Es lebt wieder eine verliebte Nachtigall in unserem Innenhof. Letztes Jahr war auch schon eine da. Und auch im Jahr davor. Dieses Jahr fing das mit der Verliebtheit schon Ende März an. Meist beginnt die Nachtigall gegen Mitternacht mit ihren dopamingetränkten Triolen. Danach geht es die ganze Nacht lang. Die ganze Nacht lang.
Ich versuche immer vor Mitternacht eingeschlafen zu sein. Oft gelingt es mir aber nicht rechtzeitig. Manchmal werde ich von ihr geweckt. Ich kann dann nur schwer wieder einschlafen. Insbesondere seit ich weiß, dass Nachtigallen einen komplexen Gesang haben, seitdem liege ich nur noch mit offenen Augen da und denke mir: komplexer Gesang, komplexer Gesang, komplexer Gesang. Ich weiß auch schon was die diesjährige Nachtigall von der Letztjährigen unterscheidet. Die Neue hängt nach jedem zweiten Vers eine etwas exzentrische Moll-Kadenz hintendran. Das machte die andere nicht, die trällerte aber hinter jedem Satz ein hohes Schleifchen, wie wenn man ein „W“ zeichnet und hintenraus ein kapriziös verziert.
Letztes Jahr habe ich die Nachtigall einmal aufgenommen. Mitten in der Nacht stellte ich ein Nierenmikrophon ins Fenster und schnitt etwa zwei Minuten lang mit. Danach stellte ich die Boxen ins Fenster und spielte es ihr vor.
Ich weiß nicht, was ich mir von der Aktion genau erwartet hatte, vielleicht, dass es sie verwirrt und einen Konkurrenten um den Nestbau wittert, der sie mit den eigenen künstlerischen Fähigkeiten zu übertrumpfen versucht, eine plagiierende Nachtigall sozusagen, die es aufzustöbern und aus dem Werttbewerb zu kicken gilt. Ja, vielleicht erhoffte ich mir einfach, dass sie etwas anderes macht als ihre Verliebtheit in den Innenhof herumzuträllern. Ich wollte schließĺich schlafen.
Sie zwitscherte aber einfach weiter. Unbeirrt. Das hatte mich schon etwas ratlos gemacht. Dass sie so überhaupt nicht darauf reagierte. So viel Aufwand betrieben um komplett ignoriert zu werden, das war ich nicht gewohnt.
In unserem Haus haben wir einen Emailverteiler. Ich weiß nicht ob es vernünftig ist, die Nachbarn wegen der Nachtigall anzuschreiben. Das kann auch nach hinten losgehen. Eine Nachtigall zu verschmähen ist vermutlich eine ähnliche Kategorie Kinderfresser zu sein.
Immerhin habe ich nie „Ruhe“ in den Hof hineingeschrien, wie andere Leute das machen, wenn Menschen im Sommer zu laut, achtung, vögeln. Insofern bin ich auf meine seltsame Aktion mit den Lautsprechern im Nachhinein schon ein bisschen stolz.
Wenn ich nach zwei Stunden immer noch nicht schlafen kann, dann ziehe ich mein Schlaflager auf die Straßenseite der Wohnung um. Von der Nachbarin auf der anderen Seite weiß ich, dass in deren Innenhof Krähen leben. Sie beneidet mich um die Nachtigall, ich beneide sie um die Krähen. Immerhin gibt es in Berlin kaum noch gurrende Tauben, das ist eine gute Sache, darin sind wir uns einig.
Lese Ihr Blog sehr gerne. Vor nicht so langer Zeit entdeckt 🙂
Danke und Willkommen.
Danke (:
ich kenne noch einen berliner hinterhof mit gurrenden tauben. ist aber nicht mein hinterhof, ich habe hier keinen. ich bin da auch nicht mehr, wo die tauben gurren. in diesem anderen hnterhof, also keine tauben. keine nachtigallen. nur krähen, ganz früh.
Krähen halten die kleinen Vögel fern, sagt die Nachbarin mit der Krähe. Immerhin gut gegen verliebte Nachtigallen. Wenn man keine verliebte Nachtigallen mag.
Haha, großartig! Und die Innentüren der Wohnung auf und die Fenster, und man hört Nachtigall-Krähen-Stereo…
Was steht denn auf den hundert Blättern der Rose all?
Was sagt denn tausendfaches Schmettern der Nachtigall?
Auf allen Blättern steht, was stehet auf einem Blatt;
Aus jedem Lied weht, was gewehet im ersten hat:
Dass Schönheit in sich selbst beschrieben hat einen Kreis,
Und keinen andern auch das Lieben zu finden weiß.
Drum kreist um sich mit hundert Blättern die Rose all,
Und um sie tausendfaches Schmettern der Nachtigall
Friedrich Rückert