1: Bremen

Ich bin ein Weltmeister darin, aus meinen Fehlern nicht zu lernen. Man könnte meinen, ein Katastrophenkonzert wie damals im NDR würde sich nicht mehr wiederholen. Ganz im Gegenteil, ich beging wieder exakt dieselben Fehler.
So waren vor Anfang des Konzertes schon wieder meine Noten verschwunden. Dieses Mal hatte ich aber zugegebenermaßen mehr Glück gehabt, da ich es früher merkte, der Saal also nur mit einem halben Dutzend Leuten gefüllt und ich mich schnell auf die Bühne schleichen konnte. Beim dritten Mal werde ich es wohl gelernt haben.

Jedoch will ich mich gar nicht in den Details des Konzertes verlieren und nicht die italienische Sopranistin erwähnen, die in ihrem engen, roten Korsett und halb durchsichtigen Kleid beim Auftauchen auf der Bühne den Einsatz der Tenöre und Bässe vermasselte.
„Si ridesti il leon di Castiglia“ hätte es da tönen sollen. Laut und männlich geknödelt, so wie Verdi es wollte, aber nein, nein, bloß offene Mäuler, die die Knopflöcher der Korsage zählten. Witzigerweise, und das ist wirklich kein Scheiß, hatte der schwule Bassist im Chor als einziger den Einsatz nicht verpasst. Mutig sang er ganz alleine den Männerchor, bis der Rest aus der verträumten Zählerei erwachte und langsam, langsam in die Noten guckte.
Aber wie schon gesagt, das will ich ja gar nicht erwähnen.

Zu erzählen gibt es auch nichts über Bremen. Viel mehr als das Postgebäude, die Straßenbahn und einige umliegende Häuser habe ich nicht gesehen. Wie Hans-Georg im vorigen Eintrag schon kommentierte, bleibt bei sowas keine Zeit für Besichtigungen. Er hat Recht behalten.

Erzählen will ich nur von einer älteren Frau im Publikum. Sie saß in der siebten oder achten Reihe. Normalerweise würde mir sowas gar nicht auffallen, aber im zweiten Teil des Konzertes gab es vier Arien von Puccini und Verdi hintereinander, da hatte ich halt viel Zeit, in der Nase herumzubohren und das Publikum zu mustern.
Da war diese Frau, die schlief. Sie muss wohl alleine gewesen sein, sonst wäre sie wohl von ihrer Begleitung kurz angestoßen worden. Es sah ja nicht aus, wie sie da saß, schief im Sessel, den Kopf nach hinten und den Mund geöffnet. Eine Frau aus dem Sopran sagte nachher, sie hätte sie auch zittern sehen, so kurze, krampfartige Bewegungen. Wäre ja kein Wunder, der Pauker vom Krakauer Symphonieorchester war ja ein großer Bursche, aber selbst gesehen habe ich das nicht. Es wunderte mich nur, dass später, beim Trinklied aus „La Traviata“, wo das Orchester (und auch der Pauker) sich so richtig ins Zeug legten und zusammen mit unserem „godiamo, godiamo“ einen richtigen Krach produzierten, die Dame immer noch keinen einzigen Murks machte. Spätestens dann hätte sie sich doch bewegen müssen.
Nach dem Finale wurde zehn Minuten lang kräftig geklatscht, das Publikum stand auf, der Lärm schien ewig zu dauern. Die einzige Person, die sich nicht rührte, war diese ältere Dame in der siebten oder achten Reihe.
Das Publikum verließ den Saal. Ich war einer der Letzten, die von der Bühne abgingen, weil ich ganz hinten in der Mitte stand. Ich behielt die schlafende Dame im Blick, während sich alles um sie herum leerte. Weil sie immer noch keine Bewegung machte und gar nicht daran dachte, den Saal zu verlassen, ja wie denn auch, wenn sie von alledem nichts mitbekam, erregte sie die Aufmerksamkeit von einigen anderen Gästen, welche sich der schlafenden Dame annahmen. Ich sah bloß, dass man versuchte, sie erfolglos wachzurütteln. Das Treiben um die Dame wurde nervöser, man legte ihr Finger an den Puls. Der Saal war zu diesem Zeitpunkt schon fast leer. Automatisiert verließ ich die Bühne, weil ich dran war, abzugehen. In den Wirren der Gänge hinter der Bühne hörte ich dann Sirenen von Krankenwagen. Ich kleidete mich um, drehte mir eine Zigarette und verließ fünfzehn Minuten später das Gebäude an der Vorderseite. Dort standen zwei Krankenwagen. Die Blaulichter waren schon ausgeschaltet. Ein Zeichen, das ich aus meiner Kindheit kenne. Das bedeutet, dass jede Hilfe zu spät gekommen ist.
Eigentlich gar kein schlechter Tod, sagte eine Dame vom Alt, nachdem ich ihr die Zigarette angesteckt hatte und wir stillschweigend die Ankunft des Notarztes verfolgt hatten. Auch der ohne Blaulicht.
Da hatte sie wohl recht.

7 Kommentare

  1. „So waren vor Anfang des Konzertes schon wieder meine Noten verschwunden“
    was sich zweitet das drittet sich – also ist beim nächsten Konzert grosse Aufmerksamkeit angebracht 😉
    Gruss Rinaa

  2. Ihr habt sie totgesungen!
    (Bekanntlich gibt es diesen einen Oberton, erzeugt durch einen ganz bestimmten Verdi-Akkord, der Herzschrittmacher abschaltet.)

  3. Ich werde versuchen, heuteabend in Lübeck richtig zu singen. Ich will nicht noch mehrere schwache Damen auf dem Gewissen haben.
    Andererseits ist das die unschuldigste und schmerzloseste Sterbehilfe die momentan auf dem Markt ist.

  4. Wenn ich einmal Hilfe brauche, Herr Mequito, können Sie mich dann auch via Skype ansingen?

  5. Für Sie würde ich sogar eine wunderschöne Melodie zu „Kömm, oh Schlafes Bruder, kömm“ komponieren, werter Herr Kid.

Kommentare sind geschlossen.

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