[die Sache mit der Arktis]

Gestern Abend hatte es draußen sieben Grad. Das ist die sommerliche Durchschnittstemperatur in Longyearbyen auf Spitsbergen.

Nun. Ich muss vielleicht ein bisschen ausholen. Ich mochte den Nordern immer schon. Der Süden hat mich nie interessiert. In meiner südtiroler Jugend wollte ich immer in den Norden. Nach London, nach Amsterdam, nach Berlin, nach Kopenhagen, Irland, Schottland. Mit achtzehn bin ich dann ohne Job oder Plan in die Niederlande gezogen und fühlte mich sofort pudelwohl. Mitten im Winter. Im Laufe der Jahre habe ich aber verstanden, dass der Norden noch viel weiter geht. Ich zog nach Hamburg, später heiratete ich eine Schwedin, dann wollte ich den Polarkreis überqueren, den 66igsten Breitengrad passieren und sah, dass es da ganz weit oben immer noch Zivilisation gibt, viele Dörfer, kleine Städtchen, und Tromsö, das ist eine richtig große Stadt am 69. Breitengrad und dahinter kommt das Polarmeer. Hier würde man jetzt sagen: da hört die Welt auf.
Aber das ist natürlich nicht so, sonst würde ich es nicht schreiben.
Noch einmal 1000 Kilometer nördlich von Norwegens Nordküste taucht ein Inselarchipel aus dem Polarmeer auf, es trägt den Namen Svalbard, in einigen Ländern besser bekannt unter dem niederländischen Namen Spitsbergen.

Seit diesem Sommer ist mir die Existenz dieser kleinen Orte auf Svalbard erst richtig bewusst geworden und seit ich davon weiß, höre ich stundenlang Podcasts über das Archipel, darüber wie die Leute dort leben, in der nördlichsten Siedlung der Welt, in Longyearbyen. An manchen Tage erlaufe ich meine zehntausend Schritte mit Podcasts im Ohr und laufe dann einfach zehntausend Schritte weiter, ich kann doch nicht einfach die Geschichten über die Arktis aus meinen Ohren rausnehmen und mich zurück ins schnöde Mitteleuropa begeben.
Die Geschichten über die dunkle Jahreszeit, wie der Bewohner das Licht zelebrieren, wie die Orte beleuchtet werden, wie sehr sie doch alle die Dunkelheit zu lieben lernen, wie der Eisbär letzte Woche an den Dorfrand gekommen ist und einen Schuppen demoliert hat, über die Wahl des Bürgermeisters, über die Leute die den Sommer nicht mögen, weil sie dann nicht mit dem Schneemobil fahren können, etc etc.

Ich denke an nichts anderes mehr. Ich denke daran, wie ich unter der monatelangen Mitternachtssonne sitze und auf die schneebedeckten Fjorde starre oder in der langen Polarnacht an der Bar sitze und Karten spiele.
Jede Person kann nach Longyearbyen ziehen und dort leben. Longyearbyen, so heißt der Hauptort mit seinen 3000 Einwohnern. Die Inseln sind eine Visafreie Zone. Man muss sich nur selber finanzieren können. Es gibt dort Kneipen und Restaurants, Kitas, eine Uni, eine Feuerwehr, einen Dönerladen, eine Yogaschule, eine Kohlemine und eigentlich alles was man so braucht. Es gibt da sogar eine Brauerei. Meine Geschäftsidee ist somit leider bereits vergeben.

Weil mich seit Monaten nichts anderes als die Arktis interessiert, fällt es mir schwer, mich mit meinen Freunden zu treffen. Wenn es doch dazu kommt, finde ich immer Strohhalme um mich über das Leben in der Arktis zu unterhalten. Manche Menschen machen es mir leicht, wie der Taxifahrer, wenn er bei 12 Plusgraden sagt, “Puh, es wird wieder kalt”, dann kann er sich sicher sein, dass ich ihn mit Infos über den Permafrostboden in Nybyen überschwemme.
Im Winter ist zwei Monate lang Nacht. Pechschwarze Nacht. Keine Dämmerung oder so. Es gibt dann auch Schneestürme und die Temperatur ist eigentlich immer zweistellig. Also im Minus.

Viele Leute machen es mir aber schwerer um das Thema auf die Arktis zu lenken. Wenn ich in einer Runde mit Freunden sitze und der neue wilde Braunbär in Bayern angesprochen wird, dann sage ich: “Auf Spitsbergen gibt es Eisbären, die fressen nur das Fett der Robben, den Rest lassen sie liegen, deswegen gibt es in der Nähe von Eisbären auch immer Polarfüchse, und überhaupt, wenn man Polarfüchse sieht, kann man davon-”
Es erfordert ein wenig Trickserei, aber ich schaffe es immer.

Neulich traf ich mich mit einem Freund zum Mittagessen. Er sagte “Wollen wir gleich ein bisschen über Longyearbyen reden, damit wir das Thema abgehakt haben?”
Haben wir dann so gemacht. Danach fiel es mir leichter mich für seine Dinge zu interessieren.

Kinder sind die Dankbarsten. Kinder lieben es, wenn man über Eisbären oder Schneestürme redet. Außerdem kommen sie bereits mit einem gewissen Grundwissen daher, das vielen Erwachsenen entbehrt.

Auf der Innenseite des Rollos in meinem Arbeitszimmer habe ich die Bucht des Adventfjordes gezeichnet. In schwarz und weiß nur. Es ist nicht besonders gut gelungen. Aber so stelle ich mir die Aussicht meiner Wohnung auf Longyearbyen vor. Mit Aussicht auf den gefrorenen Adventfjord. Es tröstet mich und ist allemal besser als die Aussicht auf den Hinterhof.

