Mein sechsjähriger Patensohn war in Berlin zu Besuch. Nachdem sich das Schloss an seinem Koffer nicht mehr öffnen ließ, musste ich zu jenen Methoden greifen in denen ich viel Übung habe und knackte den Schließmechanismus schließlich mit einem Brechstängchen. Der Koffer war somit natürlich hin.
Als wir später im Kaufhaus standen ließ ich ihn kurzerhand einen Koffer aussuchen, den ich ihm dann kaufte. Er wählte einen kleinen Koffer mit vier Rädern und einem Eisbären vornedrauf.
In den Stunden danach war er wie verzaubert von diesem Koffer. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich so intensiv mit einen Koffer beschäftigte. Wir waren zu dritt in der Stadt unterwegs, mit seiner Mutter, also meine Schwester. Er lief ständig mit seinem Koffer neben uns her. Oft lief er voraus und kniete sich hin um den Koffer zu öffnen und wieder zu schließen bis wir ihn wieder eingeholt hatten. Jede Pause nutzte er um Dinge darin zu verstauen und daraus wieder hervorzunehmen. Waren die Bodenbedingungen gut (Kaufhäuser) verwendete er den Koffer als Vehikel auf das er sich Rollen ließ oder es wie einen Rollator benutzte indem er sich darüber bückte und sich vorwärts schob.
Beruflich bedingt muss ich oft einschätzen ob jemand selbstständig arbeitet oder ob ich die Qualität der Arbeit kontrollieren muss. Mein sechsjähriges Patenkind schätzte ich gleich als Profi ein. Ihn und seinen Koffer brauchte ich nicht zu kontrollieren.
Wir waren dann im weitläufigen Untergrund am Alex, kauften Blumen und eine Zeitung, und beide mussten wir noch zum Geldautomaten. Es war Samstagnachmittag, im Untergrund wimmelten die Menschen. Als wir danach auf die Ubahn warteten sah ich zu meinem Patenkind hinunter. Er strahlte mich an. Was mir aber auffiel: mein Patenkind war kofferlos. Und irgendwo war ein Koffer herrenlos.
In diesen Zeiten des Terrors ist ein Kofferverlust nicht bloß ein Kofferverlust sondern man bringt auch die Zivilisation aus dem Lot. Ich erzählte meiner Schwester wie eine Woche vorher der Bahnverkehr eine Stunde lang zum Erliegen kam. Der Grund, ja genau, ein herrenloser Koffer am Alex. Ich fragte den kleinen Jungen wo der Koffer sei. Er schaute zuerst auf den Boden und schlug sich danach die Hand vor den Mund.
Keine gute Sache.
Das Ende der Geschichte lasse ich jetzt aber weg. Nur so viel: am Abend aßen wir Nudeln mit Pesto und hatten alles schon vergessen. Das ist immer ein schönes Bild am Ende. Essende Leute, sorglos am Tisch.