[was schön war, KW11]

Man mag mich Kulturbanause nennen, aber für mich war Chuck Berry ja immer nur der Cousin von Marvin. Marvin Berry. Der, der in 1955 beherzt zum Telefonhörer griff.

Meinen alten Telekom Receiver auf Ebay Kleinanzeigen zum Kauf angeboten. Ich stelle da manchmal alte Dinge ein. Meist Technik die ich nicht mehr brauche und die ich auch in meinem Freundeskreis nicht mehr los werde. Alte Monitore oder alte Notebooks, etc. Immer für 10 Euro. Als ich den Receiver einstellte begann eine Frau mit mir zu handeln. Ob sie den Receiver auch für 5 haben könne. Ich antwortete, Sie wollen jetzt nicht ernsthaft bei 10 Euro herumfeilschen, oder? Sie sagte: ja. Daraufhin schrieb ich ihr, okay, Receiver für 5 Euro, dafür bringen Sie mir zwei Flaschen meines Lieblingsbieres mitzubringen. Ich schrieb ihr die Marke, die Sorte und den Späti, wo sie zwei Flaschen kaufen könne.
Sie war einverstanden. Ihr Sohn würde kommen und mir das Bier mitbringen.
Am nächsten Tag stand der Sohn vor der Tür. Ein junger, frisch aussehender Mann. Eher ein großer Junge, als ein Mann. Ich überreiche ihm den Receiver, er überreichte mir 10 Euro. Er habe kein Bier, sagte er. Der Spätverkäufer verkaufe ihm keinen Alkohol.
Wenn man das aufschreibt ist das nicht mehr so lustig, aber ich habe danach wirklich lachen müssen. Wie er da ein wenig bedröppelt im Treppenhaus stand, von einem Bein auf das andere trat und sagte, der Spätverkäufer habe ihm kein Bier verkaufen wollen. Wenn Feilschen am Jugenschutz scheitert.

Wiedermal einen Film geguckt. Total ungewohnt. Wie kurz Filme sind. Eigentlich sind Filme Kurzgeschichten. Es ist mir schon vor einiger Zeit aufgefallen, dass Literaturverfilmungen am besten in Serienform funktionieren, Filme bieten den zeitlichen Rahmen nicht, ich meine wirklich die zeitliche Komponente, wenn man beispielsweise ein Buch liest ist man gewöhnlich mehrere Tage damit beschäftigt, die Figuren die einen über mehrere Tage begleiten, die Geschichte die immer so ein bisschen mitläuft, als würde eine Geschichte mitreifen, über die Tage hinweg. Bei Serien gibt es einen ähnlichen Effekt, dieses Begleiten der Geschichte und der Figuren. Was mich bei Verfilmungen von Lieblingsbüchern immer gestört hat ist dieser fehlende emotionale Faktor, dass mich die Geschichte nie so einnimmt wie das Buch, und ich bin mir sicher, dass das nur mit der Zeit zu tun hat, dass der Film alles, alles auf die zwei Stunden herunterkomprimiert, ich meine, Gefühle sind ja immer ein bisschen träge, die fangen bei mir nach zwei Stunden erst richtig an.

[was schön war, KW10]

Ich tanze zwei mal pro Jahr. Immer auf der Firmenfeier. Wenn wir drei Firmenfeiern pro Jahr hätten, würde ich dreimal im Jahr tanzen. Diesesmal habe ich es leider vergessen. Am Ende dieses Jahres werde ich also nur einmal getanzt haben.

Bei Sonnenuntergang mit dem Fahrrad über die Warschauer Brücke gefahren. Rechts von mir eine Wand von Leuten, die ganze Brücke lang, neben dem Fahrradweg, alle nebeneinander, alle dem roten Abendhimmel zugewandt, wie sie mit gezückten Telefonen den Alex zu erfassen versuchen, der dramatisch im Rot zu versinken scheint. Ich bin der Fahrradfahrer der durch das Bild fährt. Ich drehe mich nach links und auch ich erstarre kurz zu einer Säule aus Erfurcht.

