Ahnengalerie – mütterlicherseits (eine Chronik)

(Weil die Kaltmamsell wieder Familiengeschichte erzählt, fiel mir ein, dass ja noch immer die Fortsetzung meiner Ahnengalerie aussteht. Der zweite Teil behandelt die Familie meiner Mutter.)

Der Unterkapiller Hof ist ein altes Bauernhaus in den Bergen nördlich von Bozen, auf einem steilen Hang oberhalb eines Dorfes. Das Dorf zählt 640 Einwohner und liegt auf 1100 Metern Meereshöhe. Weil es so schwer zu erreichen ist, baute man in 1905 eine Güterdrahtbahn und später in 1955 eine Personenseilbahn. Es gab natürlich auch ein Landweg, der war aufgrund der Steilheit aber nur für Fussgänger geeignet. Der Fussweg wurde mit dem Aufkommen von Autos verbreitet, bekam Ende der siebziger Jahre eine Lage Asphalt. Ich kann mich erinnern, wie wir in meiner Kindheit diese Asphaltpiste hinauffuhren. Es war immer Thema, dass die Strasse so schlecht sein. Bei Regen, bei Schnee, immer. Ein paar Mal kamen wir mit dem Auto nicht weiter, weil die Räder durchschleiften. Es gab auch Tage, an denen die Strasse gesperrt war.

Zwischen 1985 und 1990 wurde dann die sogenannte Panorama-Strasse gebaut. Die Panorama-Strasse war eine ganz gewöhnliche Bergstrasse, aber eben mit richtigen Kurven, statt der vorigen sich steil nach oben schlängelnden Asphaltlage.

Mein Grossvater war der Unterkapiller Bauer. Ein schwarzhaariger Kerl mit ernsten, tiefgelegenen schwarzen Augen. Ich kannte ihn eigentlich nur noch als alten, kranken und immer schlechtgelaunten Mann, der seinen Mund nur öffnete wenn man etwas für ihn erledigen sollte. Wenn er nicht anwesend war und man irgendwas angestellt hatte, dann wurde immer aufgeregt getuschelt “Ja bist du denn verrückt, wenn das der Opa sieht!” oder “Lass das ja den Opa nicht wissen”. Ein Mann vor dem sich alle fürchteten.
Er war der zweitälteste Sprössling seiner Familie. Die älteste war seine Schwester Mathilde. Der Unterkapiller Hof wurde von seinem Vater erbaut. Es ist heute ein bisschen schwierig nachzuvollziehen wie es genau um die Erbschaft des Hofes bestellt war. Normalerweise muss die älteste Tochter wegheiraten und bekommt der älteste Sohn den Hof. Aus einem Grund, den ich leider nicht recherchieren konnte, sollte Mathilde den Bauernhof erben und der Alois, wie auch die anderen Söhne, sich mit kleineren Anteilen der Ländereien abfinden. Es kam dann zu einem bitteren Streit woraus Mathilde als Verliererin hervorging und von einem Tag auf den anderen nach Schenna bei Meran zog, wo sie eine Stelle als Kindermädchen anging. Dies geschah irgendwann in den zwanziger oder dreissiger Jahren. Seitdem hat Mathilde nie wieder einen Fuss ins Dorf gesetzt. Erst ihre Töchter suchten in den achtziger Jahren (als diese selbst schon ältere Frauen waren) Kontakt zur alten Familie in den Bergen.

Der Unterkapiller Alois heiratete meine Grossmutter Maria, die selbst zwei geerbte Wiesen mit in die Ehe brachte. Sie gebar ihm nicht viele Kinder. Lediglich vier. Alles Mädchen. Eine Enttäuschung für einen Patriarchen. Maria war eine pragmatische Frau mit einem sehr grossen Herzen und diente vor allem als beruhigender Gegenpol gegenüber dem Vater. Es gab im Hause Unterkapill niemals offenen Streit zwischen Vater und Mutter. Auch wenn die Mutter nie ein böses Wort fallen liess wenn der Vater ausrastete, so hatte der Mann grossen Respekt vor dieser Frau. Wenn sich die Töchter nämlich im Schutze der Mutter aufhielten, da waren sie auch sicher vor ihm. So ist es überliefert.

Mein Grossvater war kein gerngesehener Mann. Zwar verweilte er gerne im Wirtshaus, hatte sogar ein überraschendes Talent die Zieharmonika zu bespielen, jedoch war er von Natur aus einer der gerne stritt und grobe Mittel anwendete um an Ländereien zu kommen. Von meinem Grossvater sagt man er habe nur einen einzigen Freund gehabt und selbst diesen habe er abgrundtief gehasst. Dieser Freund war ein anderer Bauer dem ein ähnlichen Ruf vorauseilte wie ihm selber.

