Das ist immer ein schönes Bild am Ende. Essende Leute, sorglos am Tisch.

[e.n.]

Vorhin im Aufbauhaus zu Mittag gegessen. Ich saß alleine am Fenster und an einem Tisch schräg gegenüber mir saß dieser Schauspieler aus Fight Club. Nicht Brad Pitt, sondern der andere. Er unterhielt sich mit einem (mir unbekannten) Mann und hielt dabei ein großes Notizbuch in der Hand, in das er ständig Sachen notierte. Ich hatte nur E auf meinem Handy, konnte nichtmal seinen Namen googlen, ich saß also nur da und schaute angestrengt in eine andere Richtung, ich wollte ja nicht in Verdacht geraten berühmte Schauspieler anzustarren, schließlich saß er ja schon mit dem Rücken zum Eingang, damit die Leute ihn nicht ständig sehen würden und ins Starren verfielen. Als ich mit dem Essen fertig war, ging ich ganz langsam an seinen Tisch vorbei, vielleicht würde ich das eine oder andere aufschnappen, von einem noch geheimen Filmprojekt oder einer Wohltätigkeitsgeschichte, wer weiß. Als ich dann am Tisch stand und versuchte zu lauschen, war ich dann ziemlich überrascht: er konnte sächsisch. Glaubt einem ja keine Sau, wenn man das erzählt: Edward Norton kann sächsisch.

[auerhaus]

Jetzt ist schon eine Woche her seit Bov’s Buchpremiere. Ich betreibe keine Literaturkritik, dennoch muss ich noch kurz etwas dazu sagen. Vorweg: Auerhaus ist ein sehr gutes Buch. Auerhaus ist lustig, und von einer ständigen und unkitschigen Traurigkeit getragen. Ich mochte diesen Tonfall sehr.
Ich glaube ja, dass Bov irgendwann diesen ganz großen Roman schreibt. Verfolgt man seine Tweets oder liest man seine Kurzgeschichten oder Texte für die Bühne, dann ahnt man, was da drin steckt, ich meine, da steckt dieser explosive (Patzbumm) Mix aus Witz, Tempo, Melancholie und eine große Dosis politischer Intelligenz drin, das sind die Zutaten für diese großen, bewegenden, auch politischen Roman, der den Mainstream erreicht und ganze Generationen prägt. (So oder ähnlich).

Deshalb hat mich damals sein Romandebut “Deadline” auch so enttäuscht. Leider will Bov keinen Beststeller schreiben. Erfolg ist ihm suspekt. Dennoch: Auerhaus. Das einzige was man Auerhaus vorwerfen kann, ist, dass er wenig zeitgenösische Relevanz hat. Zumindest, wenn man es oberflächlich betrachtet. Und vielleicht, dass er für Bov’s Verhältnisse nicht vordergründig politisch ist. Aber das war Deadline eigentlich auch nicht.
Bevor ich die nächsten Zeilen schreibe, muss ich erwähnen, dass wir beide uns kennen. Ich habe schon einmal für ihn gekocht. Wir haben auch viel Bier zusammen getrunken. Außerdem standen wir schonmal auf der gleichen Bühne. Trotzdem bin ich unvoreingenommen.

Was ich also sagen will: lest Auerhaus. Lest ihr jetzt Auerhaus, dann könnt ihr euch in ein paar Jahren auf dem Sofa zurücklehnen, eure Augenbraue heben und sagen, ach, dieser neue Bestseller von Bov Bjerg, ich fand damals seinen zweiten Roman ja viel besser, der entzog sich dem Zeitgeist und war nicht so offensichtlich politisch.
So ist das nämlich.

