Ich hatte ursprünglich über Doctolib einen Impftermin für Ende Juni ergattert. Dabei hatte ich vermutlich schlichtweg Glück. Ich checkte drei oder vier Mal pro Tag auf dem Portal nach freien Terminen. Ich war aber nie erfolgreich und war auch nie besonders hoffnungsvoll. Aber drei oder vier Mal pro Tag die Seite aufrufen, das kann ja nicht schaden.
Einmal, kurz vor Mitternacht, als ich gerade schlafen gehen wollte, klickte ich zum Abschluss des Tages nochmal auf jene Seite und auf einmal gab es mehrere freie Termine im Impfzentrum Tegel. Das war eine so ungewohnte Ansicht, dass ich zuerst dachte, die Seite hätte einen Bug.
Ende Juni würde der Termin sein, vor ein paar Wochen klang das noch nach „ewig hin“, aber es ist immerhin ein Termin am Horizont. Darüber war ich sehr erfreut.
Gestern saß ich dann in einem Call mit einem externen Dienstleister. Fünf Menschen vor mir auf dem Bildschirm, mit denen ich eine Dienstleistung aushandelte.
Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass ich seit einigen Wochen bei einem Arzt auf der Impfliste stehe. Man sagte mir, das könne noch Wochen oder Monate dauern, es kann sich aber auch ganz plötzlich ein Termin auftun, da müsste ich dann sehr flexibel und schnell sein.
Seitdem habe ich das Telefon im Blick. Und nehme jeden Anruf entgegen. Vor allem wenn eine mir unbekannte Nummer auf dem Display aufscheint. Normalerweise ist mein Telefon lautlos, Anrufe verpasse ich so gut wie immer.
Seit ich ein Impfkandidat bin, habe ich das Telefon entstummt, eine auffällige Klingelmelodie eiungestellt und es steht angelehnt und aufrecht neben meinem Monitor.
Als ich also mit den fünf Herren eine Dienstleistung aushandelte, leuchtete mein Telefon auf, es begann zu vibrieren und die ersten Takte einer elektronischen Version von Bachs Fuge in D Moll sprang in den Lautsprechern an. Auf dem Display prangte eine Berliner Festnetznummer. Ich sagte den Dienstleistern I-need-to-take-this-call, mutete mich und nahm den Anruf an. Es war eine Praxis, die mir kurzfristig einen Termin anbot. Ich sah, wie die fünf Dienstleister mich am Monitor etwas ungläubig anstarrten.
Ich schrieb mir alles schnell auf einen Zettel, dabei war ich offenbar so aufgeregt, dass ich mir einige Angaben falsch notierte. zB den Tag. Das verstand ich aber erst im Nachhinein, als ich merkte, dass der Wochentag nicht mit dem Datum übereinstimmte. Ich konnte es glücklicherweise klären. Am Freitag also. 11:30 Uhr.
#
Am Abend traf ich Frau Modeste am Hackeschen Markt für einen Spaziergang. Wir machten eine weite Runde durch das Scheunenviertel. Vor dem Neptunbrunnen am roten Rathaus setzen wir uns auf eine Bank. Es ist erstaunlich, wie lange hier überall Baustelle war. Sicherlich zehn Jahre lang. Jetzt wo die Schotten weg sind, ist wieder diese Weite da. Wie sehr man sich an die Baustelle gewöhnt hatte. Ich bin schon einmal mit der neuen Ubahn gefahren. Eigentlich müsste man an den einzelnen Stationen aussteigen, die Tageszeitungen haben immer wieder Fotos der Innenarchitektur gezeigt, das sah schon gut aus. Auch wenn ich mich mehr über neue und effiziente Ubahnlinien freuen würde als über einzelne super designte. Da bin ich ganz deutsch geworden. Ich werde mir die Bahnhöfe sicherlich ansehen, wenn die Pandemie vorbei ist.
Wir reden über Deutschland. Ich bin in letzter Zeit so deutschlandmüde geworden. Als ich in dieses Land zog, brach gerade das letzte Schröder/Fischer Jahr an und ich hatte damals das Gefühl in ein progressives Land zu ziehen. Ja, man kann auch jene Regierung kritisieren, aber das ist mit allen Regierungen so und mir geht es auch weniger um Details, oder um falsche Entscheidungen, sondern um den allgemeinen Kurs des Schiffes. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass Deutschland bei allen progressiven Themen immer das letzte Land ist, sei es bei der Lust auf neue Technologien, beim Umdenken in Richtung klimafreundlicher Politik, beim Verkehr, beim Vorangehen mit einer europäischen Idee, bei sozialprogressiven Themen wie die Ehe für alle, usw. für mich fühlt es sich an, wie ein sechzehnjähriger Cocon, in der man zwar versucht hat, irgendwie im Zeitgeist nicht ganz den Faden zu verlieren, aber eigentlich ging es immer nur darum, einen Status Quo zu verwalten. Ich weiss nicht, wie es weitergehen wird. Sicherlich würde ich mich über eine Kanzlerin Baerbock freuen, ich weiss aber nicht, ob man in diesem Land kurzfristig wirklich progressiv sein kann. Vor allem, weil die Grünen im Kern ja auch eine Partei mit einem konservativen Geist geworden sind. Und eine Koalition mit Laschet, ohgott, will ich mir gar nicht vorstellen.