[Freitag, 20.1.2023 – zwischen drei und fünf Uhr]

Ich schlafe so schlecht. Meist wache ich zwischen 3 Uhr und 5 Uhr auf und kann nicht mehr einschlafen. Statt mich im Bett zu wälzen, beschliesse ich aufzustehen, mir einen Kaffee zu kochen und mich an den Schreibtisch zu setzen. Dort lese ich Nachrichten oder öffne tausende Wikipediatabs oder schaue Pornos. Die Welt zwischen 3 und 5 befindet sich in einem seltsamen Leerlauf. Im Innenhof brennen selten Lichter. Meist nur von der Wohnung im Nachbarhaus, dort sieht es wie in einem Ton- oder Filmstudio aus. Man sieht ein Mischpult, Licht in verschiedenen Farbtönen, oft rot, und man sieht Stative. Und einen Schreibtisch mit mehreren Monitoren. Vielleicht ist es auch eine Influencerin, oder ein Star auf Onlyfans, ich habe aber noch nie Menschen in dem Fenster gesehen, obwohl ich einen grossen Bereich des Raumes überblicken kann. Es ist das Berliner Zimmer in jener Wohnung und ich schaue von meinem eigenen Berliner Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite hinein, ich habe also einen günstigen Blickwinkel. Aber ich stehe auch nicht lange an Fenstern um das Leben fremder Menschen zu beobachten.

Einmal vor ein paar Jahren im Sommer setzte ich mich mitten in der Nacht in den Erker und öffnete das Fenster. Es war so warm, dass ich wieder nicht schlafen konnte. Also hing ich eine ganze Weile mit ziemlich belanglosen Gedanken aus dem Fenster. Es muss wieder zwischen 3 oder 5 Uhr gewesen sein. Eher 3 als 5. Im Haus gegenüber, auf der anderen Strassenseite praktizierte eine Frau Yoga. Sie bewohnte die Wohnung ein Stockwerk tiefer, ich konnte also ihr ganzes Zimmer überblicken. Ich dachte mir nichts dabei, hegte auch keine voyeuristischen oder sexuellen Gelüste, ich hing nur schlaflos aus dem Fenster und schaute ihr beim Yoga zu. Ich wunderte mich gar nicht darüber, dass sie das mitten in der Nacht tat.
Sie muss mich dann gesehen haben. Obwohl sie sich in einem beleuchteten Raum befand und bei mir kein Licht brannte, ich hatte mich unsichtbar gewähnt. Vielleicht waren es die Laternen von der Strasse, die mich enttarnten. Sie kam ans Fenster und schaute zu mir hoch. Ich drehte mein Gesicht weg und starrte demonstrativ in eine andere Richtung, die Strasse hoch. Dann ging sie vom Fenster weg in ein anderes Zimmer und stieg auf den Balkon hinaus. Auch dort schaute sie zu mir hoch. Ich interpretierte es als Angriffslust, als Angriff beim Verteidigen ihrer Privatsphäre. Es hätte laut werden können, mit Gebrüll über die Strasse. Ich hätte es aber auch einfach auflösen können. Sorry sagen. Dass ich nur nicht schlafen könne. Keine übergriffige Absicht. Dass ich einfach ein bisschen in die Strasse hinein schauen würde. Stattdessen starrte einfach demonstrativ links die Strasse hoch.
Nach mehreren Minuten in dieser starren Position, ging sie wieder zurück in ihre Wohnung und zog die Vorhänge zu.

Im Haus gegenüber, aber in einem anderen Stockwerk sehe ich oft ein junges Paar, das sich umkleidet. Der Mann probiert meistens Hemden an. Er läuft in Jeans durch die Wohnung, entweder mit freiem Oberkörper, oder er knöpft sich gerade ein Hemd zu und betrachtet sich dabei im Spiegel. Die Frau läuft oft in Unterhose und BH durch die Wohnung. Manchmal auch im Unterkleid. Immer beschäftigt, als würde sie Kleider suchen. Aber nie ohne BH. Das wäre mir aufgefallen. Die beiden sieht man aber nur spät am Abend. Zwischen 3 und 5 schlafen sie, oder sie sind in Clubs.

Mich sieht man vermutlich in Unterhose in der Küche. Wenn ich mir zwischen 3 und 5 einen Kaffee koche. Die Menschen im Innenhof haben vollen Einblick in meine Küche. Wir haben dort keine Gardinen. Will meine Frau nicht. Ich laufe aber nicht völlig nackt an dem Fenster vorbei. Zumindest nicht, wenn drin das helle Licht brennt. Im Halbdunkeln schon, vor allem muss ich an dem Fenster vorbei wenn ich ins Badezimmer will. Dabei habe ich nicht immer einen Bademantel an.