Für meine deutsche Staatsbürgerschaft brauche ich eine Geburtsurkunde. Keine Ahnung, wo man in Italien eine Geburtsurkunde beantragt. Deswegen rief ich auf der Gemeinde des Dorfes meines Vaters an. Zwar wohnte ich selbst in jenem Dorf nur drei Jahre lang, aber als ich aus Südtirol wegzog, blieb meine Familie dort permanent leben. Bis meine Mutter dreißig Jahre später auszog und sich in der Stadt niederließ, wo auch die Schwestern leben. Die Gemeinde ist sicherlich ein guter Startpunkt für die Suche nach meiner Geburtsurkunde.
Also rief ich dort an. Die Frau am anderen Ende der Leitung nannte ihren Namen. Es war die Tochter des Bauers unter der Hauptstraße, der Hof, wenn man nach der Kurve ins Dorfzentrum hineinkommt. Wir spielten früher oft Völkerball zusammen. Immer, wenn ich zu Besuch war. Wir waren zwölf oder dreizehn Jahre alt, damals wohnte ich noch nicht in dem Dorf, aber mein Vater begann, wieder Verbindungen zu seinem Geburtsort aufzubauen, also mussten wir die Wochenenden immer häufiger in diesem Dorf der unsympathischen Menschen verbringen. Ich hasste es. Ich hasste meine Cousins und damit hasste ich so ziemlich alles an den Aufenthalten dort. Die Cousinen, also die Mädchen, waren okay, aber die hatten irgendwie immer wenig zu melden, vor allem wenn die Jungs dabei waren. Wir spielten oft Völkerball oder dieses Spiel, bei dem man Kästchen mit Kreide auf den Asphalt malt und springen muss. Ich weiß nicht, wie das Spiel heißt. Allerdings habe ich auch nie die Regeln dieses Spiels verstanden, außerdem konnte ich auch nie nachvollziehen, was daran so spaßig war. Vielleicht waren die Regeln auch ganz einfach und ich suchte nur einen tieferen Sinn darin. Die Mädchen spielten das aber gerne und hatten sichtlichen Spaß dabei. Ich blieb immer lieber bei den Mädchen. Die Jungs fand ich scheiße. Aber ich sollte immer mit den Jungs was machen. Immerhin konnten wir uns auf Völkerball einigen. Das mochten die Jungs und auch die Mädchen.
Die Tochter des Bauers unter der Hauptstraße mochte ich sehr gerne. Wahrscheinlich mochte ich sie einfach, weil sie schön war. Sie hatte wasserblaue Augen und schaute immer etwas mysteriös. Das zog mich an. Schönheit löste bei mir oft Liebesgefühle aus. Es musste schön sein, jemanden mit solchen Augen zu lieben. Aber sie mochte nicht mich. Sie war immer sehr abweisend.
Als ich dann nach ein paar Jahren in das Dorf zog, hatten wir keinen Kontakt mehr. Auch nicht mehr mit den männlichen Cousins. Ich hasste das Dorf. Mit den Cousinen konnte ich hingegen gut. Eine von den Cousinen hörte gerne Punkmusik und machte gerne alberne und verbotene Sachen. Wir fanden naturgemäß zueinander. Die Tochter des Bauers unter der Hauptstraße schlitterte ein paar Jahre später in eine Anorexia Nervosa. Weiß nicht, wie sie das weggesteckt hat. Dass sie auf der Gemeinde arbeitete, wusste ich aber.
Als ich ihren Namen hörte, kam diese Erinnerung kurz hoch. Sie wusste sicherlich, wer ich war, sie reagierte aber ungerührt. In einer besseren Laune hätte ich sicherlich gesagt: „Hey, war immer schön damals beim Völkerballspielen.“ Das wäre lustig gewesen und ich hätte sie ein bisschen aus der Reserve gelockt. Ich war aber in keiner guten Laune. Auch nicht in einer schlechten Laune. Aber ich wusste, dass es ihr wahrscheinlich egal war. Und ich hatte keine Lust, den Clown zu spielen.
Danach googelte ich sie. Sie trägt wieder, oder immer noch ihren Mädchennamen. Es gibt genau ein einziges Foto von ihr im Netz. Sie hat noch diesen mysteriösen Blick. Aber sie sieht darauf aus wie Dreißig. Das Foto ist sicherlich alt.
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Das Hüpfspiel, das du meinst, dürfte wahrscheinlich Himmel und Hölle sein:
https://de.wikipedia.org/wiki/Himmel_und_H%C3%B6lle_(H%C3%BCpfspiel)