Die beiden ältesten Schwestern Liesl und Rosl waren Zwillinge. Ein ungleiches Paar. Liesl war stark, klug und von gutmütiger Natur. Rosl hingegen war immer etwas kränklich, etwas einfältig und ein ziemlich launischer und jähzorniger Charakter. Liesl und Rosl wurden faktisch harten Arbeit auf dem Hof erzogen. Beide sind sie bis ins Alter ledig geblieben. Meine Mutter erzählte zwar, dass sie beide mehrmals kleinere Geschichten mit Männern hatten, die jedoch vom Grossvater unterbunden wurden. Später machte im Dorf das Wort die Runde man solle sich von den Unterkapiller Mädchen fern halten, weil man sich da nur Scherereien einbrockte.

Auf dem Hof wohnte auch Tota, eine jüngere Schwester meines Grossvaters. Inwiefern sie sich mit meinem Grossvater verstand ist mir nicht ganz klar, da ich sie als sehr liebenswürdige Frau in Erinnerung habe. Auch Tota blieb ledig, was vielleicht erklärt warum sie auf dem Hof mit dem Alois wohnen blieb.
In den dreissigern oder vierzigern hatte sich einmal eine junge Magd aus dem Pustertal ins Dorf verirrt. Diese tat einige Jahre lang ihren Dienst gegen Kost und Behausung auf verschiedenen Bauernhöfen und im Wirtshaus und landete schliesslich auch auf dem Unterkapiller Hof. In der Zeit auf Unterkapill wurde sie schwanger. Man weiss nicht von wem, oder jedenfalls will das niemand wissen. Diese junge, ledige und mittellose Frau war überfordert und war im Stich gelassen und hatte neben der Auswegslosigkeit in ihrem Leben wahrscheinlich auch das, was man heute eine postnatale Depression nennt. In den ersten Tagen nach der Geburt wollte sie das Kind vom Balkon schmeissen. Man begann das Kind vor ihrer Mutter in Schutz zu nehmen, bis Tota sich dazu entschloss, das Kleinkind aufzuziehen.
Das Kleinkind hiess Vrona und wuchs zusammen mit meinen Tanten auf Unterkapill auf. Die junge Magd verliess das Dorf, einige Jahrzehnte später fand sie aber wieder den Kontant zu ihrer Tochter Vrona.

Danach kam Marianne zur Welt. Erst eine grossen Enttäuschung für meinen Grossvater, weil es wieder ein Mädchen war, aber auf irgendeiner Weise schaffte es Marianne sich ins das ohnehin schon kleine Herz ihres Vaters einzuschleichen.

Wenn mein Grossvater schon ein Herz von der Grösse einer getrockneter Knoblauchzehe hatte, so trug Marianne ein grosses schwarzes Loch in ihrer Brust das das Blut durch ihren Körper pumpte. Marianne war das Mädchen das von der Arbeit verschont blieb und in die Stadt geschickt wurde. Sie sollte Kindermädchen werden. Wenn Marianne von der Stadt nach Hause kam, war sie die grosse Lady, die sich bedienen liess, die ihre Wäsche mitbrachte, die dann Liesl und Rosl waschen durften und wenn man sich gegen ihre Aufträge wehrte, bekam man es mit dem Vater zu tun, der nach der Überlieferung auch gerne Stöcke einsetzte wenn es darum ging seinen Willen durchzusetzen. In den allermeisten Fällen reichte verständlicherweise ein zurechtweisendes Wort.
Mit Marianne hatte ich in meiner Kindheit viel zu tun. Sie war eine schöne, grosse, immer edel gekleidete Frau mit schwarzen Augen. Ich kann mich als Kind an viele Szenen erinnern in denen in der Küche Streit um Rosl ausbrach. Weil Rosl irgendwas verbockt hatte, weil sie halt ein wenig dumm war, wobei Marianne und ihr Bozner Ehemann Toni (Bäckergeselle, Lederjacke, Schlägertyp) mit Fäusten auf Rosl einschlugen. Gebrochene Nase, Prellungen, Veilchenaugen.
Marianne brauchte Platz da oben auf Unterkapill. Ihr Leben als Putzfrau in Bozen, in Ehe mit einem faulen und etwas dumpfbäckigen Bäckergesellen war nicht gerade ein Leben nach ihren Vorstellungen. Später werden wir erfahren, dass es ihr hauptsächlich darum ging als Alleinerbin des Bauernhofes dazustehen.

