Nun ist meine Mutter wieder weg. Es waren ein paar schöne Tage. Aufgrund ihrer zunehmend starken Vergesslichkeit hätten wir diesen Besuch auch nicht mehr lange aufschieben können. In ihr Kurzzeitgedächtnis passt wirklich nicht mehr viel hinein. Manche Dinge fragt sie dreissig oder fünfzig Mal am Tag. Wie lange die Fahrt nach zum Flughafen dauert, wie lange ich schon in Berlin lebe. Dummerweise war sie immer die Checkerin in der Familie. Sie kümmerte sich um alles, hatte immer den Plan. Sie will immer noch alles wissen, wann wir das und das machen, was wie und wo. Sie stellt die Fragen immer noch unentwegt, weil das ihr Wesen ist, sie kann sich aber nichts mehr davon merken.
Ich ahnte, dass mich die Fragerei schnell reizen kann, deshalb griff ich dem vor und beschloss, geduldig zu bleiben. Manchmal gab ich aus Spass variierende Antworten. Der Flughafen war mal 30 Minuten entfernt, manchmal 3 Stunden. Drei Stunden fand sie allerdings schon viel.
Sie erinnerte sich nie daran, was wir am Vorabend gegessen hatten. Es war fast immer indisch. Dafür freute sie sich jedes Mal aufs Neue, wenn ich wieder indisch bestellte. Das könne sie immer essen, sagte sie, und es sei schade, dass es das in Südtirol nicht gäbe.
Sie erinnerte sich am Abend schon nicht mehr daran, was wir tagsüber machten. Ich spornte sie an, sich daran zu erinnern. Ich sage: Komm, lass uns üben. Ein bisschen wie ein Spiel. Ich sagte: Das kann man trainieren. Aber sie konnte nicht wirklich nicht sagen, ob wir tagsüber im Wald waren oder in einem Einkaufszentrum. Erst nach dem dritten Tag merkte ich, dass meine Fragerei sie betrübt.
Vermutlich wird sie in ein paar Wochen auch ihren Besuch vergessen haben. Vielleicht aber auch nicht.
Aber wir können eine schöne Gegenwart haben. Sie geniesst die schönen Momente, wenn die Sonne scheint, wenn wir ein bisschen plaudern, wenn wir einkaufen gehen oder im Café der Mall sitzen und uns eine Torte teilen. Heute hat sie den ersten Döner ihres Lebens gegessen. Dabei fotografierte ich sie und es gibt jetzt ein lustiges Foto, auf dem sie beim genussvollen Kauen die Augen schliesst. Ich postete die Bilder im Familienchat. Die Neffen lurken dort nur, sie schreiben nie etwas, aber beim Foto, auf dem die Oma ihren Döner geniesst, hoben sie Daumen und freuten sich.
Wenn sie die Wahlplakate sieht, fragt sie immer nach der Wahl. Von wem ich denke, wer die Wahl gewinnen wird. Sie fragt das ein paar Dutzende Male am Tag. Jedes Mal, wenn wir an Wahlplakaten vorbeigehen. Anfangs sagte ich ständig: Mama, wir hatten doch am Sonntag die Wahl. Wir hatten sogar die Wahlsendung zusammen geschaut. Sie weiss, wie vergesslich sie ist. Sie schämt sich dafür, schüttelt den Kopf, achja, verbirgt es ein bisschen. Im November sagte sie mir, dass sie in Gesellschaft schon nicht mehr gerne rede. Weil sie da immer diese Blicke der Leute bekomme. Da weiss sie, dass sie wieder etwas vergessen hat. Manchmal schauen die Leute einander an. Das sei schon nicht angenehm.
Mittlerweile sage ich immer: Ich glaube, der Merz wird es. Sie sagt: Ja, das könne schon sei. Und ich weiss genau, dass sie danach ihren kurzen Monolog über Scholz halten wird. Sie lacht dann jedes Mal und sagt, dass der immer ein bisschen wie ein kleines Robotermännchen herumlaufe.
Wir lachen dann beide über das kleine Robotermännchen Scholz.
Wir können es nicht mehr ändern. Ich kann ihr nur eine schöne Gegenwart geben. Für sie schöne Momente, für mich eine schöne Erinnerung. Es wird immer weniger davon bleiben.