Nach getaner Arbeit fährt mich einer der italienischen Kollegen zum Bahnhof. Ich kann mich noch erinnern, dass der Bahnhof einmal ziemlich modern vorkam. Da war ich siebzehn und musste ins Militärkrankenhaus nach Verona, zur Musterung. In Trento galt ich als schwieriger Fall (“Meine Stimmen sagen mir, dass ihr alle Faschisten seid”), also schickte man mich zu den Spezialisten nach Verona. Aber das ist eine andere Geschichte. Den Bahnhof nahm ich damals als groß und hell wahr. Ich bringe das mit dem heutigen Bahnhof nicht mehr in Einklang, er ist nämlich eng und dunkel. Ich weiß nicht, was ich damals gesehen habe. Verona ist jedenfalls eiskalt und ich muss eine Stunde auf meinen Zug nach Mailand warten. Ich stelle mich in eine Ecke der Halle und warte einfach. Ich kann ziemlich gut warten. Ich stelle mich einfach in eine Ecke und schalte mein Innenleben an. Dann vergeht die Zeit. Eigentlich warte ich sogar ziemlich gerne. Das Reisen hat mir zugesetzt, ich sehe mitgenommen aus, rasiert habe ich mich seit sechs Wochen nicht mehr, mein Haar ist keine Frisur, meine Lederjacke habe ich mir bis zum Kinn hochgezogen, ich gucke müde, ich gucke wie jemand der wartet. Vor allem sehe ich aber aus, wie jemand der nicht angesprochen werden möchte. Das sehe aber offenbar nur ich so. Zuerst vertraut sich mir ein junger Inder an, der den Fahrplan nicht versteht. Er möchte nach Venedig, er hat auch eine Karte gelöst (Regionalbahn mit tausenden Stopps), er weiß jetzt aber nicht mehr weiter, er kann kein italienisch und ich nehme an, das Bahnpersonal konnte kein englisch. Ich nehme ihn mit zur Anzeigetafel, finde seinen Zug und Gleis und weise ihm den Weg. Als er geht, stelle ich mich einfach an die nächstbeste Wand und mache wieder das, was ich eine ganze Stunde lang machen wollte: warten.
Dann kommt eine sehr junge Frau. Sie ist vielleicht zwanzig, sehr dünn, Rehaugen, Brünett, Rehblick, grazil, ich würde sagen, sie ist sehr schön. Sie stellt sich mit ihrem roten Koffer vor mir und fragt mich, ob ich wisse, welcher Zug nach Bozen fahre. Ich zeige auf die Tafel und sage, das ist der Zug um 19:12 nach Brenner. Sie fragt: Brenner? Ich sage, ja, Brenner. Sie schaut ungläubig. Ich gebe mich freundlich, sage, ich weiß das, ich bin in Bozen geboren, keine Sorge also. Sie lächelt erleichtert. Dann bleibt sie vor mir stehen. Es ist eiskalt im Bahnhof, der Wind zieht durch die Halle. Auch die junge Frau hat den Kragen bis zum Kinn hochgezogen. Sie bleibt da einfach stehen. Ich gebe mich betont uninteressiert. Mir ist es unangenehm, mit einer grazilen, jungen Frau das Gespräch zu suchen. Es könnte als Flirt missverstanden werden, könnte es das nicht? Junge, schöne Frauen werden ja ständig angequatscht, sie gelten als Maß des Begehrens, jeder will was von ihnen, jeder sucht so etwas wie Bestätigung von ihnen. Wäre ich eine junge, schöne Frau, würden mir Männer vermutlich wie Haare aus den Ohren wachsen.
Sie stellt ihren roten Koffer schräg vor mir und sie steht daneben. Sie schlottert. Es ist kalt. Eiskalt. Habe ich das schon gesagt? Sie hat auch einen Schal an und Handschuhe. In Verona hat es -4 Grad. Ich schaue auf mein Handy, in Berlin misst es sieben Plusgrade. Verrückte Welt. Je mehr sie schlottert, desto kälter wird auch mir, ihr Schlottern geht sozusagen direkt in mich über. Dabei habe ich mich so erfolgreich coconmäßig in diese Ecke des Bahnhofes gestellt. Wie sie so offensiv vor mir steht, kommt mir das Gefühl auf, als läge die Schuld für ihre blöde Situation bei mir. Sie gibt mir keine vorwurfsvollen Blicke, aber das Gezittere macht etwas mit mir. Ich überlege, sie auf ein Café an der anderen Seite des Durchgangs hinzuweisen. Dort ist es wärmer. Andererseits ist das Café dermaßen versifft, dass sie es möglicherweise als Zumutung empfindet. Ich weiß es auch nicht, deshalb lächle ich sie an und sage: freddo. Das bedeutet kalt. Sie antwortet: freddissimo. Das ist eine Steigerung davon. Ich sage: freddissimissimo. Das Wort gibt es nicht, aber dem Klang nach ist es eine Steigerung der Steigerung. Ein Witz aus meiner Kindheit, ich weiß nicht, ob der Witz noch ankommt, erst recht nicht bei jungen Frauen, wenn ältere Männer sie aussprechen. Sie lächelt. Ich schaue auf mein Telefon, lese Nachrichten, meine rechte Hand wird kalt. Mir ist es egal.
Zwanzig Minuten vergehen, sie hat sich nicht von ihrer Stelle bewegt, dann fragt sie, ob ich auf ihren Koffer auspassen könne, sie müsse die Fahrkarte entwerten. Ich sichere ihr zu, dass ihrem Koffer nichts passiert. Als sie zurückkomt, fragt sie nach meinem Namen, dann frage ich sie nach ihrem. Sie fragt, ob ich nach Bozen fahre, ich verneine, ich fahre nach Mailand. Dann reden wir über Herkunft und Wohnorte. Sie kommt aus Elba, sie will wissen, wo ich meinen Meerurlaub verbringe. Ich sage, wenn du aus Elba kommst, dann willst du das nicht wirklich wissen. Sie sagt, sie wolle das unbedingt wissen, ich sage, da liegt im Winter Schnee auf dem Strand. Erst sagt sie: oh. Dann sagt sie, das sei bestimmt lustig. Wir geraten in ein nettes Gespräch, sie erzählt mir aus ihrem Studentenleben und warum sie nach Bozen fährt, ich erzähle ihr etwas über Bozen und aus meinem Leben in Berlin. Uns wird warm. Dann ist es plötzlich, patzbumm, 19:03. In einer Minute fährt mein Zug. Ich schrecke auf, sage, ich muss zu den Gleisen, wir versichern uns, dass es uns gefreut hat, einander kennenzulernen und ich laufe zu den Gleisen. So. Das war’s.
Schön, sowas.
Ich mag Ihre Art zu erzählen sehr. Manchmal denke ich, schade, dass Sie nicht mehr schreiben, aber dann finde ich, nein, das ist genau richtig so. Immer von Neuem unvermutet und überraschend in meiner Leseliste. Danke.
Vielen Dank.