Als letzte wurde meine Mutter geboren. Wieder ein Mädchen. Der Erzählung meiner Tanten nach (Liesl und Rosl) sei mein Grossvater darüber derart böse geworden, dass er bei der Nachrichtenverkündung auf Anwesende eingeprügelt und das weibliche Geschlecht mit Flüchen belegt habe.
Meine Mutter war als Kind lange und viel krank, war ein Nesthäkchen, musste viel umsorgt werden und war immer der Mutter und Liesls kleiner Liebling. Es gab diese beiden Pole: Grossmutter, Liesl und meine Mutter, und auf der anderen Seite Grossvater, Rosl und Marianne. Tota und Vrona zogen in den siebziger Jahren in eine geerbte, stillgelegte Mühle unten am Dorfeingang.

Mitte der sechziger Jahre geschah ein kleiner Zwischenfall der das Leben meiner Grossmutter für immer verändern sollte. Während alle draussen auf der Wiese arbeiteten, war sie als einzige im Heustadel damit beschäftigt, Platz zu schaffen für das Heu das am Abend nachkommen sollte. Durch eine kleine Unachtsamkeit fiel sie durch eine Luke vom oberen Geschoss in das Untere, ein kleiner Fall nur und wenn man im Stadel stürzt, landet man in der Regel weich auf Heu. Diesmal aber nicht. Sie konnte nicht mehr aufstehen. Dort blieb sie mehrere Stunden liegen und rief immer wieder laut um Hilfe. Hilfe kam aber erst als die anderen vom Feld nach Hause kamen. Die Männer, die beim Heueinzug halfen, hievten meine Oma erstmal auf eine Bank und versuchten sie zum Sitzen zu bringen. Kurz vor ihrem Tod hat sie mir mal gesagt, dass sie bei diesem ersten Sitzversuch einen Knacks im Rücken spürte und dass das wohl der fatale Moment gewesen sei, der sie für den Rest des Leben an den Rollstuhl fesselte.
Es dauerte ganze zwei Tage bis die Rettungssanitäter aus der Stadt mit der Seilbahn nach oben kamen um sich ein Bild des Zustandes meiner Grossmutter machen zu können. Sie fühlte ihre Beine nicht und in dem Moment war wohl klar, dass sie ins Krankenhaus musste.

Liesl und Rosl waren für mich immer zwei Riesinnen. Grosse und starke Frauen mit den Pranken eines Bären. Als Grossvater krank wurde und die schwere Arbeit auf den Wisen nicht mehr erledigen konnte, arbeiteten Liesl und Rosl alleine. Und zwar mit den Händen. Grossvater war ein Mann der alten Schule. Als Automobile und Traktoren in den Bergen ihren Einzug hielten, versperrte er sich dagegen. Selbst als er der körperlichen Arbeit nicht mehr gewachsen war und die beiden Zwillinge die Anschaffung eines Traktors überlegten, wurde dies einfach verboten. Die Wiesen mussten weiterhin mit der Hand gemäht und die Heuballen mit den Pferden in den Stadel transportiert werden.

Liesl war eine grosse, starke und kluge Frau. Liesl las gerne Bücher und zeichnete. Ausserdem unterhielt sie lange Jahre eine Brieffreundschaft mit ihrer ehemaligen Deutschlehrerin, die ins ferne Innsbruck gezogen war. Sie war es auch, die meiner Mutter das Lesen schmackhaft machte. Jedoch war ihr das Leben einer geistig gebildeten Frau nicht gegönnt. Erstens fehlte ihr die formelle Bildung, und zweitens ruhte auf ihr die gesamte Last des Unterkapiller Baurnhofes, nachdem der Vater die schwere Arbeit nicht mehr erledigen konnte. Sie wurde dann die eigentliche Unterkapiller Bäuerin.
Die Männer machten ihr schon lange nicht mehr den Hof. Früher stellte sich ihr Vater dazwischen, und mit voranschreitender Zeit war sie den Männern vermutlich einfach in allen Belangen überlegen. Kein guter Mix, sich einen Bauern zu angeln. Sage ich jetzt mal so. Und andere Männer gab es nicht. Und wenn sie ihre seltenen Besuche in die Stadt unternahm, war sie mit ihren grossen Pranken, ihrem sonnengegerbten Gesicht das aussah wie Leder und ihrem äusserst grobknöchigen Gang vielleicht nicht das, was man in der Stadt eine begehrenswerte Frau bezeichnen würde. Zumindest damals.

