[Dienstag, 2.11.2021 – Allerseelen]

„Guter Regen weiss, wann er fallen muss.“

(Dufu, chinesischer Dichter. Squid Game, Episode 9)

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Allerseelen. Bis vorgestern dachte ich, Halloween sei kulturgeschichtlich das Gleiche wie das katholische Allerseelen, jetzt weiss ich aber, dass Allerseelen einen Tag nach Allerheiligen kommt und somit erst zwei Tage nach Halloween. Allerseelen ist mit dem unheimlich ästhetischen „Dia des los Muertos“ aus Mexiko gleichzusetzen.

Wieder was gelernt.

Allerseelen ist in den südtiroler Bergdörfern jener Tag, an dem man der Toten gedenkt. In meiner Kindheit bedeutete das, viel Zeit auf Friedhöfen zu verbringen, Weihwasser bei Oma, Weihwasser bei Opa, Weihwasser bei Tante von Mutter, Weihwasser bei der Tante, die an Krebs gestorben ist. Für jedes Grab eine rote Grabkerze mit diesen Messingdeckeln oben drauf. Diese Friedhofsstimmung an grauen Novembertagen, mit diesen tausenden, rot leuchtenden Grabkerzen, das fand ich schon sehr besonders. Allerheiligen war immer öde, mit Heiligen konnte ich wenig Anfangen, aber Allerseelen war anders, viel greifbarer. Meist besuchten wir beide Dörfer meiner Eltern, wir besuchten alle Verwandten in den Gräbern auf den Friedhöfen. Die Menschen trugen schwarz. Später traf man sich in den Gasthäusern. Die Eltern verbrachten dort mehrere Stunden. Sie spielten Karten, aßen. Andere Kinder waren da. Das waren die Kinder der Verwandten, die man ein oder zweimal im Jahr traf. Manche mochte ich, manche nicht.

Mein Vater erzählt oft diese Anekdote, dass ich als dreijähriger Junge zu Allerseelen wieder einmal abgehauen war. Als Kind haute ich offenbar ständig ab. Einmal lief ich die ganze Hauptstrasse vom Dorf hinunter ins Tal um meinem Vater entgegenzulaufen. Ein andermal fand man mich nach vielen Stunden der Suche, vergnügt zwischen den Kühen auf der Weide sitzen. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich ein halbes Dutzend Menschen zu einem Suchtrupp formierten und nach mir suchten.
An diesem Abend zu Allerseelen geschah es wieder. Ich war drei Jahre alt. Meine Eltern betrieben ein Gasthaus. Weil Allerseelen ein Feiertag ist, und an Feiertagen nach der Kirche immer alle ins Gasthaus strömen, besuchten wir vermutlich keine Verwandte. Irgendwann am Nachmittag war ich dann wieder verschwunden.

Die Geschichte geht so, dass mein Vater auf der Suche nach mir über den Dorfplatz lief und ihm zwei Frauen panisch entgegenliefen. Sie sagten, auf dem Friedhof würde es geistern, die Lichter würden schweben. Alles sei verhext. Mein Vater, der nur an Geister glaubte, wenn es ihm passte, fand die Geschichte komisch, beruhigte die Frauen und sagte, er würde sich das mal ansehen.
Man kann in diesem Dorf von der Strasse aus auf den Friedhof hinunterschauen und erhält dadurch eine ziemlich gute Sicht über den großen Teil des Friedhofes. Nur ein kleinerer Abschnitt liegt hinter der Kirche, den man von da aus nicht sehen kann.
Die Lichter leuchteten in der Tat nicht mehr auf den Gräbern, sondern sie hatten sich alle auf einem zentralen Ort auf dem Friedhof zusammengefunden. Wie eine Andacht. Nur wenige Grablichter leuchteten noch schwach in den hinteren Ecken des Friedhofes. Als mein Vater eines dieser Lichter aus der Dunkelheit kommen sah, ahnte er, was da los war und betrat den Friedhof.
Er begegnete mir, ich hielt eine Grabkerze in der Hand, und bereitete gerade eine privaten Kerzenparty vor.

Jetzt weiss ich nicht, wer das wieder aufräumte. Ich müsste mal meinen Vater fragen.