[doch noch ein paar Cents zur Flüchtlingsthematik]

Zum Flüchtlingthema hatte ich bisher nichts zu sagen, meine Meinung hebt sich vom üblichen linksliberalen Gerede nicht ab, aber es beeindruckt mich sehr, mit welch ungewohnt positiver Energie in den Medien seit einigen Wochen die Flüchtlingsthematik angegangen wird. Auf allen Fernsehkanälen, in allen großen Medien, wie dieses positive Bild geschaffen wird, weg von diesem Bild grimmiger Männerhorden die unseren Wohlstand überfallen, sondern Familien stehen im Vordergrund, es wird erklärt, warum sie Smartphones haben, dass viele auch Abitur haben, warum selten Frauen zu sehen sind etc. Man mag das als oberflächlich abtun, aber wenn ich sehe wie unter den Leuten regelrecht ein Wettbewerb losgetreten wurde, wie offenbar jeder besser für Flüchtlinge sein will als der Nachbar, jeder Fußballverein will dem Rivalen in Flüchtlingssolidarität in nichts nachstehen, Veranstaltungen werden abgesagt um Platz für Unterkünfte zu schaffen etc. dann ist Oberflächlichkeit eben eine gute Sache, genau wie die Medien hetzen können, so können sie auch ein positives Bild transportieren. Nenne es Propaganda, ich glaube so funktioniert die Welt aber, es wird dem Mainstream gefolgt. Und wenn es um eine gute Sache geht, dann finde ich das eine gute Sache.

Und gerade für diejenigen, für die Integration immer so wichtig ist: in einem Land das einen Willkommen heißt will man sich auch lieber integrieren.

Und ich weiß, dass lange nicht alles OK ist, und ich weiß, dass auch alles wieder kippen kann, aber die Welt ist ein klitzekleines Stückchen besser geworden in diesen Tagen.

[västra götalands län]

Ganz weit drin im Wald. Wir suchten nach Pilzen. Wir suchten auch nach Beeren. Wir fanden viel von alledem. Die Zivilisation war weit weg. Die nächste Asphaltstraße drei Kilometer nördlich. Eine kleine, schlechte Schotterstraße, die ungefähr ins Nirgendwohin führt, vielleicht einen halben Kilometer westlich. Hier leben keine Menschen. Nur unser Häuschen etwa zwei Kilometer südlich. Und ein weiteres Sommerhaus, ungefähr gleich weit entfernt. Viel, viel weiter weg, vierundzwanzig Kilometer weg, gibt es einen Supermarkt. Dies erwähne ich nur um uns zu verorten.

Dann lag da dieses Käferwrack im Wald. Vielleicht hat zu Kriegszeiten hier ein Weg entlanggeführt. Man würde den Weg nicht erkennen. Ich nähere mich dem Teil mit Unbehagen. Im Inneren liegen Sachen, morsch, oxidiert. Ich nähere mich dem Wagen mit dem Gefühl, mich einem Ort des Verbrechens zu nähern. Rechts daneben ist ein Zirkusschild aufgestellt. Ein lachender Clown in grellem rot. Ich kann den Clown nicht fotografieren, nicht ansehen. Es gibt unter bestimmten Bedingungen offenbar einen Coulrophoben in mir. Das wusste ich nicht. Das rot ist so rot, dass es keine paar Monate alt sein kann.
Die Frauen sind beim Pilzesuchen weitergezogen. Ich rufe: wo seid ihr. Bekomme aber kein Antwort. Ich rufe nochmal: wo seid ihr. Irgendwann höre ich eine Frauenstimme, sie seien hier drübern.

[über sexblogs etc]