Liesl war die einzige die es fertig brachte Marianne zum Schweigen zu bringen. Grossmutter hatte das nie geschafft. Grossvater wollte das erst nie, und als er viele Jahre später irgendwann merkte, dass Marianne dringend eine richtige Tracht Prügel verdiente, hatte er seine Autorität längst verloren.
Liesl griff ein wenn Rosl verprügelt wurde, Liesl sprach Machtworte und gab Marianne mehrmals zu verstehen, vom Hof zu verschwinden.

Eines Tages, mitte der achtziger Jahre bekam Liesl hohes Fieber. Das Fieber ging nicht mehr weg. Als sie dann aufhörte zu essen und dramatisch abmagerte schickte man sie ins Krankenhaus. Milzkrebs. Zwei Monate später war sie tot.

Der Bauernhof wurde unrentabel und wurde deshalb geschlossen. Als Geschlossen bezeichnet man einen Hof, wenn er kein wirtschaftlicher Betrieb mehr ist, sondern lediglich der Selbstversorgung dient. Steuerrechtliche Gründe. Man beschränkte den Betrieb auf zwei Kühe für die Milch, ein oder zwei Schweine für den halbjährlichen Speck und Hennen für Eier und gelegentliche Hühnersuppe.
Rosl, die sich ohnehin schon nur mehr der Pflege der Eltern widmete, konnte nach Liesls Tod den Hof nicht mehr alleine bearbeiten.

Ab jenem Tag hatte Marianne zwei freie Hände. Oder Ellbogen. Oder Fäuste. Aus dieser Zeit stammen die meisten Momente bei denen wir Kinder aus dem Haus auf die Wiesen zum Spielen geschickt wurden, weil es wildes Geschrei und lautes Gepolter in der Küche gab. Schon nach wenigen Jahren fingen auch Mariannes Söhne an (beide etwas jünger als ich), sich beim Bearbeiten von Rosl zu beteiligen. Weil darum ging es immer. Rosl würde spinnen, gehöre ins Irrenhaus, hätte dies und jenes zu verschulden und würde sich dauernd gegen Marianne auflehnen. Mein Vater, meine Mutter und Grossmutter nahmen Rosl in Schutz, oder versuchten wenigsten das allerschlimmste zu verhindern. Gegen Marianne, Toni und die beiden Söhne kam man nicht so einfach an. Grossvater sass in der Ecke und schwieg. Mich erschraken diese Gewaltkonflikte immer sehr und fühlte mich bei solchen Szenen viel zu unmündig um einzugreifen. Stattdessen sass ich mit meine beiden kleinen Schwestern draussen am Bach.

Grossvater wurde immer kränker. Einmal sagte er beim Essen in die Runde, Marianne würde uns noch einmal alle erschlagen wenn sie ihren Willen nicht bekäme. Ein Jahr später, 1995, starb er. Der Bauernhof gehörte nun Grossmutter.

Es folgten dann drei oder vier ruhige Jahre. Marianne liess sich oben auf dem Berg kaum noch blicken. Grossmutter kam öfter ins Krankenhaus und immer wieder hiess es sie würde es nicht mehr lange schaffen. Sie hatte groben Gedächtnisverlust, und war recht oft nicht mehr bei Sinnen.
Wenige Monate vor Grossmutters Tod, tauchte Marianne wieder auf und machte sich wieder auf dem Unterkapiller Hof breit. Rosl lebte wegen Grossmutters langen Krankenhausaufenthalten meist alleine auf dem Hof.
Mindestens einmal pro Woche die selbe Szenerie: Marianne erschien auf Unterkapill in Begleitung ihrer Söhne oder ihres Mannes, provozierte Rosl, dann klingelte bei meiner Mutter das Telefon, heulende Rosl am Apparat und meine Mutter musste einschreiten. Einschreiten hiess eine ganze Stunde Berg hinunter- und Berg hinauffahren.
Irgendwann schaffte es Marianne Rosl zu provozieren und die Carabinieri herbei zurufen wonach Rosl in eine geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde. Sie galt als gemeingefährlich, aggressiv und musste mit Pillen therapiert werden.
Kurz darauf wurde von Marianne ein Testament von Grossvater vorgelegt in dem stand, dass er ihr den gesamten Unterkapiller Hof vermacht hatte.
Meine Mutter konnte noch rechtzeitig meine Grossmutter davon überzeugen, sie solle ihre gesamten Ersparnisse auf Rosls Konto überweisen. Einige Tage später starb sie.

