[Brautführung]

Meine Schwester wollte, dass ich ihr Brautführer sei. Es ist mir eine große Ehre, meine Schwester bis zum Altar zu begleiten.

Weil ich bereits seit vielen Jahren nicht mehr in Südtirol lebe und ich in meiner Jugend auch nie sonderlich ein Freund der Traditionen gewesen bin, weiss ich allerdings nicht genau, was ein Brautführer ist. Ich weiss, was ein Trauzeuge ist und ich weiss, was ein Pfarrer ist, beim Brautführer bin ich mir nicht ganz so sicher. Aber alle sagten: oh du bist der Brautführer, schön. Zwinkerzwinker.

Das Zwinkerzwinker beunruhigte mich ein wenig, ich wollte aber nicht als Unwissend dastehen und beschloss, ruhig zu bleiben, ich würde es schon im Laufe der Zeit erfahren.

Ich nehme meine Pflicht als Brautführer selbstredend ernst und fragte daher Monate im Voraus, was ich dafür tun müsse. Ich erfuhr, dass ich drei Aufgaben hätte:

– den Brautstrauß bewachen

– die Braut beschützen

– die Braut dem Bräutigam übergeben

Die Aufgaben klangen einfach. Von der Nachbarin meiner Mutter erfuhr ich beiläufig, dass auf Hochzeiten oft diese bescheuerten Traditionen ausgeführt würden. Dass Freunde, Bekannte oder Kollegen Hindernisse aufstellen würden, wo das Ehepaar Aufgaben zu erfüllen hätte. Eine andere Tradition sei beispielsweise die Entführung der Braut. Da werde einfach die Braut entführt und der Brautführer müsse sie wieder finden, um sie dem Bräutigam zu übergeben. Blöde Spässchen. 

Ich hob meine Augenbrauen und schaute etwas besorgt meine Schwester an. Sie holte weit mit dem Arm aus und sagte: Weg mit dem traditionellen Scheiß, ich will heiraten!

Meine Schwester wohnt seit Jahren in Wien, sie kennt die Traditionen ja selber nicht mehr.

Ich liebte meine Schwester und war beruhigt.

Als mein Vater davon erfuhr, dass das Ehepaar nichts mit diesen Traditionen zu tun haben wollte, regte er sich auf. Was für eine Hochzeit das denn bitte sei. Keine Böller, keine Straßensperren, er schüttelte den Kopf, und nicht mal eine Entführung. Er fragte, wofür sie dann überhaupt heiraten wollten.

Am Tag der Hochzeit bin ich ständiger Begleiter meiner Schwester. Wir gehen zur Stylistin Renate. Meine Mutter ist dabei, meine kleinere Schwester, auch die Trauzeugin. Es ist unterhaltsam. Auch mein Vater kommt vorbei. Ich begleite ihn auf eine Zigarette vor dem Salon. Dort steckt er mir die Info, dass auf den anderen Teil der Familie Verlass sei, es werde nämlich für eine Brautentführung gesorgt. Er hält sich den Finger vor dem Mund, ich solle darüber aber schweigen. Ich sagte: aber eine Entführung sei ja auch schlecht für mich. Er sagte, ich müsse nur die Braut finden und alle Rechnungen zahlen. Ich frage, wie meinst du, ich muss die Rechnungen zahlen?

Er erklärt mir den umständlichen Part, dass die Braut und die Entführungsgesellschaft in die Kneipen und Bars ginge, sich betrinke und dann die Zeche prelle. Die Rechnung müsse dann ich begleichen.

Was? Ich?

Ja genau. Der Brautführer. 

Warum der Brautführer?

Weil das so ist.

Im Salon der Frisörin erzähle ich meinen Verbündeten, vom vermutlich bevorstehenden Akt. Die Braut greift sich an die Stirn. Wie furchtbar das doch sei. Sabine schlägt vor, die Entführung selbst in die Hand zu nehmen und mit der Braut ein paar Schnäpschen zu trinken. Die Braut säße schließlich bei uns im Auto und könne daher nicht von Dritten entführt werden. Den Frauen gefällt die Idee und mir sowieso. Ich bin richtig begeistert.

Es wird Nachmittag. Die Ringe werden getauscht, es wird gesungen, geweint und es gibt Vorfreude auf das Essen. Auf dem Weg von der Kirche ins Gasthaus spricht mich der Trauzeuge des Bräutigams an, offenbar hätten sich die Frauen zusammengetan um die Braut zu entführen. Er wolle mich nur warnen, ich sei ja der Brautführer. Zwinkerzwinker. Ich zwinkerzwinkere siegesgewiss zurück und verrate ihm, es sei schon vorgesorgt, die Braut werde von ihrer Trauzeugin und mir persönlich entführt. Er lacht, und sagt, das sei auch nicht schlecht.

Etwas später kommt die Trauzeugin Sabine und ich schlage vor, mit der Entführung bis fünf zu warten, damit wir noch in Ruhe ein paar Grappas nehmen könnten. Sie sagt das ginge nicht, und ich frage, warum das denn nicht ginge und sie sagt, weil sie gleich nach dem Essen mit den anderen Frauen die Braut entführe.

Ich bin zuerst verwirrt, also frage ich, wie meine Rolle darin aussähe. Das wüsste sie auch nicht, aber das sei dann wohl so, dass ich sie suchen müsse.

Ich glaube der Sache noch nicht so recht, belächle die Situation und erzähle es meiner Schwester, der Braut. Sie ist sehr beschäftigt, umringt von Menschen, die mit ihr reden wollen, ich bin aber etwas beunruhigt und drängle mich dazwischen. Ja, davon habe sie auch gehört, ja, schon verrückter Plan, sie lächelt Tanten an und nimmt Geschenke entgegen. Ich setze mich erstmal an den Tisch, trinke ein Bier.

Zwischen dem dritten und dem vierten Gang hole ich mir Hilfe vom Bräutigam und seinem Trauzeugen. Ich weihe sie ein. Ich würde natürlich alles dafür tun, dass die Braut erst gar nicht verschwände, aber es erschleicht mich das Gefühl, dass wir zu dritt gegen zwei Dutzend Frauen ziemlich machtlos sind. Und die Braut nähme die Situation nicht sonderlich ernst. Falls wir es nicht verhindern können, soll mich der Trauzeuge fahren und der Bräutigam soll im Wagen sitzenbleiben bis ich ihm seine Holde bringe.

Sie nicken beide. Sie nicken ein bisschen nachdenklich, aber sie nicken immerhin.

Nach dem Essen werde ich von meiner zukünftigen Schwippschwägerin Eva eingeweiht. Eva ist der Kopf der Entführung. Sie senkt ihre Stimme und sagt, in einer Viertelstunde ginge es los. Ich müsse dann ein bisschen wegschauen.

Wiewas wegschauen? 

Sie lacht mich aus, das ist so.

Alles ist immer so. Ich bin der Brautbeschützer und nun sagt man mir, in jenem kurzen Augenblick, in dem ich meiner Pflicht als Brautführer nachkommen muss, einfach wegzuschauen.

Ich bin stinkig. Ich gehe zu den Männern. Sie wissen auch nicht so genau, wie mit der Situation umzugehen sei. Sie kennen aber die Regeln.

Was ich mir diesmal merke: Es geht eigentlich nur um den Brautstrauß.

Eine Braut ohne ihren Strauß ist praktisch wertlos. Ich bin erleichtert.

Ich kann mich erinnern, dass die Bewachung des Brautstraußes zu den der drei wichtigen Regeln gehörte.

Weil sich alle an der Schnapsbar und in der Raucherecke tummeln, betrete ich den leeren Speisesaal und im leeren Speisesaal sehe ich den Brautstrauß auf dem Tisch liegen. Kurz überfliegt mich ein Schuldgefühl: der Brautstrauß, Du hast den Brautstrauß aus den Augen verloren. Doch der Überflug ist von kurzer Dauer, ich lasse den Brautstrauß hinter der Gardine verschwinden.

Danach bestelle ich an der Bar einen Verdauungsschnaps.

Beim zweiten Verdauungsschnaps betritt meine Mutter das Wirtshaus und verkündet stolz, die Braut sei entführt. Eigentlich hatte ich erwartet, dass die Frauen aufgeregt den Strauss suchen. Die siegessichere Verkündung meiner Mutter überrascht mich allerdings. Daher checke ich im Speisesaal die Gardinen. Die Brautstrauss ist nicht mehr da. Ich rufe den Bräutigam und seinen Zeugen. Wir müssen los. Doch die anderen Männer weisen mich an, mich zu setzen. Man müsse ihnen eine Viertelstunde Vorsprung geben.

Eine Viertelstunde Vorsprung?

Ja, eine Viertelstunde Vorsprung.

Ich lasse mir wieder von den Männern die Regeln erklären.

Was ich mir merke: Das müsse so sein.

