Wir fuhren also nach Marburg. Nach Ankunft im Hotel beschlossen wir, sofort die Stadt zu besichtigen und nahmen den Aufzug hinauf zur Altstadt. Die Altstadt liegt hoch über dem Tal und ist eine seltsam unwirkliche Welt aus Knusperhäuschens. Sie ist aber echt, es ist kein Disneyland und die Altstadt ist tatsächlich über einen öffentlichen Aufzug zu erreichen. Der Aufzug fährt jeden Tag bis 1:30 und ist kostenlos. Man kann die Altstadt aber auch über enge und steile Gassen erreichen. Alternativ gibt es auch verschiedene Treppensysteme. Oben angekommen taucht man in ein märchenhaftes Gewirr aus dunklen Gassen, Fachwerkhäusern, Treppen und grob bepflasterten Strassen ein. Es gibt viele Cafés und Restaurants und seltsamerweise viele Buchläden. An einem Buchladen bittet uns ein Ladenbesitzer auf etwas aufdringliche Weise herein. Er fragt uns, ob wir die zehn besten Bücher des Jahres sehen wollen. Wir folgen ihm in seinen Laden. In der Mitte seines Geschäftes hat er Bücher aufgestellt. Dazu sagte er, das sei die kuratierte Insel. Diese Bücher habe er alle gelesen und als absolut gut befunden. Es sind verschiedene Bücher von Daniel Kehlmann und Juli Zeh. Ausserdem fast ein Dutzend Bücher über Helmuth Schmidt.
Wir blieben freundlich, nicken und ich sagte „Oh super, Kehlmann, die habe ich alle gelesen.“ Von Kehlmanns „Vermessung der Welt“ kann ich mich eigentlich nur erinnern, dass die Dialoge konsequent in indirekter Rede verfasst waren. Diese Erinnerung griff ich auf und sagte zum Inhaber, dass ich vor allem mochte, wie konsequent Kehlmann die indirekte Rede anwandte. Damit hielt er mich sicherlich für einen Profi. Daraufhin zog er ein Buch aus einem Stapel und sagte: oh hier etwas für die Frau, das wird Ihnen bestimmt gefallen.
Es war ein Buch von Paulo Coelho. Ich kenne meine Frau und weiss, dass sich in ihrem Körper in dem Moment zweitausend Zehennägel krümmten.
Nach fünf Minuten wussten wir uns aus den Fängen des Buchhändlers zu befreien und gingen auf den Weihnachtsmarkt. Danach setzten wir uns in eine Bierbar aus Fachwerk. Tatsächlich bestanden die Wände auch an der Innenseite aus Mauerwerk mit Holzbalken. Auf den Bildschirmen wurden Nachrichten gezeigt. In Magdeburg war ein Auto auf dem Weihnachtsmarkt in die Menschenmenge gefahren. Tote und Verletzte. Wir lasen zuerst Marburg und nicht Magdeburg. An Magdeburg waren wir aber am Nachmittag vorbeigefahren. Danach hingen wir natürlich mit unseren Köpfen überm Telefon und lasen die Nachrichten.
Um zwanzig Uhr hatten wir in einen Tisch in einem schwedischen Restaurant am Marktplatz. Meine Frau ass fantastisches Köttbullar und ich einen Burger mit Elchfleisch. Elon Musk pöbelte auf Twitter wegen des Anschlages in Magdeburg herum. Der Angreifer stammt aus Saudi Arabien. Zurück im Hotel machte die Nachricht die Runde, dass der Angreifer AfD-Fan ist und Elon Musk anhimmelt.
Am nächsten Morgen liefen wir hinauf zum Schloss. Wir nahmen wieder den Aufzug und stiegen von der Altstadt noch weiter einen Berg hinauf bis zu einer alten, imposanten Burganlage. So stellte ich mir als Kind immer das Grimm-Deutschland vor. Das Land des gestiefelten Katers, des Rattenfängers und des tapferen Schneiderleins. Während Disney die Märchen in einer Schloss-Neuschwanstein-Optik inszeniert, merkte ich heute, dass meine Märchen-Ästhetik eher an ein Schloss wie das Schloss Marburg angelehnt ist. Dunkel, aus Stein, mehr wie eine Wehranlage, weniger wie ein Traumschloss. Warum das so ist, weiss ich nicht, womöglich waren meine Kinderbücher eher mit diesen Hexenburgen bebildert.
Um 10:51 war Wintersonnenwende. Am Himmel hing aber eine dichte Wolkendecke.
Am frühen Nachmittag fuhren wir weiter nach Ulm. Es ist ein Deutschland, das mir sehr fremd ist. Im Mittelalter ist hier viel Geschichte passiert. Wir liessen uns von Google viele Dinge vorlesen, die uns in dem Moment interessierten. Konnte Google es nicht vorlesen, suchte meine Frau manuell danach und las es mir vor. Irgendwann landen wir in Serbien und Emir Kusturica. Wir spielten „Ederlezi“ auf Spotify. Von dem Lied aus „Time of the Gipsies“ bekomme ich immer noch Gänsehaut. Obwohl meine Frau und ich einander nicht kannten, liebten wir in den Neunzigern beide Kusturicas Filme. Meine Frau mochte aber „Black Cat white cat“ lieber. Zu „Underground“ haben wir beide gemischte Gefühle. Kusturica wurde in meiner Jugend von allen Kulturmenschen verehrt, bis er irgendwann abbog und sich dem serbischen Nationalismus verschrieb. Er macht immer noch Filme, sie scheinen das internationale Publikum aber nicht mehr zu erreichen. Meine Frau las Teile eines kürzlich geführten Interviews mit ihm vor. Natürlich liebt er Putin.
In Ulm quartierten wir uns in einem Hotel unweit des Bahnhofes ein. Laut Beschreibung befindet es sich im beliebten Dichterviertel. Die Strassen sind nach Goethe, Kleist und Schiller benannt. Gegenüber unseres Zimmers ist ein ganzer Strassenzug zugenagelt. Daneben Brachen und verlassene Gewerbebauten.
Wir gingen direkt in die Stadt zum Münster. Das Münster bezeichnete ich vorgestern fälschlicherweise als Dom. Das Ulmer Münster ist der höchste Sakralbau der Welt. So. Und Hamburg hat gleich 4 Kirchen in der Top 20 der höchsten Sakralbauten der Welt. Ja genau, der Welt. Haben wir alles gegoogelt.
So sieht das aus: