Auch so eine Sache: wenn ich mit Menschen am Tisch sitze, kann ich auf die Gleitsichtbrille schon nicht mehr verzichten. Spätestens nach dem ersten Drink legt sich meine Sehschärfe auf die Couch und gibt sich dem allgemeinen Flow hin. Die Arbeit kann getrost jemand anders erledigen, die Brille zumbeispiel. Wenn ich die Brille absetze, merke ich, dass ich mich anstrengen muss und dabei trotzdem nicht ganz scharf sehen kann. Es ist, als wären die Augen müde, wie im Alter halt, man wird etwas schneller müde. Das ist neu für mich, ich war immer Herr meiner Sinne, ich war es Jahrzehnte lang gewohnt, scharf zu sehen und scharf zu hören. Ich verstehe jetzt erst die Tragik von Menschen, die ohne Brille so gut wie nichts sehen können. Früher dachte ich immer jaja, aber es gibt ja Brillen. Das stimmt immer noch, jaja, es gibt ja Brillen, aber diese Einschränkung, wenn man die externen Mittel nicht zur Verfügung hat bzw die Planung drumherum und auch die damit verbundenen Kosten, und natürlich die damit verbundene Furcht, in den Sinnen eingeschränkt und etwas hilflos zu sein, das war mir vorher nicht bewusst. Glücklicherweise ist mein Gehör immer noch intakt. Ich höre noch jedes leise Fiepen und Piepen, das Menschen in meinem Alter oft nicht mehr wahrnehmen.
Heute stürzte meine Frau ziemlich unglücklich in der Küche, also blieb ich zuhause.
Die Hündin ist jetzt seit fünf Tagen läufig. Ich protokolliere das in einer Tabelle. Ihr Verhalten mit anderen Tieren, ihr Verhalten beim Markieren, die Blutmenge und wie sie sich ohne Leine verhält. Das geht noch alles ziemlich gut. Es ist aber auch erst Tag fünf. Nächste Woche beginnen dann die schwierigen Tage. Ich führte auch bei der letzten Läufigkeit Protokoll, ich lege deswegen die beiden Protokolle nebeneinander und vergleiche. Es war letztes Mal alles genau so. Ab Tag 8 nahm ich sie letztes Mal an die Leine. Aber ich schrieb nicht warum.
In den Park kann ich nicht mehr gehen. Vorgestern war Luke da, ein junger, athletischer Husky/Schäferhundmischling. Ein netter, aber auch sehr dominanter unkastrierter Rüde, sie kennen sich gut, normalerweise spielen sie und rennen miteinander. Diesmal roch er einmal an ihr und war danach kaum noch einzukriegen.
Es fehlt mir schon, in den Park zu gehen und mit den Leuten zu quatschen und auf der grosse Wiese zu spazieren. Jetzt laufen wir halt durch den Kiez. Es ist anders, aber das ist nun so.
In der Nacht zu heute liefen wir an vielen Stolpersteinen vorbei. Das Gedenken an die Reichsprogromnacht. An den Stolpersteinen wurden Blumen und rote Grablichter abgelegt. Man sieht sie überall im Kiez. Ein paarmal blieben wir stehen, lasen die Namen ab. Die meisten wurden nach Auschwitz deportiert und auch dort ermordet. Viele auch in Treblinka. Die Hündin hielt grossen Abstand. Die fackelnden roten Flammen fand sie höchst suspekt. Später las ich, dass die meisten Tötungen mit Motorabgasen durchgeführt wurden und gar nicht mit Zyklon B. Zyklon B verwendete man nur in Auschwitz. In Treblinka gab es auch Massenerschiessungen. Einfach so, tausende wehrlose Menschen aufgestellt und mit Gewehren drauf geschossen, als wären es Reissäcke. Dummerweise bringt es wenig, an solche Taten zu gedenken, diejenigen, die sowas tun, würden es wieder tun, und dem Grossteil der Leute ist es egal, wie man sieht. Man lernt eben nicht aus der Geschichte.
Sind jetzt alles keine klugen Gedanken. Aber sie müssen halt irgendwohin.