Ich schaue aus dem Fenster und sehe einen Konvoi mit weißen Blumen und Schleifen auf den Autos vorbeirasen.

Mein Vater springt aufgeregt von der Terrasse in den Schankraum: sie sind Richtung Andrian gefahren!

Er ist aufgeregt wie ein Zwanzigjähriger. Er will wissen, wer mich fährt, und erwähnt, wie lächerlich das sei, ein Brautführer ohne Führerschein, was für eine lächerliche Brautentführung. Er schüttelt den Kopf. Ich antworte ihm, der Trauzeuge des Bräutigams würde fahren und der Bräutigam käme mit.

Das ginge ja gar nicht, sagt Vater. Der Bräutigam hat bei der Entführung nichts zu suchen. Der muss warten bis ihm die Braut gebracht werde, basta.

Dem Bräutigam scheint diese Idee zu gefallen. Ich beobachte wie mein Vater geschickt meinen mühsam aufgebauten Rettungstrupp demontiert. Seine jugendliche Aufgeregtheit läßt mich schlimmes ahnen. Er fragt den Trauzeugen nach seinem Auto. Dieser nennt den Hersteller.

Langsame Blechbüchse, sagt mein Vater, damit kommt man doch nirgendwo hin.

Er fuchtelt mit den Händen und sagt: Komm Sohn, ich fahr dich.

Mir graut es. Ich hebe meinen Arm, um dem Trauzeugen feierlich auf die Schulter klopfend zu sagen: Neinnein, wir beide machen das schon.

Doch als ich dazu ansetzen will, strahlt dieser erfreut und sagt, das sei schön, dann könne er ja noch einen Schnaps trinken.

Also formt mein Vater das Team. Ich soll die Rechnungen bezahlen und Marco, der Freund meiner anderen Schwester soll mitfahren. Aufs Auto aufpassen oderso. Marco, Sizilianer, spricht kein einziges Wort deutsch, sagt sicherheitshalber: Ja.

Der kleine Jakob ruft aufgeregt: darfichauchmitdarfichauchmit?

Dann ist die Vorsprungsviertelstunde auch schon vorbei und wir steigen in Vaters Auto. Er tritt aufs Gaspedal und wir quietschen in Richtung Andrian. In Andrian gibt es das Wirtshaus “Zum Schwarzen Adler”, dort wo wir uns nachher zum Kuchenschneiden und Schnapstrinken treffen sollen. Der Bräutigam und die anderen Männer, würden uns später dort erwarten. Die Männer scheinen sich nicht sonderlich für die entführte Braut zu interessieren. Sie nippen am Bier.

Mein Vater trägt einen großen, schwarzen Hut. Das sieht bei ihm total daneben aus. Er flucht über die Entführerinnen: keine Anhaltspunkte haben sie gegeben… was für eine dämliche Entführung… die können jetzt ja überall sein… ja gar bis nach Bozen gefahren… Na-Na… die sollen es sein lassen, wenn sie nicht wissen wie das geht…

Ich sage, der Hut sähe komisch aus. Er hört es nicht. Und dann tritt er auf die Bremse.

Am Ortsausgang steht ein Gasthaus, ich muss hineingehen und fragen ob die Braut dagewesen sei. Der kleine Jakob ist schon aus dem Auto gesprungen und wartet auf mich bei der Gasthaustür. Ich steige aus, fühle mich ein wenig seltsam mit meiner Blume am Revers und betrete das Gasthaus. Jakob folgt mir. Am Tresen stehen ein gutes Dutzend halbleerer Sekt- und Schnapsgläser. Die Wirtsfrau kommt, lächelt müde und sagt zu mir: das macht einundvierzig Euro. Und fügt hinzu: ich müsse alle halbleeren Gläser austrinken bevor ich weiter dürfe. Das habe sie als Auftrag bekommen. Austrinken ist leicht. Der kleine Jakob ist sieben und fragt mich ob er die Sektgläser mit austrinken darf. Seine Mutter gehört zu den Entführerinnen. Deshalb sage ich: ja.

Zurück im Auto fragt mein Vater als erstes ob sie einen Tipp hinterlassen haben. Ich sage: Nein. Ich sage das, weil ich keine Lust habe noch einmal hineinzugehen.

Er schimpft wieder über die miserable Qualität der Entführung und gibt Gas. Wir lassen Nals hinter uns und jagen mit dem Wagen die Kurven ins Tal hinunter Richtung Andrian.

Mitten im Wald kommt eine Kreuzung. Er fragt mich, links oder rechts? Ich sage links und er fährt rechts. Ich frage ihn, wo er den Hut eigentlich her habe.

In einer Kurve stehen drei vier Häuser. Eines davon ist ein Gasthaus. Der kleine Jakob aufgeregt von hinten: Hierhier, Evas Astra!

Ich weiß nicht, wie ein Astra aussieht, aber auf dem Parkplatz vor dem Gasthaus stehen mehrere Autos mit weißen Blumen und Schleifen an der Scheibe. Mein Vater ruft: Volltreffer!

Ich steige aus, Vater steigt aus und der kleine Jakob rennt zur Gasthaustür. Marco bleibt im Wagen. Er schaut auf die schönen Lichter im Tal.

Das Gasthaus ist voll. Ganz hinten sehe ich die bekannten Gesichter der Damen aus der Brautgesellschaft. Ich drängle mich durch die Menschenmassen an der Bar und plötzlich gibt es einen lauten Aufschrei. Ein Sektglas geht zu Bruch. Das Entführungskommando rennt auf mich zu und hält mich fest. Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll, als ich aber meine Schwester sehe, die Braut also, bin ich ziemlich glücklich und rufe: Schwester! Hier bin ich! Ich komme! Halte durch!

Doch meine Schwester schaut mich entsetzt an und ruft dem Entführungskommando zu: Kommt Mädls! Folgt mir! Durch die Küche!

Wie eine Seppelwurzel bleibe ich stehen. Ich schaue dem Frauenhaufen zu, wie er sich hinter die Bar drängt und mit lautem Getöse in der Küche verschwindet. Die Gäste an der Bar sind amüsiert und Jakob zieht an meiner Krawatte. Was los sei, will er wissen. Ich bin der Böse, sage ich. Jakob grinst breit und sagt begeistert: Ja. Und ich bin auch böse.

Draußen herrscht große Aufregung. Mein Vater liegt bäuchlings auf der Motorhaube eines gasgebenden Autos und schreit: Wo ist die Braut?

Weiter hinten auf dem Parkplatz jagen vier Autos mit Blumen und Schleifen an der Scheibe in Richtung Parkplatzausgang. Marco kurbelt die Scheibe herunter und zeigt auf die jagenden Autos. Er ruft: La! La! Le macchine!

Mein Vater lässt das Auto los und sprintet zu seinem eigenen Auto. Jakob springt dazu. Bei mir dauert es ein bisschen länger. Mein Vater schreit.

Wieder im Auto sage ich zu meinem Vater, dass mir sein Hut scheißegal ist. Er beschwert sich, dass wir jetzt wieder nicht wissen, wo sie hingefahren sind. Wir fahren erst in Richtung Andrian weiter, nach einigen Weggabelungen beschließen wir links nach Lana zu fahren, doch dann merken wir, dass Lana zu weit ist und wir kurven dann wieder mit mörderischem Tempo durch die Apfelwiesen Richtung Andrian. Ich sage zu meinem Vater, dass wir aber schon ein bisschen schnell unterwegs seien. Und er sagt, ich solle die Frauen (Scheißweiber, die sollen das Entführen sein lassen wenn sie nicht wissen wie das geht) anrufen, weil sie uns schon wieder keinen Tipp hinterlassen haben. Bevor ich ihn nach seinem Mobiltelefon fragen kann, nimmt er es selbst in die Hand und wählt die Nummer meiner Schwester.

“(Ma porcohittneini) Wo seid ihr denn? (…) Blauer Kirchturm (…) aha (…)”

Er legt wieder auf und sagt: Ein blauer Kirchturm, sie sind in Vilpian.

Ich sage, Terlan habe aber auch einen blauen Kirchturm, und übrigens, der in Vilpian sei doch eher gräulich.

Wir fahren natürlich nach Vilpian, ans andere Ende der Talsohle. Das Etschtal ist kein typisches Alpental. Das Etschtal ist sozusagen eine weite Ebene mit steilen Wänden an den Seiten. Und dazwischendrin eine Art Autobahn, eine Zugstrecke und unzählige zwei Meter breite Asphaltstraßen die die Apfelwiesen durchschneiden. Wir durchschneiden die Apfelwiesen bei Tempo achtzig während mein Vater telefoniert. Ich fange wieder an, seinen Hut daneben zu finden.

