Um halb zwei fuhr ich dann los ins Olympiastadion. Üblicherweise treffe ich meine Freunde ab zwei Uhr am sogenannten Rondell. Das ist kein richtiges Rondell, es ist lediglich ein vage definierter Ort zwischen Ausgang des Sbahngeländes, einem Mülleimer und einem Bierausschank, ich weiss nicht, warum man das so nennt. In der Sbahn sitzt eine ältere Dame neben mir, als ich aussteige, wünscht sie mir Glück für das Spiel, ich sage vielen Dank, das kann ich gebrauchen, sie sagt, ich weiss, aber das wird schon wieder werden, das ist immer ein auf und ab. Sie fährt weiter nach Spandau, ich laufe über die Brücke zum Rondell, dort treffe ich Anne, die seit dem Spiel gegen Köpenick meine Dauerkarte hat, eigentlich sollte ich sie beim Spiel gegen Gladbach wiederbekommen, aber weil ich gegen Gladbach nicht konnte, behielt sie die Karte und nahm dafür jemand anderes mit ins Stadion. Dann traf ich Tanja, Klaus und alle anderen, Benny war schon im Stadion drin, weil der heute wieder die beiden Banner aufhing, das Banner vom Fanclub und das Banner von der Initiative Blauweisses Stadion, die ja auch irgendwie mit uns verbunden sind. Nach der Winterpause gab es einen Konflikt mit einem anderen Fanclub, die ihr Banner an unserer Stelle aufhängen wollten, das war eine Gruppe Männer, die offenbar handgreiflich geworden waren, deswegen gab es im Januar ein Mediationsgespräch mit mehreren Beteiligten, u.a. Ranghohen Vertretern der Ultras. In diesem Gespräch wurde unserem Fanclub das Recht für den Platz zugesprochen. Das sind Konflikte, die versteht man nur im Stadionkontext, ausserhalb des Stadions wirkt das alles wie ein Spielchen für Kinder.
Mir persönlich ist das Banner nicht so wichtig, aber unser Fanclub ist mittlerweile sehr gross und wegen unseres politischen Aktivismus auch bedeutsam, vielen ist das Banner unabdingbar.
Benny würde mir einen Platz neben sich und seiner Frau reservieren, ich konnte mir also ein wenig Zeit lassen. Draussen traf ich auch Annika, die heute ihr Comingout als Trans Person haben würde. Ich wusste bereits seit einigen Tagen Bescheid, sie würde heute zum ersten Mal geschminkt ins Stadion kommen, und während bzw nach dem Spiel allen Menschen Bescheid geben.
Gegen zwanzig vor drei setzten wir uns in Bewegung und gingen ins Stadion, unterwegs erwischte ich einen dieser mobilen Bierverkäufer, wodurch ich mir jede Menge Zeit sparte, die ich nicht in Menschenschlangen verbringen musste, im Stadion verbringt man ja immer Zeit in Menschenschlangen, beim Eingang, beim Bier, bei der Toilette, bei der Wurst, beim Rausgehen, zurück am Bahnsteig, immer in Schlangen.
Die erste Halbzeit war ein seltsam ereignisloses Geplänkel im Mittelfeld. Meine Aufmerksamkeit driftete etwas ab, es passierte viel um mich herum, ich quatschte hier und da, eine Reihe vor uns stand ein junger Mann, der mit freiem Oberkörper die Mannschaft anfeuerte. Dann fing es an zu Nieseln und zu schneien, eine Art Graupelregen, ein weisser Flaum schwebte vom Stadiondach herunter und breitete sich wie Feeenstaub über uns aus.
Ich musste ständig pinkeln, ging in der ersten Halbzeit zweimal raus, holte mir Bier nach, aber auch während des Spiels steht man dort in der Schlange, sowohl an den Toiletten wie auch am Bier, aber natürlich sind die Schlangen da wesentlich kürzer.
In der Halbzeitpause redete ich länger mit Inis, die an der Mediation wegen des Banners beteiligt war. Sie ist unsere Zeugwärtin und massgeblich mit den Bannern vertraut.
In der zweiten Halbzeit drehte meine Mannschaft dann auf. Das Spiel wurde munter, zuerst schoss Marco Richter aus 25 Metern ein Tor und kurz darauf folgte Dodi mit einem cleveren Lauf und erhöhte auf 2:0. Bei diesem Spielstand blieb es auch und weil auf den anderen Plätzen unsere direkten Konkurrenten alle verloren, befreiten wir uns aus den Abstiegsplätzen und stehen nun auf dem 14. Platz. Die Freude war gross. Die Mannschaft kam in die Kurve und wurde von 20000 Fans gefeiert.
Danach stiegen Benny und ich in den Oberring hinauf um das Banner abzunehmen, da befanden sich aber bereits mehrere Mitglieder unseres Fanclubs, die das bereits erledigt hatten. Das Banner ist derzeit ein heikles Thema. Benny brachte steckte das Banner ein und brachte es jemandem, der es unter der Woche aufbewahren würde, ich ging in der Zwischenzeit zurück zum Rondell um die anderen zu treffen, ich wartete noch bis der erste grosse Lauf auf die Sbahnen vorüber war, dann gingen Tanja, ihr Sohn und ich auch hinunter auf die Gleise. Weil die dort wartende Bahn nur bis Charlottenburg fuhr, stiegen wir Westkreuz in die Ringbahn über und so kamen wir irgendwann alle zuhause an.