[Mittwoch, 28.12.2022 – Unter Hundehalterinnen]

Dem Frauchen von Paule geht es nicht gut. Ich traf sie heute in der Strasse. Ohne Paule. Sie war auf dem Weg zum Arzt. Paules Frauchen ist eine alte, schwerhörige Frau. Wenn ich mit ihr rede, rede ich immer sehr laut und langsam und artikuliere meine Wörter. Meine Hündin verehrt sie, weil sie immer grosse Truthahnleckerlis bei sich hat und diese grosszügig an die Hunde in der Nachbarschaft verteilt.

Ich frage sie, was denn los sei.
Sie sagte, sie habe starke Gliederschmerzen und könne nur schlecht atmen.
Ich frage natürlich nach Covid, aber das verneint sie, sie sei in all den beiden Jahren immer negativ geblieben.
Sie vermute eher, dass sie zu wenig esse, sie nähme ja gerade ab, vielleicht ist das in ihrem Alter einfach nicht mehr so gut.
Ich sage, das stimmt sicherlich, aber sie brauchen doch gar nicht abnehmen, Sie sind ja nicht dick.
Darauf reagiert sich aber nicht. Vielleicht habe ich es nicht laut genug gesagt. Ich frage sie: trinken Sie denn genug? Auf das Trinken kommt es ja immer an.
Sie lacht auf. Ha. Natürlich trinke ich genug. Bei mir im Wohnzimmer sieht es aus wie in einer Kneipe.
Nein, sage ich, das meine ich nicht, eher Wasser.
Achso, ja, eine Bekannte hat mir zwölf Flaschen Selters und Apfelsaft gebracht. Das mische ich jetzt und trinke es.
Das ist sicher gut, sage ich, man soll ja zwei Liter pro Tag trinken, sagt man. Ich bin mir nicht sicher ob sie das hört oder eh schon weiss.
Sie schaut auf meine Hündin, die die ganze Zeit vor ihr sitzt und sie anhimmelt. Sie sagt zu meinem Tier, dass sie heute keine Leckerlis habe, sie sei auf dem Weg zum Arzt. Das Tier himmelt sie trotzdem an und leckt sich aufgeregt über die Schnauze.

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Am Nachmittag machte ich einen längeren Spaziergang mit einer jungen Frau. Unsere Hunde mochten einander, aber wie es immer so ist: wenn ich stehenbleibe, dann bewegt sich auch meine Hündin nicht mehr. Also fragte ich die junge Frau, ob sie eine Runde drehen wolle. Das ist unter Hundehalterinnen durchaus üblich, weil die meisten Hunde inaktiv werden, wenn der dazugehörige Mensch inaktiv ist. Wir drehten vier lange Runden im Park. Sie war dreissig Jahre alt und hatte kürzlich beschlossen, bewusst als Kellnerin zu arbeiten. Sie hatte Soziologie studiert, konnte sich aber nicht vorstellen, in einem Büro zu arbeiten, sie hätte auch etwas pädagogisches probiert, aber alles verworfen. Jetzt arbeite sie in der Kneipe. Sie sei ohnehin nachtaktiv und dort fühle sie sich gebraucht, sie hat eine Rolle, lernt viele Menschen kennen und kann Musik auflegen, die ihr gefällt. Mich überrascht es, da ich sie sehr klug finde und ein Job als Kellnerin wirkt auf mich unter ihrer Würde. Bevor ich das aber ausspreche, schäme ich mich für diese klassistische Betrachtungsweise. Als wäre es nur erstrebenswert, würdevolle Jobs auszuüben und als wären damit jene Leute, die solche Jobs ausüben, automatisch unter irgendeiner Würde. Ich finde die Begeisterung mit der sie über ihren Job redet aber ungemein sympathisch. Ich sagte, für mich wäre Kellner immer ein möglicher Plan B. Falls die Wirtschaft am Boden liegt und ich nicht mehr in meinem Beruf arbeiten kann, dann wäre eine Arbeit als Kellnerin immer eine gute Alternative. Mein einziges Problem sei der Alkohol. Ich glaube, ein Job als Kellner würde für mein Trinkverhalten nicht sehr förderlich sein. Sie sagte, für sie sei das kein Problem. Sie trinke nicht.