In Vilpian gibt es weit und breit keinen Hochzeitskonvoi, also fahren wir in Richtung Süden nach Terlan. In Terlan, auf dem Dorfplatz vor dem bläulichen Kirchturm stehen mehrere blumenverzierte Autos. Alle steigen aus, sogar Marco. Ich bleibe kurz sitzen, erinnere mich aber daran, dass jemand die Rechnung bezahlen muss, nein, nicht jemand, sondern ich, und steige auch aus. Ich latsche über den Platz am Glühweinstand vorbei zum Gasthaus. Am Glühweinstand verrät mich meine Blume am Revers. Die Leute lachen und prosten mir zu. Das ganze Dorf weiß Bescheid.

Ich betrete das Gasthaus, die Gäste machen mir Platz. Das Entführungskommando wurde natürlich längst von meinen männlichen Begleitern verscheucht. Ich gehe zum Tresen und frage nach der Rechnung. Ich setze mich hin, schaue ein wenig betrübt und bestelle einen Schnaps dazu. Die Wirtin lächelt, sagt, dreiundvierzig Euro und fragt, ob ich der Bräutigam sei. Ich nicke, stelle dann aber fest, dass ich nicht der Bräutigam bin sondern der Brautführer, korrigiere mein Nicken und frage ob sie mir den Schnaps doppelt machen könne. Sie macht ihn doppelt und sagt: der geht aufs Haus.

Dann verlasse ich das Gasthaus und auf dem Platz rennt mir der kleine Jakob in die Arme: Wo! bleibst! du! denn!

Dann sehe ich meinen Vater mit mörderischem Tempo quer über den Platz fahren. Der Platz der eigentlich Fußgängern vorenthalten ist. Vor uns hält er und schreit: Wo! bleibst! du! denn!

Ich steige ein. Die Frauen seien vorne links abgebogen, sie seien also unterwegs nach Andrian. Andrian ist gut, denke ich, das Endziel sozusagen. Ich drehe mich zu Marco um und frage ihn auf italienisch, ob er den Hut meines Vaters auch albern fände. Er sagt: Si. Das freut mich.

Die Äpfelbäume verschwimmen bei hoher Geschwindigkeit zu einer grauen Wand. Ich mag das. Es erinnert mich an früher, als es immer so viel geschneit hat, als an der Straße immer die hohen schmutzigweißen Schneewände standen.

Kurz vor Andrian tritt mein Vater voll in die Bremse. Es quietscht. Und als wir stillstehen, stehen wir quer vor einem Parkplatzausgang. Der Parkplatz gehört zu einem Wirtshaus. Mein Vater hat sehr geschickt gebremst, da der Ausgang der einzige Ausgang ist, kann niemand mehr raus. Das Entführungskomitee samt Braut ist sozusagen gefangen. Sozusagen nur. Weil eines der Entführerautos die Situation sofort erkannt hat und dabei ist das eingemauerte Blumenbeet, das den Parkplatz auf der hinteren Seite von der Straße abschneidet, umzufahren. Der kleine Jakob wirft sich auf ein willkürliches Entführerauto, mein Vater versucht das flüchtende Auto aufzuhalten und Marco läuft den Parkplatz ab.

Ich reiße die erste Wagentür auf. Es sind Sabine und ein paar andere Frauen. Wertlos. 

Doch beim nächsten Wagen habe ich Erfolg. Es ist Evas Auto und die Braut sitzt drin. Der gesamte Wageninhalt schreit auf. Da die Braut hinten sitzt und die hinteren Türen verschlossen sind, tauche ich vorne über die Eva in den Wagen ein und greife nach der Braut.

Sie schreit Vokale. Später fügt sie den Vokalen Konsonanten hinzu und plötzlich verstehe ich, was sie zu sagen versucht: sie habe den Strauß gar nicht.

Ich überprüfe sie und stelle fest, dass sie die Wahrheit spricht.

Die Braut ohne ihren Strauß, auf diese Situation bin ich nicht vorbereitet. Ich liege wie ein Torpedo in einem Auto, quer über verschiedene Menschen hinweg, halte die Braut fest und realisiere, dass ich eigentlich gar nicht die Braut brauche, sondern den Strauß. Ich frage, ob das die Regeln sind, woraufhin mir die anwesenden Frauen die Regeln erklären.

Was ich mir merke: die Braut ist gar nicht so wichtig.

Dämlicherweise wusste ich das eigentlich schon, somit überlege ich, was nun am besten zu tun sei. Dann fällt mir auf, dass ich ziemlich unbequem liege, also kämpfe ich mich wieder nach draußen. Eva ist erleichtert.

Dann weiß ich nicht genau was geschieht. Was ich registriere, ist Sabine, die versucht Vaters Auto aus der Auffahrt wegzufahren, weil mein Vater die Schlüssel stecken lassen hat und gerade auf der Motorhaube eines anderen Autos liegt. Marco hindert Sabine daran, das Auto von der Einfahrt wegzuparken.

Die Mutter des Bräutigams rennt von einem Auto über den Parkplatz zu einem anderen Auto und hat eine dicke Beule unter ihrem Kleid was verdächtig nach einem versteckten Brautstrauß aussieht. Und Vater liegt später auf der Motorhaube eines anderen Autos.

Als ich wieder koordinierter wahrnehmen kann, steht der kleine Jakob vor mir. Er hält mir grinsend den Brautstrauß entgegen und sagt: jetzt noch die Braut.

Die Braut ist einfach. Der Beifahrersitz im Auto der Braut ist aus irgendeinem Grund frei, ich setze mich hinein und sage der Fahrerin sie solle nun zum Schwarzen Adler fahren. Der Bräutigam warte. Ich hebe den Strauß und alles verstummt. Der kleine Jakob ruft mein Team zusammen und alles scheint sich zum Ende zu neigen. Ich habe es geschafft und die Öffentlichkeit nimmt daran teil. Schön ist das. Ich muß allerdings dreimal wiederholen, dass die Fahrerin jetzt losfahren solle, bis sie mich endlich ernst nimmt.

Irgendwie scheint jetzt alles ruhig geworden zu sein. Die Braut ist unter Dach und Fach, wir sind auf dem Weg zum Bräutigam und es hat keine Toten gegeben. Die Entführung hat ein gutes Ende genommen. Doch dann geschieht die Katastrophe. Die Katastrophe für meine Ehre jedenfalls.

Wir kommen endlich beim Schwarzen Adler an. Auf dem Parkplatz halten wir. Neben uns parkt Sabine. Die Braut steigt aus — und steigt in Sabines Wagen wieder ein. Sabines Auto brummt laut auf und fährt los, talabwärts.

Bevor ich das alles richtig verstanden habe, startet auch Eva den Wagen und fährt los. Jedoch talaufwärts.

So sitze ich in Evas Wagen, hinten lachen die Frauen, und ich versuche vorsichtig ein Bild dieser neuen Situation zu formen. Die erste Sache ist klar, die Braut ist wieder weg. Die zweite Sache ist schwieriger zu verstehen, deshalb frage ich bei Eva nach. Ob sie jetzt umkehren würde und der Braut nachfahre, wenn ich es ihr befehle. Sie prustet und schüttelt den Kopf. Sie fährt achtzig. Den Berg hoch.

Ich bin also ein Gefangener. Ich wäre lieber eine Geisel.

Wir sind schon ein ganzes Stück gefahren, mir fällt keine neue Taktik ein. Es ist nicht einfach, die Aussicht hier oben ist schön, man kann fast das ganze obere Etschtal überblicken, zudem läuft im Radio Schrammelmusik. Doch dann bittet mich Eva, kurz das Lenkrad festzuhalten, sie müsse ihre Jacke ausziehen. Nichts lieber als das, und hier wittere ich meine Chance, ein bisschen Macht über mein eigenes Schicksal wiederzuerlangen. Doch ich traue mich nicht, gefährliche Manöver mit dem Lenkrad zu vollbringen, ich bin ein miserabler Autofahrer.

Doch das bessere Erpressungsmittel bietet sich gleich, als Eva mir verächtlich ihre Jacke auf meinen Schoß wirft.

Sie kehrt abrupt um. Und sie schreit, da sei ihr Handy drin, da sei ihr Geld drin, während ich die Jacke aus dem Fenster halte. Und ziemlich grinse.

Wieder zurück beim Schwarzen Adler befehle ich der Fahrerin anzuhalten. Sie gehorcht. Ich halte den Strauß hoch und sage, dass ich den Strauß habe und ich jetzt reinginge, zum Bräutigam, um ihm den Strauß zu überreichen. Ein bisschen merkwürdig scheint mir das schon, so will er doch die Braut haben und nicht ihren Strauß, aber ging es nicht letztendlich um den Strauß?

Ich lasse mir wieder die Regeln erklären.

Was ich mir diesmal merke: Braut und Strauß sind mir wurscht.

Mit dem zerfledderten Brautstrauß betrete ich das Lokal. Die Männer stehen an der Bar und prosten mir lachend zu (Ein Prosit auf den entführten Brautführer!), ich beschließe sie zu ignorieren, gehe in die Wirtsstube und sehe das glückliche Brautpaar. Die Braut sitzt mit einem strahlenden Lächeln bei ihrem Bräutigam.