Neulich auf Frau Casinos Party, wir waren noch zu fünft oder sechst, wir saßen beim letzten Bier und landeten beim Thema Sexblogs. Es war sicherlich schon drei Uhr, vermutlich später, als jemand (ich glaube ich war das) sagte, dass es keine wirklich spannenden Sexblogs in Deutschland gäbe. Ich zog dabei Slutever als Verleich heran, ein New Yorker Blog von einer jungen Frau die subjektiv über Sex schreibt, sei es über Dinge, die ihr geschehen oder indem sie Themen aus den Medien aufgreift und kommentiert. In unserer Diskussion wollte man zuerst das “Gute Sexblog” definiert wissen. Das war eine super Frage, die ich zuerst auch nicht so klar zu umreißen wusste. Was gute Sexblogs ausmacht ist für mich ja vor allem, wenn es einen hoher Unterhaltungswert fernab von Lusgefühlen aufweist, also einen pragmatischer Umgang mit dem Thema pflegt, sozusagen eine Mainstreamisierung. Leute die lustig über Sex schreiben, sind meist verklemmt. Oder prüde. Wird Lust erzeugt, gerät es schnell in die Schmuddelecke, macht man es aber richtig, ist es sexy. Ich kann nicht mit Männern über Sex reden. Das liegt nicht unbedingt an mir. Es liegt daran, dass viele Männer sich nicht ernsthaft auf das Thema einlassen sobald man sich mehr über als “Titten” unterhält. OK, ein bisschen plakativ geschildert. Dennoch im Kern wahr. Mit einigen Frauen hingegen konnte ich super entspannt über Sex reden. Dummerweise sind wir danach meist im Bett gelandet. Was auf dem ersten Blick nicht schlimm ist, aber wenn mir etwas an der Mainstreamisierung des Sexthemas liegt, soll es ja nicht Ziel sein miteinander zu schlafen, sobald man über Sex redet, genau so wenig wie man zusammen nach Brasilien fährt, wenn man über Brasilien redet. Offenbar können aber nicht nur Männer nicht über Sex reden, sondern auch Frauen untereinander. Frauen sagen hingegen, sie könnten das Thema vortrefflich mit Männer besprechen. Zumindest mit einigen. Also ich rede hier von den heterosexuellen Beziehungen, zwischen Homosexuellen funktioniert es vermutlich genau so, wenn sexuelle Anziehung da ist. Also, was ein gutes Sexblog dann ausmache?

Ich neige schon zum Missionieren, ein gutes Sexblog sollte gesellschaftliche Relevanz haben. Und in dieser Rolle muss es natürlich auch mit Konventionen brechen, damit meine ich nicht mit esoterischem Ernst über sexuelle Phantasien zu schreiben, sexuelle Phantasien sind in diesem Kontext eher öde, die interessieren meist doch nur, wenn man konkrete sexuelle Handlungen verrichten will. Warum ich Slutever ein gutes Sexblog finde, ist, weil eine real existierende Frau über real existierenden Sex plaudert. So lässt sie sich nicht in sogenannte Schmuddelecken oder Szenen abdrängen, auch wenn sie natürlich in ihrer New Yorker Welt mit meist schönen, intelligenten und bisexuellen Menschen auch wieder in einer Blase lebt, aber vielleicht dennoch eine Art soziale Avantgarde, die eine Art Positivismus vorlebt, vielleicht ist es genau das, was ich daran mag, es drängt sich ein nachvollziehbares und greifbares Role-Model auf, eine junge Frau mit real existierendem Gesicht, die teils lustig, teils auch nicht lustig, und oft souverän Grenzen überschreitend über Sex redet. Dieses stilsichere Überschreiten der Grenzen. Immer darüber, aber nie in der Schmuddelecke.

Irgendwann beschlossen wir keine weiteren Biere mehr zu trinken und fuhren nach hause. Das Thema hat uns nicht losgelassen, wir haben noch im Taxi darüber geredet. Allerdings taten sich keine neuen Erkenntnisse mehr auf, vielleicht noch, dass auch ein heterosexueller Mann ein sogenanntes gutes Sexblog schreiben sollte, wegen dieser WHM-Perspektive, die für ein Role-Model vermutlich unerlässlich ist. Der Gedanke war aber noch nicht ganz ausgereift.

Ich habe ja immer Angst davor, dass wir irgendwann nicht mehr über Sex reden können. Die konservativen und unterdrückenden Gesellschaften erkennt man immer daran, wie verklemmt sie mit Sex umgehen. Kann ich nicht schlafen von sowas.

