[Dienstag, 7.12.2021 – Zinnowitz, KZ Sachsenhausen]

Gestern, also am Montag, fuhren wir spontan nach Zinnowitz. Wir haben beide noch viele Urlaubstage, die wir aufbrauchen sollen, ausserdem wollte ich ansatzweise auch für die ausgefallene Reise nach Tromsö kompensieren.
Wir waren das erste Mal vor 11 Jahren in Zinnowitz. Es gab frühen diesen Ubahnhof an der U6, mit dem Namen Zinnowitzer Strasse. Ich fand heraus, dass das ein Badeort auf Usedom ist. Deswegen schlug ich damals vor, nach Zinnowitz zu fahren.
Heute heisst der Bahnhof „Naturkundemuseum“. Wer weiss, wo wir hingefahren wären, hätte der Bahnhof damals nicht so geheissen.

Seitdem sind wir oft nach Zinnowitz gefahren. Ich war auch zwei Mal alleine da. Im Winter. zum Schreiben. Das tat ich früher öfter. Alleine irgendwo hinfahren und Sachen in ein Notizbuch schreiben.
Wir haben seitdem auch andere Orte an der Küste aufgesucht. Binz auf Rügen, verschiedene Orte auf dem Darß, Insel Poel, auch die anderen Kurbäder auf Usedom, Ahlbeck, Heringsdorf, Bansin etc. aber nirgendwo gefiel es uns besser als in Zinnowitz. So kamen wir immer wieder zurück.

Und nichts ist so schön wie der Besuch eines Ferienortes ausserhalb der Saison. Diese Ausgestorbenheit. Es ist nicht tot, es ist ausgestorben. Ein totes Dorf ist tot. Ein Ferienort ist ausgestorben. Die Promenade, die großen Häuser, die Terrassen. Nur wenige Hotels haben geöffnet, nur wenige Bars, alles ist auf ein Minimum heruntergefahren. Man trifft immer die gleichen Leute auf der Promenade. Manche sieht man abends im Restaurant wieder.

Auf Usedom ist 2G+. Auch so etwas fürs Archiv. Das werden wir in ein paar Jahren vergessen haben. Ins Hotel durften wir nur mit 2G+ also Geimpft oder Genesen plus tagesaktuellen Test. In der Kurhalle an der Promenade kann man sich testen lassen. Das negative Testzertifikat wird dann per Email auf das Telefon geschickt. In den Hotels und Restaurants muss man dann immer den Impfnachweis und das Testzertifikat vorzeigen. Immer als QR Code. Es wird strikt kontrolliert.

Später laufen wir den Strand hinunter, es ist erstaunlich mild. Meine Winterjacke heizt mich auf, ich muss sie öffnen. Wir begegnen einem Möwenschwarm, der am Strand steht und bei jeder Welle nach angeschwemmten Muscheln schnappt.

Vorm Einschafen schauen wir im Bett fern. Es läuft eine Sendung über die Ampel. Die Kandidaten und ihr Programm werden vorgestellt. Wir haben schon seit Jahren kein lineares Fernsehen mehr. Wir schauen eigentlich nur Streamingdienste auf dem TV. Wir nennen die aber auch Sender. Es ist aber schön. Ich merke, wie lange ich das schon nicht mehr getan habe. Irgendwo reinzuzappen und hängenzubleiben. Wir waren vom Tag allerdings sehr müde und schliefen bald ein.

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Dienstag.

Am heutigen Dienstag machten wir noch einen längeren Spaziergang am Wasser. Es hatte minus einen Grad, es fühlte sich wesentlich kühler an als gestern.

Um elf Uhr mussten wir auschecken und wir beschlossen kurzerhand zurückzufahren und dabei in Oranienburg zu halten um das KZ in Sachsenhausen zu besichtigen. Ich war noch nie in meinem Leben in einem KZ. In meinen jungen Jahren war ich radikaler Antifaschist. Aber ich war nie in einem KZ. Das hat möglicherweise damit zu tun, dass ich in Italien aufgewachsen bin und der Holocaust dort nie ein besonders großes Thema war. Natürlich war es ein Thema, aber eben eines der vielen Themen aus dem Geschichtsbuch, das emotional nicht sehr aufgeladen war. Ausserdem war der Holocaust in Südtirol immer die Tat der Deutschen. Das ist eine Haltung, die Österreicher und auch Bayern schön für sich eingenommen haben.

Meine Frau kennt auch andere Konzentrationslager, ihr gefiel an dieser Gedenkstätte vor allem, dass es die Taten und die Gräuel in den Hintergrund stelle, aber dafür die Geschichten der Toten am Leben erhalte.
Ich hatte mir eher eine Ästhetisierung des Terrors erwartet, insofern fand ich das überraschend gut.

Die ganze Holocaust Geschichte ist so unfassbar monströs. Sie ist auch dermassen monströs, dass ich sie nur mäßig als Mahnung geeignet finde. Vor allem den Rechten gibt der Holocaust eine willkommene Abgrenzung vom Nazitum, weil es leicht ist, sich von solch einer Monströsität distanzieren. Und jeder halbwegs gesellschaftsfähige Nazi kann sagen: ich bin kein Nazi, weil ich nicht systematisch Millionen von Menschen in Gaskammern schicken würde. Ähnlich funktionierte ja auch das System Trump. Die Parallelen zur NSDAP waren offensichtlich, aber wehe es gab einen Nazivergleich, weil Trump ja keine Millionen Menschen in die Camps schicken würde. Es war ja nur Ausgrenzung von Menschen und nur Mexicans, die zurück über die Mauer sollten.

Damit will ich die Gedenkstätte oder die Erinnerung natürlich nicht abwerten. Ich meine damit lediglich, dass es als Mahnung nicht so funktioniert, wie es sollte.