Ich setze mich neben sie und verschränke die Arme. Ich bekomme ein Bier.

Nachher kommt mein Vater rein. Die Braut sagt zu mir: Sieht unmöglich aus, der Hut, gell?

(dieser Text ist ursprünglich in einer anderen Fassung, im Dezember 2007 hier im Blog erschienen)

[wintersonne]

Heute zu Mittag spazieren gewesen. Wie wir der niedrigen Wintersonne entgegenliefen. Das Licht, das die niedrige Wintersonne wirft. In den engen Straßen erreicht sie meist nur die oberen Etagen. Wenn man ihr entgegenläuft, stellt sie sich in die Sicht, diese Wärme bei geschlossenen Augen. Das ist die schönste Wärme, die es gibt.

Überhaupt, Wintersonnenwende. Wenn ich für sowas wie religiöse Gefühle empfänglich sein würde, dann am ehesten für dieses Gefühl am kürzesten Tag der Wintersonne mittags zuzusehen. Wie sie den tiefstmöglichen Zenit erreicht. Am Horizont auf Blickhöhe. Ich wäre heute gerne am Polarkreis. Zum Glück mache ich sowas nicht. Täte ich es, glaubte ich, ich trüge einen spitzen Hut auf dem Kopf und Mistelzweige unterm Arm.

Ich mag ja Winter. Ich mag ja die kurzen Tage, die langen Nächte. Ich mag es, wenn sich schon am späten Nachmittag dieser dunkle Schleier legt. Um mein Gemüt, um meine Sicht. Ich liebe es, in der Kälte Fahrrad zu fahren. Die Kälte an den Oberschenkeln und unter der Haut diese Körperwärme.
Und wenn ich dann nach Hause komme oder in die Kneipe gehe und mir Schal, Mütze, Handschuhe und alles ausziehe, wie mich dann die warme Raumluft auftaut: das Beste.

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In Longyearbyen ist jetzt Nacht. Seit Anfang November schon. Ende Januar wird es die erste Dämmerung geben. Die Sonne kommt dann Ende Februar nach.

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Vor einigen Jahren lernte ich einen jungen Syrer kennen. Es war ein eisiger Dezembertag, eine gemeinsame Freundin feierte ihren Geburtstag. Wir feierten in einer liebevoll zurechtgemüllten Neuköllner Kneipe. Er und ich, wir verstanden uns auf Anhieb. Er sagte: I love Winter. Das sei alles so schön, mit diesen kuscheligen Wohnungen, diesen warmen Kneipen, wie wir alle zusammensäßen und Kerzen anzünden. Das kannte er alles nicht. Ja, stimmt. Die Wohnungen. Die Innenräume. Es wird so viel Aufwand damit betrieben.
Es hat schon seinen Grund, warum wir uns gerade bei den Skandinaviern abgucken wie man sich die Wohnungen einrichtet. Wenn man unweit des Nordpols eingeschneit in seiner Hütte sitzt, hat man viel Zeit, Homeimprovement zu betreiben.

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Winterland

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Vor einigen Monaten habe ich mir dieses Spiel auf Steam gekauft. The long dark. Es handelt von den arktischen Wäldern Kanadas. Vom Schnee. Und von den Wölfen. The long dark. Ich könnte diesen Titel ewig vor mich hinsagen. The long dark. Das ist wie ein Zustand.

[Porsche]

Neulich bin ich im Prenzlauer Berg mit einem Porsche gefahren. Ein alter Freund von mir besitzt einen alten Porsche 924. Das ist kein teures Auto. Auch kein schönes Auto. Auch kein gutes Auto. Aber er hat es vor vielen Jahren einmal billig kaufen können und seitdem fährt er damit herum. Über den Porsche 924 muss man wissen, dass er in den Siebzigern gebaut wurde und von Autokennern abfällig Hausfrauenporsche genannt wurde. Auch damals besaß die Hausfrau keinen hohen sozialen Stellenwert, obwohl die Zeiten damals besser waren.
Da ich jetzt ja auch einen Führerschein besitze wollte ich unbedingt wissen wie es sich anfühlt mit einem Wagen dieser Sorte zu fahren. Sonst kenne ich ja nur meinen kleinen UP oder die üblichen glatten Mietwagen.

Wir trafen uns im Bötzowkiez in der Hufelandstraße bei einem Vietnamesen zum Mittagessen. Danach setzten wir uns in den Porsche, ich an der Fahrerseite. Ich saß so tief, dass ich das Gefühl hatte ich wäre in eine Luke in der Straße gestiegen. Der Freund wies mich ein. Man könne bei diesem Auto nicht einfach Motor einschalten und losfahren. Man müsse ihn erst aufwärmen. Das bedeutet: Zündschlüssel umdrehen, Kupplung halten und alle zwei Sekunden ordentlich auf das Gaspedal drücken. Ungefähr eine Minute lang. Man fühle dann schon wann der Motor zum Losfahren bereit sei.
Nun hat dieser Porsche lediglich 125PS. Aber die akustische Terrorizität eines Düsentriebwerks.

Wir alle kennen die gängigen Klisches des Prenzlauer Bergs. Die oft etwas unwuchtig wirkende Liebe für Kinderwagen und des darin liegenden Nachwuches, das grüne Herz auf dem rechten Fleck und die Frisur sitzt immer.
So saß ich da in diesem basslastigen Düsenjäger und pumpte alle zwei Sekunden auf das Gaspedal.
Ich habe natürlich ein grünes Herz (allerdings eine etwas schlecht sitzende Frisur) deshalb pumpte ich das Gaspedal nicht tief genug durch. In der achten Sekunde starb mir der Bolide ab.
Überall um uns herum schauten Menschen etwas ratlos in die Gegend. Wo war dieser Lärm hergekommen? Mein Freund sagte mir vorwurfsvoll ich müssen mehr pumpen, mehr Gas geben, dabei imitierte er Motorengeräusche, wrumm wrumm. Ich schaute etwas bedrückt auf die Straße hinaus. Was würde der Prenzlauer Berg von mir denken? Dann drehte ich wieder den Zündschlüssel um und pumpte auf das Gaspedal. Alle zwei Sekunden. Aus den Augenwinkel merkte ich, dass der ganze Kiez die Quelle des Lärms identifiziert hatte und die Blicke auf mich richtete. Neben mir saß mein Freund und schrie „Pumpen, pumpen, mehr, mehr“. Ich pumpte und beschloss eigenmächtig, dass der Motor jetzt warm genug sei und legte den ersten Gang ein. Der Motor starb ab.
Das sei zu früh gewesen, hörte ich von der Beifahrerseite, nochmal, ich schloß die Augen und drehte wieder den Zündschlüssel.

Etc. etc. Um es abuzschließen: ich brauchte fast eine Viertelstunde bis ich es schaffte loszufahren.

Vermutlich habe ich einen Beitrag dazu geleistet unbescholtene Bürger in die Fänge umweltfreundlicher Politiker zu treiben. Wenn ich dafür mal als Hassfigur meinen Kopf hinhalten muss, ist es schon okay.

[nachtigall]

Es lebt wieder eine verliebte Nachtigall in unserem Innenhof. Letztes Jahr war auch schon eine da. Und auch im Jahr davor. Dieses Jahr fing das mit der Verliebtheit schon Ende März an. Meist beginnt die Nachtigall gegen Mitternacht mit ihren dopamingetränkten Triolen. Danach geht es die ganze Nacht lang. Die ganze Nacht lang.

Ich versuche immer vor Mitternacht eingeschlafen zu sein. Oft gelingt es mir aber nicht rechtzeitig. Manchmal werde ich von ihr geweckt. Ich kann dann nur schwer wieder einschlafen. Insbesondere seit ich weiß, dass Nachtigallen einen komplexen Gesang haben, seitdem liege ich nur noch mit offenen Augen da und denke mir: komplexer Gesang, komplexer Gesang, komplexer Gesang. Ich weiß auch schon was die diesjährige Nachtigall von der Letztjährigen unterscheidet. Die Neue hängt nach jedem zweiten Vers eine etwas exzentrische Moll-Kadenz hintendran. Das machte die andere nicht, die trällerte aber hinter jedem Satz ein hohes Schleifchen, wie wenn man ein „W“ zeichnet und hintenraus ein kapriziös verziert.

Letztes Jahr habe ich die Nachtigall einmal aufgenommen. Mitten in der Nacht stellte ich ein Nierenmikrophon ins Fenster und schnitt etwa zwei Minuten lang mit. Danach stellte ich die Boxen ins Fenster und spielte es ihr vor.
Ich weiß nicht, was ich mir von der Aktion genau erwartet hatte, vielleicht, dass es sie verwirrt und einen Konkurrenten um den Nestbau wittert, der sie mit den eigenen künstlerischen Fähigkeiten zu übertrumpfen versucht, eine plagiierende Nachtigall sozusagen, die es aufzustöbern und aus dem Werttbewerb zu kicken gilt. Ja, vielleicht erhoffte ich mir einfach, dass sie etwas anderes macht als ihre Verliebtheit in den Innenhof herumzuträllern. Ich wollte schließĺich schlafen.