Epilog:
Marianne übernahm daraufhin den Unterkapiller Hof. Meine Mutter kaufte mit Grossmutters Geld eine kleine Wohnung für Rosl unten im Dorf. Als sie aus der Psychiatrie entlassen wurde, durfte sie Unterkapill nicht mehr betreten.

(Photos in den Kommentaren)

Ahnengalerie – väterlicherseits (eine Chronik)

Wenn ich in mein Dolomitendorf zurückkehre, dann trage ich dort nicht meinen richtigen Nachnamen, sondern den Namen “Dr Bua vem Tunipeater”.
Das heisst ziemlich genau: “Der Sohn vom Tuni-Peter”. Peter ist der Name meines Vaters, und Tuni ist vom Tuniger Bauernhof abgeleitet, aus dessen Sprössling mein Vater ist. Mein Grossvater hingegen, und das ist verwunderlich, zumal die maskuline Linie immer den Namen des Hofes tragen sollte, ist der Holzer-Blees. Der Blasius vom Holzerhof. Mein Opa war zwar nicht der älteste Sohn der Sippe, sondern der zweitälteste. Als jedoch sein älterer Bruder, der Sepp, als vierundzwanzigjähriger Bursche beim Holzfällen von einem Baum erschlagen wurde, kam mein Grossvater in den Rang des Nachfolgers vom Holzerhof. Er heiratete als dreiundzwanzigjähriger die Juliane vom Tunigerhof, die zu ihm auf den Holzerhof zog, wo sie ihm dann in den ersten paar Jahren drei Kinder gebar. Der Vater meines Grossvaters erkrankte schliesslich, erstellte ein Testament, in dem er “Unter den allerheiligsten Sakramente des Altars” meinem Grossvater den Hof vermachte. Mein Vater kennt den Auszüge aus dieser Urkunde heute noch auswendig, weil diese Urkunde später so wertlos wurde wie ein Stück Papier, mit dem man die Holzklötze im Ofen zum brennen bringt. So sagte man.

Was war passiert? Der jüngste Bruder meines Grossvaters, der einige Wiesen und Waldstücke erbte, heiratete eines der Schliffbacher Mädchen. Die Schliffbacher war eine der eher wohlhabenden Bauernfamilien, und er übernahm somit den Hof, den seine Frau nach dem Tode des alten Schliffbachers erben würde.
Die “Alte Schilffbacherin”, wie sie heute noch in meiner Familie väterlicherseits genannt wird, war ein böses Weib, wie man ihr nachsagte, und wenn Boshaftigkeit und Einflussreichtum zueinander geraten, dann kommt meistens nichts gutes dabei heraus. Bei der Alten Schliffbacherin traf das wohl zu.

Der drittälteste Bruder meines Grossvaters war der Luttl. “Einer der nicht heiraten wird”. Nicht weil er fromm war, sondern weil er mehr den Burschen als den Frauen zugewandt war. Wie man das damals wusste, weiss ich nicht, aber vom Luttl wusste man das eben. Auch wenn man das nicht so aussprach. Man sagte dafür: der wird nicht heiraten.

Dem Luttl schien vieles egal zu sein und sass gerne im Wirtshaus. Natürlich bekam er auch einige zum Hof gehörende Wiesen, oder ein Waldstück hier und da, sein Lebenspfad sah vor, dass er auf dem Holzerhof wohnen bleiben würde und sein Dasein als Knecht meines Grossvaters fristen, der nach dem Tod meines Urgrossvaters, der neue Holzerbauer geworden war.

Im Hintergrund schmiedete die Alte Schliffbacherin jedoch die Pläne. Man weiss bis heute nicht genau, inwiefern der jüngste Bruder meines Grossvaters, der nun Schliffbacher war, von diesen Plänen wusste und inwiefern er darin mitgewirkt hat, jedoch tauchte drei Jahre nach dem Tode des alten Holzerbauers ein neues Testament auf. In dem Testament wurde besagt, dass der gesamte Holzerhof, mit Ausnahme einiger Wiesen und Waldstücken, dem Luttl zustünden. Das Testament wurde zur Prüfung ins Gemeindehaus gebracht, dort als wahrhaftig erklärt, und der Besitz kurzerhand umverteilt.