[Was schön war, KW9]

Vorletzte Woche vor neun Jahren habe ich K kennengelernt. Das heißt, wir haben uns in Wirklichkeit in 1995 oder 1996 kennengelernt. Das war in Wien. Sie trug ausschließlich schwarz, ich hingegen hatte grüne Haare. Es erklärt sich vonselbst: wir hatten Vorbehalte voreinander.
Viele Jahre später, in 2008, trafen wir einander zufällig wieder. Diesmal in Berlin. Sie trug Jeans und ich hatte an Gewicht zugelegt. Das ist keine missglückte Metapher, aber es erleichterte den Umgang ungemein.

Das Wiedersehen ergab sich im Viva Mexico in der Chausseestraße, diesem ziemlich improvisierten Restaurant mit den fantastischsten Quesadillas und den zwei tollsten Mexikanerinnen (der Welt). Weil es so kalt war, saßen wir neben einem Gasradiator. Das war in einer Zeit in der es noch echte Geheimtipps gab und das Viva Mexico ist in den Jahren seines Bestehens ein richtiger Geheimtipp geblieben. Ab und zu begegne ich noch Menschen die das Viva Mexico kannten und bei der Nennung dieses Lokals leuchtende Augen bekommen. Wir reden wohlgemerkt nicht von einem magischen Club oder einem fernen Urlaubsort, wir reden hier von einem so gut wie heizungslosen Restaurant in diesem damals ziemlich brachen und verlorenen Teil von Mitte zwischen Tankstellen und Brandwänden kurz vorm Wedding. Heute sieht es da natürlich ganz anders aus.
Ein Jahr später waren wir was das, was man allgemein ein Paar nennt und wir kehrten an diesem speziellen Tag ins Viva Mexico zurück. Manche Leute feiern den Hochzeitstag, manche das erste Knutschen oder den ersten Sex, also das symbolische “Zusammenkommen”, wir aber zelebrieren Jahr für Jahr diesen seltsamen Tag des Wiedersehens nach 13 Jahren.
Zwei Jahre später schloss das Viva Mexico für immer. Ich hatte Rosis Nummer noch. Im ersten März nach der Schließung rief ich sie an, ich fragte, ob sie irgendwo wiedereröffnet habe, meine Freundin und ich müssten nämlich unseren Jahrestag zelebrieren und eigentlich könnten wir unseren Jahrestag nur im Viva Mexico zelebrieren. Sie wusste zwar nicht wer ich war, sie war aber hörbar erfreut, sie ermutigte mich, es im nächsten Jahr wieder zu probieren, sie suche gerade nach neuen Räumlichkeiten, es sei ja nicht mehr so einfach, usw.
Und so tat ich. Immer im März rief ich an. Ich wurde immer vertröstet. Das ging zwei Jahre so. Danach funktionierte die Nummer nicht mehr.

Wir sind dann auf andere Mexikaner ausgewichen. Seitdem suchen wir jedes Jahr nach dem perfekten Mexikaner. Wenn man so will ist das auch eine schöne Aufgabe. Wir haben uns damit abgefunden. Immer das perfekte Viva Mexico finden.

Vorletztes Wochenende war ich in Prag und das ging so:
Frau Modestes Mann J hatte Geburtstag. J ist mein Freund. Auch My und ihr Sven sind meine Freunde. Und Frau Modeste natürlich auch. Sie schenkte ihrem J zum Geburtstag eine Reise nach Prag. Sie verschwieg die ziemlich relevante Info, dass auch drei Freunde mitfahren würden. My, Sven und ich waren eingeweiht und so freuten wir uns schon seit Wochen diebisch auf die Reise.
Am Hauptbahnhof beobachteten wir drei Eingeweihten wie das pragreisende Ehepaar von den SBahnen bis hinunter zu den Ferngleisen ging. Wir kannten die Ankunftszeit und hatten eine Uhrzeit an den Gleisen abgesprochen. Wir kamen unerkannt nahe an den zu Überraschenden heran, und grüßten plötzlich von hinten, hallo, und sagten so lustig blöde Dinge wie, was macht ihr da und wir fahren zum Karel Gott Konzert etc. So kindisch gefreut habe ich mich seit Ewigkeiten nicht mehr.
Noch schöner war, dass das dem Überraschten eine wirkliche Freude bereitet hatte und sich der ganzen Überraschung ein sehr tolles Wochenende in Prag anschloss, das wir um zehn Uhr morgens in einem tschechischen Speisewagen mit Pilsner Urquell begannen und nicht mehr beenden wollten.