Sie zwitscherte aber einfach weiter. Unbeirrt. Das hatte mich schon etwas ratlos gemacht. Dass sie so überhaupt nicht darauf reagierte. So viel Aufwand betrieben um komplett ignoriert zu werden, das war ich nicht gewohnt.

In unserem Haus haben wir einen Emailverteiler. Ich weiß nicht ob es vernünftig ist, die Nachbarn wegen der Nachtigall anzuschreiben. Das kann auch nach hinten losgehen. Eine Nachtigall zu verschmähen ist vermutlich eine ähnliche Kategorie Kinderfresser zu sein.
Immerhin habe ich nie „Ruhe“ in den Hof hineingeschrien, wie andere Leute das machen, wenn Menschen im Sommer zu laut, achtung, vögeln. Insofern bin ich auf meine seltsame Aktion mit den Lautsprechern im Nachhinein schon ein bisschen stolz.

Wenn ich nach zwei Stunden immer noch nicht schlafen kann, dann ziehe ich mein Schlaflager auf die Straßenseite der Wohnung um. Von der Nachbarin auf der anderen Seite weiß ich, dass in deren Innenhof Krähen leben. Sie beneidet mich um die Nachtigall, ich beneide sie um die Krähen. Immerhin gibt es in Berlin kaum noch gurrende Tauben, das ist eine gute Sache, darin sind wir uns einig.

[am Halleschen Tor]

Letzte Woche gab ich dem Obdachlosen fünzig Euro. Ich lief schon einige Wochen an ihm vorbei. Er sitzt nur vormittags da, in dem Durchgang zwischen der U1 und der U6 am Halleschen Tor. Er ist ein älterer Mann, er sitzt mit Decke und einem Pappschild auf dem Boden, auf dem Pappschild steht: ich bin Obdachlos und habe Krebs.
Mittlerweile bin ich ja ziemlich abgestumpft. Wenn mich Leute anbetteln sage ich meistens nein. Oder ich mache mir Gedanken dazu. Warum ich ausgerechnet ihm oder ihr die eine oder andere Münze geben sollte. Dabei habe ich gemerkt, dass ich im Laufe der Zeit sehr nach Sympathie oder Bauchgefühl vorgegangen bin. Aus dem Bauchgefühl heraus habe ich immer jene Leute belohnt, die nett geschnorrt haben oder diejenigen die tolle Musik gespielt haben, also Leute die etwas in mir auslösen oder Leute die trotz Armut etwas bewegen oder etwas können.
Aber das ist natürlich falsch. Obdachlos wird man in der Regel weil man gar nichts kann, weil man unsympathisch ist oder weil man nichts auf die Reihe kriegt, nicht mal ein nettes Lächeln, ich bin der Meinung, dass man denjenigen Geld geben muss, die nichts können, die schlecht drauf sind, und auch Trinkern, Holgi sprach in einer seiner WRINT-Sendungen mal darüber, dass man auch Trinkern einfach Geld geben soll, auch wenn man weiß, dass sie es eh versaufen werden. Um sie von diesem Stress zu erlösen den Obdachlosigkeit mit sich bringt, damit sie einfach trinken können, damit es ihnen kurzfristig besser geht, Obdachlosen Geld zu geben ist schließlich keine Investition, sondern man gibt einem Obdachlosen Geld um ihn für eine kurze Zeit vom Stress seines unheimlich anstrengenden Lebens zu lösen. Das klingt so sinnvoll: es ist keine Investition.

Der Obdachlose mit dem Krebsschild hat mich in Gedanken bis nach Hause verfolgt. Mehrere Wochen lang. Krebs zu haben in diesem Scheißleben zwischen zugigen Ubahndurchgängen und was weiß ich wie verkackten Schlafstätten, mit einer Decke und einem Pappschild. Boah. Ich stand unter der Dusche und dachte daran, wie schnell und ohne mit der Wimper zu zucken ich manchmal fünfzig Euro ausgebe wenn ich aus essen gehe oder wenn ich in Mediamarkt herumlungere. Kant hat einmal gesagt, dass man beim Geben von Almosen ja eigentlich nicht dem Bettler etwas Gutes tun will sondern es für sich selbst tut, entweder um sich ein gutes Gewissen herzustellen oder auch einfach nur um dankbare Blicke zu ernten. So ähnlich sagte Kant das jedenfalls, vermutlich klang es bei ihm etwas klüger.
Am nächsten Tag gab ich dem Obdachlosen mit Krebs fünzig Euro. Im Vorbeigehen steckte ich den Schein in den Joghurtbecher und sagte etwas wie „Hab nen schönen Tag“ und ging gleich weiter. Ich schaute mich nicht um, es wäre mir wirklich zu blöd gewesen einen gerührten oder übermäßig dankbaren Blick zu bekommen, denn ich war der andere Typ den Kant meinte, ich war mir sicher: ich würde den Rest des Tages ein gutes Gefühl, ein gutes Gewissen haben.
Aber das gute Gefühl stellte sich den ganzen Tag nicht ein. Abends stand ich wieder unter dem warmen Wasserstrahl der Dusche und dachte an dieses Scheißleben in den zugigen Ubahndurchgängen. Keine Ahnung wie Kant das meinte.

[woran ich mich erinnern will. Scotland]

Am Samstag landen wir in Glasgow. Es regnet.

Ich fühle mich Rugbyspielern sehr verbunden. Das hat mit den dicken Oberschenkeln in kurzen Hosen zu tun, das sind Männer die aussehen wie ich. In Fort William essen wir in einem Pub zu Mittag. Auf allen Bildschirmen läuft Rugby. Männer mit strammen Oberschenkeln überwerfen sich, versuchen einander etwas aus den Armen zu entreißen und schmeißen sich ins Gras. Ich finde das sehr ästhetisch. Das ist ganz anders als Fußball.
Nebenher google ich. Es gibt in Berlin auch Rugby Frauenmannschaften. Frauen mit strammen Oberschenkeln die sich überwerfen und ins Gras schmeißen. Das muss ich mir unbedingt ansehen.

In einem altehrwürdigen Pub in Oban, am Pissoir. Neben mir pinkelt ein älterer Herr. Er sagt etwas und zeigt mit seinem Gesicht auf ein Poster das vor unserer Nase hängt. Auf dem Poster ist ein Boxer abgebildet der in Boxerpose posiert und hinter seinen Fäusten hervorlugt. Ich habe kein einziges Wort verstanden, das der Mann zu mir gesprochen hat. Ich entschudige mich höflich, ich sei gerade selbst so laut gewesen (Lachen), und frage ihn ob er sich wiederholen könne. Er wiederholt sich und ich verstehe nur einzelne Wortfetzen. Einer meiner wichtigsten Mitarbeiter ist Schotte, eine langjährige Kollegin war schottisch, ich bin verhältnismäßig oft in Schottland, ich bin an schottischen Akzenten durchaus gewöhnt. Aber den Mann verstehe ich nicht. Natürlich habe ich das eine oder andere Pint intus, der Mann das eine oder andere mehr. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass er gälisch mit mir spricht, Oban ist zu groß, alsdass man wildfremde Menschen auf der Toilette auf gälisch anspricht. Ich bin etwas ratlos. Soll ich ihn ein zweites Mal bitten sich zu wiederholen? Das könnte ihn kränken. Soll ich ihn fragen ob er gälisch mit mir gesprochen habe? Das kann auch falsch ausgefasst werden. Ich schaue auf das Poster und sehe das morgige Datum. Weil ich sonst nicht weiß was sagen, sage ich: it’s tomorrow.
Er schaut konzentriert auf das Poster und sagt schließlich, yorr right!
Die letzten Sekunden unserer Session schauen wir beide etwas nachdenklich auf das Poster aber dann waschen wir unsere Hände und gehen zurück in den Schankraum.

Puh. Die Highlands. Ich meine es schon mal irgendwo aufgeschrieben zu haben: diese nackten Berge, diese nackte Landschaft. Keine Bäume die die Landschaft bedecken. Beim Anblick dieser Landschaft verstehe ich Esoteriker, wenn sie von Mutter Erde reden, wie sie so unbekleidet daliegt, Falten legt, sich ums Wasser windet, sich dramatisch und verwundbar entblößt. Sie ist richtig greifbar.

In Berlin steigt das Thermometer wieder auf dreißig Grad, dafür bin ich das erste mal in diesem Sommer _nicht_ der Hitze hinterhergefahren. Vierzehn Grad. Skye. Regen. Yeah.

OK, Sonne wär auch schön.