Wie sehr mein Grossvater sich dagegen gewehrt hatte weiss heute niemand mehr. Beim Gedanken daran, dass die alte Schliffbacherin durch die zentrale Lage ihres Hofes und ihres einflussreichen Wesens, im Dorf gut vernetzt war und der Holzerhof auf der anderen Seite des Berges, in den Wäldern unweit des Tales stand, war eine Anfechtung dessen wohl ein aussichtsloses Unterfangen. Rechtliche Hilfe gab es damals eher nicht, und wie es um der Solidarität unter Bauern stand weiss ich nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass jeder das Unrecht sah, sich jedoch niemand mit der alten Schliffbacherin anlegen wollte. Das ist allerdings nur eine Vermutung.

Er wurde jedoch auch nicht mehr als Knecht seines Bruders Luttl geduldet, sondern wurde samt Frau und drei Kindern, kurzerhand vom Holzerhof vertrieben. Wer das verordnete weiss heute auch niemand mehr. So wurden die fünf von der Familie meiner Grossmutter aufgenommen, von den Tunigern. Die Tuniger waren eine grosse Familie, bestehend aus zwölf Kindern. Sie waren auch eher ärmlich, obwohl deren Hof etwa 200 meter tiefer lag, und wie man sagte, ein auf einem sonnigen und fruchtbaren Fleckchen. Der Grund war aber zu klein und die Familie zu gross. Natürlich gab es bei den Tunigern Verteilungsschwierigkeiten beim Erbe, so war man sehr froh darüber, dass die Juliane den Holzer-Blees geheiratet hatte und somit keine Ansprüche mehr am Besitz der Tuniger Ländereien erheben würde, weil der Holzer Hof war ein guter Hof.

Jetzt war sie aber zurückgekommen, samt mittellosen Mann und drei Kindern.

Der Tunigerhof bestand aus zwei Gebäuden plus einem Stall. Juliane und ihr Blees bekamen das zweite Geschoss des oberen Gebäudes zugewiesen. Auf Erbschaft musste Juliane verzichten, es wurde ihr aber Wohnrecht bis zum Ende ihres Lebens zugesagt.
Blees und Juliane schafften sich vier Kühe an, die sie, auf der einzigen Wiese die Blees geerbt hatte, die weit weg, oberhalb des Dorfes lag, grasen liessen. Weitere Kinder wurden geboren, und deshalb bekamen sie alle den “Tuni”-Zusatz in deren Namen. Deswegen ist mein Vater der Tuni Peter und ich der Sohn vom Tuni Peter.

Das Geld reichte natürlich nicht, von der Milch der vier Kühe konnte man keine achtköpfige Familie ernähren, und nach dem sechsten Kind hörten sie auch auf, weitere zu zeugen. Bis sechs Jahre später, der Pfarrer höchstpersönlich, beim Blees und der Juliane auf ein paar Scheiben Speck und einem Glas Wein einkehrte. Er tadelte, wie es denn sein könne, dass da keine Kinder mehr nachkämen. Er äusserte den Verdacht, dass sie sich lediglich der fleischlichen Lust hingäben, ohne an die Zeugung zu denken. Ein Sündenfall also. Laut mundlichen Überlieferungen meiner Tanten, die die Gespräche durch die Holzwände mithörten konnten, versicherten der Blees und die Juliane, dass es bloss ein Zufall sei, das Geld gerade knapp und das Haus viel zu klein, man hätte andere Sorgen als sich der fleischlichen Lust hinzugeben. Ein Jahr darauf kam mein Vater zur Welt. Der Tuni-Peater.

Erst einige Jahre später endete die Misere jener Familie, als nämlich die Gemeinde beschloss eine Schule zu bauen. Mein Grossvater beteiligte sich am Bau der Schule und blieb dann bis zur Pensionierung Angestellter in der Firma, die eigens für diesen Bau gegründet würde. Diese übernahm auch später alle möglichen Aufgaben, vom Strassenbau bis zum Bau des neuen Gemeindehauses und der Holzer Blees erhielt somit ein ordentliches Gehalt mit dem er endlich vom Tunigerhof wegziehen konnte.

Der Holzerhof wurde einige Jahre nachdem man Blees des Hofes verwiesen hatte, vom jüngsten Sohn der alten Schliffbacherin übernommen und der Luttl bekam Wohnrecht auf Lebzeiten. Auch einige Wiesen oder Waldstücke bekam er, die er verpachtete, damit er weiterhin ins Wirtshaus gehen konnte und seine Lebenstage nicht auf den Wiesen abschuften musste.