[pflege]

Etwa alle sechs Monate lese ich etwas über Roberto Bolaño. Jedes mal will ich ein Buch von ihm kaufen. Ich habe drei gelesen, aber ich will nicht Bücher aus Papier herumschleppen. Alle sechs Monate gehe ich auf Ebooks.de oder Amazon oder die anderen Händler. Nie gibt es deutschsprachige Ebooks von Roberto Bolaño. Alle sechs Monate setze ich mir einen Beschwerdehut auf, ziehe meine rechte Beschwerde-Augenbraue nach oben und schreibe dem Fischer Verlag eine Email. Wann man mit einem Ebook von Bolaños “2666” rechnen könne. Alle sechs Monate bekomme ich eine Antwort. Die Antworten sind sehr ausführlich. Die Lizenzlage ist wohl nicht immer leicht. Manchmal wird mir geradeheraus mitgeteilt, dass Papierbücher ohnehin besser sind. Manchmal lese ich das nur am Tonfall heraus. Vor einigen Tagen schrieb man mir, dass es unter den Fischer-Lesern üblich sei, einen gesunden Mix aus Büchern und Ebooks zu pflegen. Das hat mir sehr gefallen. Einen gesunden Mix aus Büchern und Ebooks. Pflegen. Fast hätte ich einen Trend verpasst.

[physi]

Zum ersten Mal zur Physiotherapie gegangen. Ich bin es nicht gewohnt, von fremden Menschen angefasst zu werden. Ich stehe mit nacktem Oberkörper vor ihr, ziehe den Bauch ein und entschuldige mich für den Schweiß, ich käme gerade mit dem Fahrrad. Sie lächelt nicht sehr interessiert und ich so: ach klar, bin ja kein Sexualpartner. Den Bauch ziehe ich trotzdem ein, man weiß ja nie.

Ich lege mich auf die Liege und bin ganz aufgeregt. Ich sage: ich bin kitzlig. Mit schreien und so. Dann fasst sie mich an. Es geht aber gut. Sie knetet mich. Fünfzehn Minuten lang. Währenddessen führen wir eine nette Unterhaltung, ich erzähle ihr (natürlich) von meinem Bürojob und meiner schlechten Sitzhaltung. Ich fühle mich verpflichtet mit einer Physiotherapeutin über eine schlechte Sitzhaltung zu reden.  Es langweilt sie nicht im Geringsten.

Sobald die fünfzehn Minuten vorbei sind legt sie mir ein schweres und heißes Kissen auf. Es hat eine Form, die sich meinem Rücken anpasst. Ich weiß nicht, was mir geschieht. Sie dreht eine Eieruhr auf und sagt, sie habe mir jetzt ein Hitzekissen verpasst, ich könne nun zwanzig Minuten hier liegenbleiben, bist die Eieruhr klingle, und dann könne ich einfach gehen.
Sie verlässt den Raum und ist weg.

Dann liege ich da. Zwanzig Minuten vor mir. Mein Telefon außer Reichweite. Hölle.
Ich denke, ich denke, ich denke. Irgendwann merke ich, dass ich mit aufgestützten Ellbogen daliege. Zehn Minuten lang habe ich an mein Handy gedacht. Dann ist es mir zu blöd und ich schleiche mich hinaus.

[…]

So.

Jetzt bin ich aber wirklich lange weg gewesen. Fast zwei Monate. Der letzte Eintrag ist vom Anfang April. Man muss wissen, dass ich diese lange Liste rechts im Menü liebe. Den Menüpunkt [archiv], die großkotzige Liste der Monate, die ich schon im Internet schreibe, der knallharte Beweis, dass das hier schon ein finnischer Rockclub war bevor es überhaupt finnische Rockclubs gab. Muss ich mich täglich vergewissern. Wenn ich heute in den nächsten anderthalb Stunden nichts schreibe, dann wird diese Liste aber nicht um den Mai 2015 ergänzt. Schlimm das. Plagt mich schon die ganze Woche.