Am Mittwoch geben die schottischen Behörden die Empfehlung aus, ab Mittag das Haus nicht zu verlassen. Ein ungewöhnlich starker Sturm soll aufkommen. 80 milesperhour. Wir stellen uns auf einen Tag im Hotelzimmer ein, werden Netflix schauen und uns Macaroni and Cheese besorgen.
Der Regen ist schon schwerer geworden, am Vormittag gehen wir trotzdem noch raus, ich wollte einmal diese seltsame Halbinsel südöstlich von Portree umrunden, auf dieser App mit OpenStreetmaps sehe ich, dass es einen Wanderweg gibt, der die Halbinsel umrundet. Die Halbinsel wird als „The Lump“ bezeichnet, darauf befindet sich ein Krankenhaus und eine Kirche und eie offene Fläche. Wir haben keinen Regenschirm dabei, gehen zuerst zu diesem Aussichtsturm hinauf, schauen einmal über die ganze Bucht von Portree, dann suchen wir den sogenannten Wanderweg, es ist ein sehr schmaler und verwachsener Weg, der hinter der Kirche beginnt, der Weg ist an dieser Stelle eigentlich eher ein Rinnsal, meine sommerlichen Vans saugen sich sofort mit kaltem Wasser voll, wir gehen aber weiter, oberhalb der Häuserreihe des Hafens entlang, dann weitet sich der Weg und wird trockner, als wir die Häuser hinter uns gelassen haben stehen wir auf einem Steilhang. Es hört auf zu regnen, die Sonne kommt raus, wir machen Fotos. Als wir the Lump umrundet haben wird der Himmel dunkel, die ersten Winde kommen auf.

Danach ins Bett gegangen und Netflix angeschaltet. Wir schauten fast die ganze erste Staffel von „Outlander“. Die Geschichte der Engländerin, die durch die Zeit geschleust wird und in den Highlands des Jahres 1743 landet. Was sich sehr banal anhört ist eine überaus spannende und auch lustige Geschichte, da sie eine Zeitreise in eine frühere Zeit aus der (für mich) eher ungewöhnlichen Frauenperspektive erzählt. Ich kenne Zeitreisengeschichten eigentlich nur als Männergeschichten. Die Outlanderin gerät natürlich in ganz andere Schwierigkeiten als der durchschnittliche Mann, außerdem ist sie (für Schotten) eine Ausländerin und auf der Flucht. Und ganz nebenher wird auch noch eine wundervolle Liebesgeschichte erzählt. Ich werde mir auch die zweite Staffel ansehen.

Nach zwei oder drei Folgen ging ich hinunter ins Restaurant und bestellte zwei riesige Portionen Maccheroni Cheese zum Mitnehmen. Dann ins Bett. Draußen trotzten die Bäume dem Wind schon in einem Winkel von 45 Grad. Blätter und Gegenstände wehten durch die Straße. Mit der Frau ihm Bett. Auf unseren Schößen: die besten Macaroni and Cheese meines Lebens.

Durch Inveraray sind wir vor etwa acht Jahren das erste mal gefahren. Wir befanden uns auf dem Weg nach Islay. Als wir durch Inveraray fuhren schauten wir nach links und nach rechts und fanden den Ort sehr schön, wir hatten beide den Gedanken, dass man hier anhalten und eine kleine Pause einlegen könne. Bevor der Plan aber noch richtig gereift war, hatten wir schon das Ortsende erreicht und fuhren weiter Küstabwärts. Zu faul um umzudrehen, zu faul um extra Kilometer zu fahren. Weil der Plan in der Zwischenzeit gereift war, hielt wir aber im nächsten Ort. Der war genau so schön.
Diesmal schlaute ich mich im Vorfeld über schöne, kleine Dörfer auf. Das Dorf sollte grob auf dem Rückweg nach Glasgow liegen und nicht allzuweit davon entfernt. So wurde uns Inveraray empfohlen. Als wir es auf der Karte und Streetview aufriefen erkannten wir es sofort wieder.
Sind wir natürlich hin.
War ganz nett. Bei näherer Betrachtung aber ein bisschen zu puppenstübchenhaft.

Die dicken Frauen von Glasgow. Das habe ich so notiert. Die dicken Frauen von Glasgow. Ich weiß jedoch nicht mehr warum.

-> Im Blog gestöbert. Das hat mich schon in 2010 beschäftigt. Da schrieb ich: # Eines der vielleicht beachtlichsten Dinge in Schottland, sind die überschminkten, dicken Frauen in enganliegenden Kleidern oder Leggings. Frauen, die anderswo als ordinär verachtet werden. In Glasgow prägen sie am Samstagabend das Straßenbild. Ich bin hingerissen von der selbstbewussten Art, wie sie hier auftreten, sich schön finden, und laut lachen. Solche Frauen tauchen oft in meinen Träumen auf. Dort sitzen sie auf grünen Sofas.

Woran ich mich erinner will und das muss ich wirklich aufschreiben weil ich es sonst bestimmt vergesse sind zwei Dinge die wir am letzten Tag auf dem Rückweg kurz vor Glasgow gemacht haben. Zum einen sind wir zwanzig Kilometer vor Glasgow von der Autobahn runter um irgendwo unkompliziert zu essen. In einem Ort namens Alexandria sahen wir große Schilder die ein Outlet Center auswiesen, und dann sind wir, genau, ins Anartex Outlet Center gefahren und haben Klamotten gekauft. Kein Tourist. Weit und breit. Ich habe mir zwei Tweedwesten gekauft. Vorne Tweet und hinten ein psychedelisches Muster das den Sitzbezügen der Berliner UBahn den Rang abläuft.
Nach erfolgreichem Shoppen sind wir drei oder vier Ortschaften weiter auf der anderen Wasserseite in einem etwas heruntergekommenen Einkaufszentrum namens „Bridgewater Shopping Centre“ gelandet und haben uns in ein Lokal gesetzt in dem auf den Bildschirmen Polo gezeigt wurde und es Macaroni Cheese mit Pommes gab.
Wir fühlten uns da so wohl als wären wir zwei Kartoffeln.

[Winter 95/96]

Als ich im Dezember 1995 in die Niederlande zog, hatte es bereits Minusgrade. Ich kannte Karel, einen jungen Hausbesetzer in Utrecht, bei dem ich eine Weile unterkommen konnte. Bis ich eine eigene Bleibe gefunden hatte, da ich ohnehin länger in den Niederlanden bleiben wollte. Ich war in diesem engen, habsburgerisch-grauen Wien nicht zurechtgekommen, ich brauchte einen Neuanfang.

In Schiphol rief ich Karel an, der mir noch die letzten Details der Wegbeschreibung mitgab. Dabei warnte er mich vor, dass das Gästezimmer keine Heizung habe und es momentan leider etwas kühl sei, aber in der Küche gäbe es einen Gasofen, der meistens ausreiche. Man könne dort prima sitzen und etwas lesen oder fernsehen.

Als ich in Utrecht ausstieg war es noch einmal deutlich 2 oder 3 Grad kälter als in Amsterdam. Ich musste mit der Tram in einen Außenbezirk fahren und dort noch ein Stück laufen. Den niederländischen Winterwind war ich noch nicht gewohnt, ich würde einige Winter dafür brauchen. Also hielt ich die Hände gut verstaut in den Jackentaschen und vergrub das Gesicht so gut es ging im Kragen. An eine Mütze oder einen Schal hatte ich nicht gedacht, aber das würde ich schon aushalten.

Die Schule war ein dünnwändiger Flachbau aus den siebziger Jahren. Anfang der Neunziger hatte man Asbest darin entdeckt, woraufhin die Schule in Leerstand geriet. Danach stritt sich der Bildungsträger jahrelang mit der Stadt und in der Zwischenzeit zogen Besetzer ein. Eigentlich eine feine Situation für Hausbesetzer, solange man keine Nägel in die Asbestwände haut oder diese rausreißt und Zimmer zusammenzulegen.

Das Gebäude hatte dünne Wände aus Asbestplatten, die von einem Holzrahmen getragen wurden. Außerdem äußerst große, einglasige Fensterscheiben. Ich fragte mich, warum man in einem kühlen Land wie die Niederlande überhaupt auf diese Weise baut. Die Schule war natürlich kaum beheizbar. Die Küche war nicht eine kleine Küche mit einem kleinen Fenster und einem kleinen Tisch mit einer knuffeligen Ofenheizung. Die Küche war ein ehemaliges Klassenzimmer. Also etwa achtzig Qadratmeter groß. Mit einem kleinen Gasofen, der für eine kleine knuffelige Küche ausgereicht hätte. Die Wärme des Ofens entwich durch die Wände und die Fenster. Ging man vom Ofen weg in Richtung Fenster schritt man durch 5 verschiedene Klimazonen. Am Fenster vereiste das Kondenswasser.

Karel meinte, es sei schon ganz besonders kalt gerade.

