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Über diese Vernetzung und Omnipräsenz der webzweinull-Communities bin ich wieder mit ganz alten Freunden und Bekannten aus meiner Kindheit in Kontakt gekommen. Ich habe es in den Anfangszeiten dieses Blogs einmal erwähnt, dass ich in einem kleinen Dolomitendorf aufgewachsen bin, in dem man Rätoromanisch spricht. Das ist ein übriggebliebener lateinischer Dialekt, den man damals, zur Römerzeit, und auch später noch, im gesamten Alpenraum sprach, bis das Latein aus politischen Gründen ausstarb und durch Französisch, Deutsch, Italienisch und Slawisch ersetzt wurde. Bis auf die paar gallischen Dörfer. Die paar Täler in den Dolomiten und der Schweiz, die geographisch dermaßen isoliert waren, dass sich die Sprache über die Jahrhunderte hinweg konserviert hat. Das Rätoromanische in den Dolomiten nennt sich Ladin. Ich bin ladinisch aufgewachsen, das heisst, dreisprachig natürlich, weil die amtliche Sprache italienisch ist, meine Eltern Südtirolerisch sprechen, aber mein sonstiges gesamtes sozialen Umfeld eben ladinisch sprach. Ladinisch war meine Alltagssprache. Ich dachte auf Ladinisch, ich träumte auf Ladinisch, und um es vollends zu verkitschen: ich schrieb sogar meinen ersten Liebesbrief auf Ladinisch.
Als ich vierzehn war, zog meine Familie weg, in Richtung Bozen, berufliche Gründe meines Vaters; ich stand mitten in der Pubertät, ich hasste es, meine ganze Welt wurde mir genommen, und seitdem hatte ich, bis auf wenige Ausnahmen, kaum mehr ein ladinisches Wort gesprochen.

Bis jetzt eben die webzweinull-Communities kamen. Und ich der Gruppe “Ladins” beitrat. Neulich schrieb mich eine junge Frau an: Hey, auch ich bin Ladinerin und wohne in Berlin. Lust auf einen Drink?
Ich hatte Lust auf einen Drink.
Vorgestern trafen wir uns also in der Weinerei in der Griebenowstraße, nahmen einen Drink, und ich stockte und hakte. Es war sehr fremd und ungewohnt, und schwierig vor allem, nach mehr als zwanzig Jahren Ladinisch zu reden, Konversation in einer Sprache, die einmal meine Alltagssprache gewesen ist. Die einfachsten Wörter fielen mir nicht ein, dauernd bat ich mitten im Satz, auf Deutsch, nach Hilfe: »Woche?« »Edema« »Naturalmënt, Edema! […]« und sofort tauten die einzelnen, erfragten Wörter aus den hintersten tiefgekühlten Weiten meines Gedächtnissen wieder auf, die so gut konserviert gewesen sind, dass regelrecht die Gerüche zu den Wörtern mit auftauten, sie sagte in einem Satz »Lüsa« und eine Erinnerung fing an aufzutauen, ich fragte »Lüsa?«, ich wiederholte: »Lüsa? Schlitten?«, sie nickte und ich sah mich als kleinen Jungen den Schlitten über die kleine Holzbrücke des Baches ziehen, während mir der Duft der Fichten auf der anderen Seite des Baches entgegenwehte. Blöder Psychoscheiß, das, aber schon Okee.

Ein Kommentar

  1. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich keine Ahnung hatte, dass Rätoromanisch auch ausserhalb Graubündens gesprochen wird. Als Kinder schauten wir im Fernsehen – es gab bei uns damals nur die drei Sender der Deutschen-, Französischen und Italienischen Schweiz – einmal pro Woche die Istorgia da buna notg statt das Schweizerdeutsche Guetnachtgschichtli.

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