Meine Frau verdreht schon die Augen wenn ich mit “Longye-” ansetze.

Auf meinem Desktop habe ich jetzt ein Applet installiert, das mir das Wetter von zwei unterschiedlichen Standorten anzeigt. Die eine Anzeige die nicht Berlin ist, zeigt schon seit einigen Wochen Minusgrade an. Heute sind es Minus 11. Immerhin bleibt die Temperatur den ganzen Tag über mehr oder weniger gleich. Tag und Nacht gibt es da ja nicht so.
Es ist dort aber nicht immer kalt. Im März geht die Sonne auf und ab April dreht sie am Firmament ihre Runden ohne unterzugehen.
Es wird dann auch 7 Grad warm.

Gestern Abend saß ich also auf meinem Sofa in Berlin. Ich schaute auf mein Handy und sah, dass es draußen 7 Grad hatte. Ich zog sofort die Schuhe an und ging hinunter um zu fühlen, wie er sich anfühlt, dieser Sommer in Longyearbyen. Ist voll OK.

17 Kommentare

  1. Toll. Das Vorhaben und die Träume davon. Hast Du schon eine richtige Schneebrille? Gutes Schuhwerk? Ein GPS? Ich glaube, das sind – abgesehen von Handschuhen – die wichtigsten Dinge. Wenn es kälter wird, kannst Du die alle in Berlin testen. Da gibt es sicher irgendwo ein Kühllager, wo man sich eine Weile drin aufhalten kann: https://www.youtube.com/watch?v=E04mflZ_c6Y
    Zudem würde ich unbedingt vorher lernen, wie man mit den Widrigkeiten der Wildnis umgeht. Also Eisbären dressieren und Robben schlachten. Guy Grieve hat vieles in seinem Buch “Call of the Wild” beschrieben. Ist nicht Arktis aber vielleicht trotzdem nützlich.

    • Liebe Frau ohne Flugangst!
      Ich bin natürlich topstens informiert und werde mich vorbereiten. So ein Kühllager ist toll. Einer meiner Jugendjobs war in einem Tiefkühllager. Für Lebensmittel. Müsste ich mal drüber schreiben.

  2. Faszinierend. Wollte schon immer in den Norden.

    Und die Musik zu den Träumen 🙂

    • Ja Polarlichter. Darüber hatte ich gar nicht geschrieben. Immerhin stehts jetzt in den Kommentaren 😉

  3. Die hiesigen Pfadfinder machen alle fünf Jahre eine Polarreise, immer abwechselnd Grönland und Svalbard. Der Gründer war dort mal für längere Zeit Touristenführer. Just in case.

    Das Ding mit dem Norden kenne ich. Je weiter man noch oben kommt, desto größer werden der Himmel und die Landschaft, unbeschreiblich.

  4. Ich war diesen Sommer in Longyearbyen und fand den Ort eher deprimierend. Bis 18 Uhr liefen Touristen der AIDA in den Geschäften rum, dann wurden die Bürgersteige hochgeklappt. Ehrlich gesagt, wenn ich dort fast vier (nicht zwei) Monate bei ständiger Dunkelheit leben müsste, würde mir das sehr schwer fallen. Es gibt auch andere schöne Gebiete im Norden, in denen noch Bäume wachsen und wo es im Winter -30 C windchill hat.

    Ich las mal folgendes Zitat über Longyearbyen: ”This place has been abandoned by God and should have been abandoned by mankind long ago.”

    • Jetzt downen Sie hier doch mal nicht so rum 🙂 Es könnte schließlich meine Euphorie bremsen.

      Dennoch ein paar Antworten:
      – Orte die von God abandoned sind: genau mein Ding.
      – Bäume. Ich hasse vertrage Bäume nur in kleinen Dosen.
      – Zu vier Monaten Nacht: Zwei Monate totale Dunkelheit die restlichen zwei Monate haben Dämmerung. Also alles nicht so schlimm.

      Aber ja, das Problem mit den Kreuzfahrtschiffen, das ist die Pest.

  5. Sie können ja dort das ein Jahr dauernde Studium zum “Arctic Nature Guide“ absolvieren, falls sich das einrichten lässt.

    Ich finde es nur paradox, dass (reiche) Touristen tausende Euros zahlen, um so unwirtliches Terrain zu erleben, während die Bewohner der kanadischen Arktis oft in maroden Häusern (Schimmel, kein fließendes Wasser) leben und die Suizidrate bei den Jugendlichen extrem hoch ist.

    Siehe auch:

    1) https://www.telegraph.co.uk/news/earth/11240949/Pond-Inlet-the-Inuits-new-struggle-for-survival.html
    2) https://www.theglobeandmail.com/news/national/death-suicide-rates-among-inuit-kids-soar-over-rest-of-canada/article4426600/
    3)https://www.cbc.ca/news/canada/north/canada-leading-global-study-on-inuit-suicide-prevention-1.2821665

    • Arctic Nature Guide. Die Tourismus-Branche ist nicht so meins 🙂 Dennoch würde man da natürlich viel lernen.

      Ich sehe, du kennst dich aus. Danke für die Links. Über die Probleme in Kanada (und Alaska) habe ich viel gelesen. Das ist natürlich zu komplex um es hier in einigen Kommentaren zu behandeln. Vieles hat da aber auch politische Ursachen die denen ähneln wie die Natives in den USA (bzw Kanada) behandelt werden.

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