Das Gästezimmer war ein ehemaliges Abstellzimmer. Es war kleiner als die ständig bewohnten Klassenzimmer, was im Winter gut war, weil es sich theoretisch besser aufheizen ließ. Außerdem besaß es keine Fenster, was gegen Kälte druchaus gut sein kann. Andererseits war es eben auch das Zimmer ohne Heizung. Aber das würde ich schon aushalten. Außerdem wollte ich mir eine feste Bleibe suchen, das unbeheizte Zimmer würde nur eine vorübergehende Lösung sein.

Die ersten Wochen verbrachte ich damit, mich nach leeren Häusern umzusehen und mich mit Leuten zu verabreden, die ein Haus besetzen wollten. In Utrecht wurde damals jede Woche ein Haus oder eine Wohnung besetzt. Das war Routine. Es war sogar legal, solange man nachweisen konnte, dass das Haus mindestens 6 Monate leer stand. Dann bekam man Hausfrieden zugesprochen, also recht auf Wasser, Gas und Strom. Die Besitzer mussten die Besetzer dann rausklagen. Was ihnen allerdings immer gelang.

In jenen Dezembertagen schlich ich mich nächtelang durch die eisigen Utrechter Gassen um vermeintlich leerstehende Häuser auszukundschaften. Prüfen ob nachts Licht brennt, Streichhölzer in den Türrahmen stecken und in den nächsten Nächten mehrmals nachsehen ob die Streichhölzer noch steckten, weil man dadurch herausfinden konnte ob zwischenzeitlich die Tür geöffnet wurde. Kurz vor Weihnachten war das natürlich nicht hundertprozentig aussagekräftig, kleine Häuser konnten da schon mal über mehrere Wochen leer stehen und in Utrecht sind die alten Häuser oft so klein, dass sie tatsächlich nur von einer einzigen Familie oder einer einzigen Person bewohnt werden. Für jene Nächte hatte ich mir Handschuhe, eine Mütze und einen Schal zugelegt. Wenn ich mit meinem neuen Freund Jochem durch die Straßen lief, redeten wir eigentlich kaum, es war zu kalt um freiaus zu reden. Unsere Gesichter waren im Schal und unter der Mütze verschwunden. Wir redeten nur über die Eckdaten „Streichholz noch da“ „Gut, kein Licht“ „Lass uns ein Bier trinken gehen“.

In die Kneipe zu gehen und das erste Bier zu trinken war immer das schönste. Wenn man rein in den warmen Raum geht, Schal und Mütze abnimmt und das erste Bier von innen her Ohren und die Nase auftaut.

In der Zwischenzeit wohnte ich noch in der besetzten Schule in diesem unbeheizten Zimmer. Ich schaffte mir einen kleinen Gasstrahler für 10 Gulden und eine Propangasflasche an. Als die anderen Bewohner der Schule das erfuhren, gab es ein Riesentheater, da man man keine Gasflaschen im Haus haben wollte. Vor drei Jahren war ein besetztes Haus an der Aquamarijnlaan wegen einer Gasflasche in die Luft geflogen. Die Stimmung war eindeutig gegen mich, ich musste mich von der Gasflasche verabschieden und sie wieder zurückgeben. Mich ärgerte das ungemein, nicht nur wegen der Kälte sondern auch, weil ich für die Flasche einmaligen Pfand bezahlt hatte, den ich nicht wieder zurückbekommen würde. Das waren immerhin 30 oder 40 Gulden. Eine Menge Geld für mich. Damals war ich noch nicht so gut vernetzt, dass ich die Flasche in der Zwischenzeit bei jemandem unterbringen hätte können, auch Jochem gab mir zu verstehen, dass Gasflaschen seit dem Aquamarijnlaanvorfall, in seinem Haus unerwünscht seien. Ich wollte mich aber nicht von der Flasche trennen und versteckte sie daher im Unterholz eines Baumes am Ufer der Catharijnesingel. Ich kam da jeden Tag daran vorbei, wenn ich mit dem Fahrrad von der Innenstadt zu meiner Unterkunft in die Lanslaan fuhr. Das äußere Ufer der Catharijnesingel ist eine Böschung mit mehreren alten Bäumen. Da jener Abschnitt sehr stark befahren war gab es faktisch keinen Fußgängerverkehr, allerdings einen Fahrradweg, so konnte ich nachts einfach anhalten und die Gasflasche ins Unterholz legen und hoffen, dass sie einige Wochen unentdeckt blieb.

Zu Weihnachten waren die meisten Bewohner der besetzten Schule weggefahren. Nur wenige Leute blieben zuhause. Wir kochten gemeinsam und tranken das eine oder andere Bier. Aber der Gasofen fiel ständig aus, so musste der Zündknopf etwa alle zehn Minuten händisch gedrückt werden. Nach dem zweiten oder dritten Bier verschwanden nacheinander alle in ihre Zimmer. Ich blieb noch eine Weile in der Küche, aber das ständige Anschalten des Ofens nervte mich irgendwann auch, also ging ich in mein Zimmer, verkroch mich in meinen Schlafsack, der für minus zwanzig Grad angelegt war, und las ein Buch.

In jenen Wochen wachte ich jeden Morgen mit einer kalten Nase auf. Ich kroch aus dem Schlafsack heraus, zog meine Kleider aus, waschte mich, und zog die Kleider wieder an.

Mitte Januar besetzte ich mit Jochem, Nicolette und Linda ein Haus in der Lange Nieuwstraat. Ein knuffeliges, kleines Altstadthäuschen aus dem 17. Jahrhundert. Das Haus bestand aus einem Erdgeschoß, einer ersten Etage und einem Dachgeschoß. In den beiden Obergeschossen befanden sich je zwei Zimmer. Das Erdgeschoss war früher ein Gewerberaum, er ließ sich kurzfristig nur als Lagerraum verwenden, aber wenn wir dort länger wohnen bleiben würden, wollten wir es als Wohnzimmer umfunktionieren.

Die Obergeschosse waren zum Teil ausgebaut und renoviert worden, es gab funktionierende Wasserleitungen aber keine intakten Stromleitungen. Es gab auch ein ein Heizungssystem. Zentralheizung mit Leitungen und schicken Heizkörpern. Allerdings keinen Boiler bzw Verbrenner, der die Heizung mit Hitze versorgen konnte.

In der Hausbesetzerszene gab es immer außerordentlich viele Fachkräfte. Für jedes technische Problem gab es immer jemanden, der es lösen oder reparieren konnte. In besetzten Häusern gab man sich allgemein aber auch immer schnell mit Provisorien zufrieden. Heizungen waren immer entweder Holzöfen oder Gasöfen. Eine Zentralheizung war teuflische Raketentechnik.

Wir fanden im ersten Winter niemanden der unsere Zentralheizung in Gang setzen konnte. Richtige Heizungsfirmen hätten das sicherlich lösen können, aber vermutlich hätten sie von uns keinen Auftrag angenommen und zweitens wäre uns das sicherlich teuer zu stehen gekommen.

Ich zauberte natürlich meine Gasflasche von der Catharijnesingel hervor. Mein Gasstrahler den ich an die Flasche anschließen wollte, war natürlich nicht mit einer leistungsstarken Heizung zu vergleichen. Er produzierte keine Umluft, sondern er strahlte einfach starke Hitze in seiner unmittelbaren Nähe ab. Er eignete sich also eher dafür, direkt davor zu sitzen und sich zu wärmen, oder ihn neben sich stehen haben und sich anstrahlen zu lassen während man Karten spielt. Er konnte aber, wie sich später herausstellen würde, einen kleinen Raum auch durchaus komplett aufwärmen, wenn man ihn lange genug brennen ließ.

Aber auch in meinem neuen Haus stieß die Gasflasche auf Ablehnung. Die Aquamarijnlaan.

Die ersten Nächte waren eisig. Trotz der kleineren Räume war es deutlich kälter als in der Lanslaan. Unser neues Haus war monatelang unbewohnt gewesen und damit auch die ganze Zeit über unbeheizt geblieben. Die Kälte saß in den Steinen der Mauern, sie strahlte regelrecht davon ab.

Nach der dritten oder vierten Nacht zapften wir den Strom an, legten ein langes Kabel in Nicolettes Schlafzimmer und schafften uns einen elektrischen Radiator an. So lange wir den Strom illegal verwendeten war das durchaus eine Lösung. Wenn wir mal dafür zahlen mussten, war das natürlich keine Option mehr, denn elektrische Radiatoren fressen Strommengen, die unser Geldbeutel nicht hergeben wollte. Aber wir spekulierten darauf, dass unser Stromkonsum den Winter über unentdeckt bleiben würde.

Durch Nicolettes etwas unprivaten Lebensstiles, verwandelte sich ihr Zimmer bald in so etwas wie das Wohnzimmer. Sie hatte immer Besuch und immer saßen irgendwelche Leute auf ihrem Bett. Das war ungemein praktisch, weil wir deswegen wirklich ein relativ warmes Zimmer im Haus hatten. Der Radiator lief Tag und Nacht und weil immer jemand anwesend war, blieb das Zimmer durchgehend auf einer eher günstigen Temperatur. Der Radiator war nicht besonders leistungsstark und draußen waren die Temperaturen wieder in den zweistelligen Minusbereich gerutscht, aber wenn wir uns einigermaßen ernsthaft bekleideten hielt es uns vom Frieren ab.

In der ersten Februarwoche froren dann die Grachten zu. Das sorgte allerdings auch für gute Stimmung. Man bewegte sich nicht mehr auf den Straßen, sondern spazierte auf dem Eis der Grachten. An den Ufern wurden spontane Glühweinstände eröffnet. Menschen fuhren mit den Schlittschuhen. Man konnte auf den Kaimauern sitzen und dem Treiben zusehen, wo sonst nur Wasser war.

Nachts schmissen betrunkene Leute Kühlschränke und Fahrräder von den Brücken aufs Eis. Die Kühlschränke blieben einfach auf dem Eis liegen. Sie waren nicht schwer genug um das Eis zum Einbrechen zu bringen.

In jener Woche wurde uns dann der Strom abgestellt. Damit war die Traumzeit mit dem elektrischen Radiator vorbei. Das Haus kühlte schnell wieder aus, schließlich war ja nur das eine Zimmer mäßig beheizt worden.

In den beiden häuslich warmen Wochen hatten wir uns auch einen alten Kühlschrank angeschafft. Wir wussten jetzt nicht, was wir mit der Milch und der Butter anfangen sollten. Im Kühlschrank stehen lassen, weil es draußen zu kalt ist? Ich kann mich nicht mehr erinnern wie wir uns entschieden.

Wenige Tage darauf meldeten wir aber den Strom an. Das gab natürlich Stress mit der Stromgesellschaft weil die Bleiversiegelung durchgebrochen war. Aber wir wussten davon nichts, wir sind erst gestern eingezogen. Der Mann vom Strom quittierte das mit Wegwerfgesten. Er schloss uns aber an. Den Radiator würden wir allerdings nicht mehr verwenden. Allerdings hatten wir wieder Licht und auch der Kühlschrank funktionierte wieder.

Die Temperaturen blieben jedoch niedrig, nachts hing das Mercurius bei Minus 15 Grad herum. Tagsüber wurde es manchmal einstellig. Meistens aber nicht. Ich schlief mit Mütze. Jochem auch. Nicolette hatte immer Männer im Bett. Das fand ich auch kreativ. Linda weiß ich nicht mehr. Oft schlief sie auch bei Nicolette. Aber nicht wenn Männer da waren.

So war das. Irgendwann ging der Winter aber wieder weg.

[bajen]

(Mein Auto. Und warum mein Auto es in Schweden schwer hat)

Was man über Schweden wissen muss, ist vielleicht, dass es zwei Buchstabenkombinationen gibt, die auf Autokennzeichen verboten sind. Dies sind die Wörter „FAN“ und „BAJ“. Schwedische Kennzeichen bestehen ja aus drei Buchstaben. Das erste Wort heißt auf schwedisch „Teufel“ und das zweite Wort heißt „Scheiße“. Nun kann ich mir schwer vorstellen, dass man das Wort Teufel noch für öffentliche Provokation gebrauchen kann. Scheiße hingegen, hat durchaus noch Potential.

Was man über Berlin wissen muss, ist vielleicht, dass alle in Berlin zugelassenen Autos mit einem „B“ beginnen und, wie in Deutschland üblich, dahinter noch zwei Buchstaben folgen.

Was man über meine Frau wissen muss, ist vielleicht, dass sie aus Schweden kommt und, dass sie über einen maliziösen Humor verfügt. Ob die Geschichte mit dem BAJ und dem FAN stimmt, habe ich in all den Jahren nie überprüft, ich glaubte ihr bisher blind.

So saßen wir vor einigen Jahren beim Kauf des Autos zusammen beim Händler, der uns nach unserem Wunschkennzeichen fragte. Ich hatte keinen Wunsch, ich finde Initialien auf Autokennzeichen Käse, ich finde es auch Käse mich in irgendeiner Weise über mein Auto auszudrücken. Meine Frau hingegen sagte ungerührt, sie hätte gerne „AJ“.
„Seriously?“ morste ich ihr mit meinen Augenlidern zu „du willst BAJ auf unserem Auto stehen haben?“. Sie nickte unbekümmert.

Als ich das erste mal mit meinem Auto nach Schweden fuhr stoppte mich eine ernste Polizistin an der Grenze. Woher ich käme. Berlin, sagte ich. „With this car?“ sagte sie mit einigem Entsetzen. Mein Auto ist ein Up und hat 59PS. Ich sagte ganz stolz „Yes and it has 59 horses!“. Sie nickte ernst. Sie lief einmal begutachtend um den Wagen herum. Dann sagte sie „You know, you have Baj on your license plate.“ Das war keine Frage. Ich sagte nichts. Sie sagte aber auch nichts. Danach ließ sie mich fahren.

Gestern parkte ich an einer Raststätte südlich von Halmstad. Gegenüber war gerade eine Familie aus ihrem Van gestiegen. Der Vater zeigte auf mein Autokennzeichen. Die ganze Familie lachte.

Ein paar Stunden später stand ich an einer dieser spukigen Selbstbedienungszapfanlagen im schwedischen Wald. Ich bekam den Tankvorgang nicht ans Laufen. Der Automat nahm meine Karte zwar an, wollte aber etwas von mir das ich nicht verstand. Dann kam eine Frau herangefahren. Sie war weit über sechzig Jahre alt, hatte sehr struppiges Haar und war an beiden Armen großflächig tätowiert. Ich fragte sie ob sie englisch spreche (eine überflüssige Frage in Schweden) und mir helfen könne. Das tat sie. Sie war recht freundlich. Dann wollte wissen woher ich käme. Ich sagte, ich käme aus Berlin. Ich sage immer ich käme aus Berlin, im Ausland sind Berliner beliebter als Deutsche. Außerdem will ich ja nicht, dass man einen Bayern in mich hineininterpretiert. Sie sagte, du hast Baj auf deinem Auto stehen. Dann fing sie an zu lachen. Sie hatte oben nur einen Zahn. Sie kriegte sich vor Lachen gar nicht mehr ein. Sie lachte so ausgiebig, dass ihr Zahn oben zu wackeln schien. Mir machte das Angst.

In meiner angeheirateten Familien nennt man mein Auto liebevoll Bajen. Das ist Baj mit Artikel. Schweden machen das so. Sie haben keine Artikel, aber sie hängen irgendwas hinten dran. Bei Baj ist es ein -en. Bajen ist nett gemeint. Ich fasse es auch als nett auf.

[loses über den Regen]

Am Kottbusser Damm auf dem Weg zur Apotheke von Markise zu Markise gehopst. Und unter jeder Markise dieser Optimismus der Leute: wird schon gleich aufhören. Etc. Hab mich total anstecken lassen. Als es nicht weniger wurde, bin ich weitergehopst. Unter der nächsten Markise wieder, dieser Optimismus der Leute: wird schon gleich aufhören. Hab mich wieder anstecken lassen.

Dann diese umwerfende Symbolik. Heute wird über die Ehe für alle abgestimmt. Derweil hämmert der Regen sintflutartig auf das berliner Pflaster, Straßen stehen unter Wasser, über den Bürgersteigen fließen Bäche, der Tag verfinstert sich ständig. Es würde mich freuen wenn die gottesfürchtigen Konservativen kollektiv zu ihren Bußgürteln greifen. Um uns zu bewahren vor ihren Sünden. Mit richtig langen und spitzen Nägeln an der Innenseite.

Drinnen: hach, romantischer Sommerregen

Draußen: ≈

 

[NCE]

Wir tragen unsere Termine immer in den Kalender am Kühlschrank ein. Terminname und Kürzel. K ist der Kürzel für meine Frau und M ist der Kürzel für mich. Vor einigen Wochen wollte ich für dieses Wochenende den Termin „Nizza M“ in den Kalender eintragen. Da stand bereits ein Termin. Das ist durchaus gewöhnlich.
Diesmal aber stand „Nizza K“. Gleiche Stadt, gleiches Wochenende, unterschiedliche Termine. Wir arbeiten in ganz unterschiedlichen Branchen, haben andere Hotels, haben nicht kompatible Termine, ganz andere Abendgestaltung. Wir sind in der gleichen Stadt 1000km von zuhause entfernt und werden einander nicht sehen.

Gestern Nacht beim Einschlafen, jeder in seinem Hotelzimmer in seinem eigenen Einpersonenbette. Es gibt ja diese Apps wo man den jeweils anderen auf einer Karte anzeigen lassen kann. So sind wir dann eingeschlafen. Mit dem Blick auf die Geokoordinaten des jeweils anderen. Weit weg von zuhause.

Ich finde das bringt Romantik auf eine ganz neue Ebene.