Ahnengalerie – väterlicherseits (eine Chronik)

Wenn ich in mein Dolomitendorf zurückkehre, dann trage ich dort nicht meinen richtigen Nachnamen, sondern den Namen „Dr Bua vem Tunipeater“.
Das heisst ziemlich genau: „Der Sohn vom Tuni-Peter“. Peter ist der Name meines Vaters, und Tuni ist vom Tuniger Bauernhof abgeleitet, aus dessen Sprössling mein Vater ist. Mein Grossvater hingegen, und das ist verwunderlich, zumal die maskuline Linie immer den Namen des Hofes tragen sollte, ist der Holzer-Blees. Der Blasius vom Holzerhof. Mein Opa war zwar nicht der älteste Sohn der Sippe, sondern der zweitälteste. Als jedoch sein älterer Bruder, der Sepp, als vierundzwanzigjähriger Bursche beim Holzfällen von einem Baum erschlagen wurde, kam mein Grossvater in den Rang des Nachfolgers vom Holzerhof. Er heiratete als dreiundzwanzigjähriger die Juliane vom Tunigerhof, die zu ihm auf den Holzerhof zog, wo sie ihm dann in den ersten paar Jahren drei Kinder gebar. Der Vater meines Grossvaters erkrankte schliesslich, erstellte ein Testament, in dem er „Unter den allerheiligsten Sakramente des Altars“ meinem Grossvater den Hof vermachte. Mein Vater kennt den Auszüge aus dieser Urkunde heute noch auswendig, weil diese Urkunde später so wertlos wurde wie ein Stück Papier, mit dem man die Holzklötze im Ofen zum brennen bringt. So sagte man.

Was war passiert? Der jüngste Bruder meines Grossvaters, der einige Wiesen und Waldstücke erbte, heiratete eines der Schliffbacher Mädchen. Die Schliffbacher war eine der eher wohlhabenden Bauernfamilien, und er übernahm somit den Hof, den seine Frau nach dem Tode des alten Schliffbachers erben würde.
Die „Alte Schilffbacherin“, wie sie heute noch in meiner Familie väterlicherseits genannt wird, war ein böses Weib, wie man ihr nachsagte, und wenn Boshaftigkeit und Einflussreichtum zueinander geraten, dann kommt meistens nichts gutes dabei heraus. Bei der Alten Schliffbacherin traf das wohl zu.

Der drittälteste Bruder meines Grossvaters war der Luttl. „Einer der nicht heiraten wird“. Nicht weil er fromm war, sondern weil er mehr den Burschen als den Frauen zugewandt war. Wie man das damals wusste, weiss ich nicht, aber vom Luttl wusste man das eben. Auch wenn man das nicht so aussprach. Man sagte dafür: der wird nicht heiraten.

Dem Luttl schien vieles egal zu sein und sass gerne im Wirtshaus. Natürlich bekam er auch einige zum Hof gehörende Wiesen, oder ein Waldstück hier und da, sein Lebenspfad sah vor, dass er auf dem Holzerhof wohnen bleiben würde und sein Dasein als Knecht meines Grossvaters fristen, der nach dem Tod meines Urgrossvaters, der neue Holzerbauer geworden war.

Im Hintergrund schmiedete die Alte Schliffbacherin jedoch die Pläne. Man weiss bis heute nicht genau, inwiefern der jüngste Bruder meines Grossvaters, der nun Schliffbacher war, von diesen Plänen wusste und inwiefern er darin mitgewirkt hat, jedoch tauchte drei Jahre nach dem Tode des alten Holzerbauers ein neues Testament auf. In dem Testament wurde besagt, dass der gesamte Holzerhof, mit Ausnahme einiger Wiesen und Waldstücken, dem Luttl zustünden. Das Testament wurde zur Prüfung ins Gemeindehaus gebracht, dort als wahrhaftig erklärt, und der Besitz kurzerhand umverteilt.

Wie sehr mein Grossvater sich dagegen gewehrt hatte weiss heute niemand mehr. Beim Gedanken daran, dass die alte Schliffbacherin durch die zentrale Lage ihres Hofes und ihres einflussreichen Wesens, im Dorf gut vernetzt war und der Holzerhof auf der anderen Seite des Berges, in den Wäldern unweit des Tales stand, war eine Anfechtung dessen wohl ein aussichtsloses Unterfangen. Rechtliche Hilfe gab es damals eher nicht, und wie es um der Solidarität unter Bauern stand weiss ich nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass jeder das Unrecht sah, sich jedoch niemand mit der alten Schliffbacherin anlegen wollte. Das ist allerdings nur eine Vermutung.

Er wurde jedoch auch nicht mehr als Knecht seines Bruders Luttl geduldet, sondern wurde samt Frau und drei Kindern, kurzerhand vom Holzerhof vertrieben. Wer das verordnete weiss heute auch niemand mehr. So wurden die fünf von der Familie meiner Grossmutter aufgenommen, von den Tunigern. Die Tuniger waren eine grosse Familie, bestehend aus zwölf Kindern. Sie waren auch eher ärmlich, obwohl deren Hof etwa 200 meter tiefer lag, und wie man sagte, ein auf einem sonnigen und fruchtbaren Fleckchen. Der Grund war aber zu klein und die Familie zu gross. Natürlich gab es bei den Tunigern Verteilungsschwierigkeiten beim Erbe, so war man sehr froh darüber, dass die Juliane den Holzer-Blees geheiratet hatte und somit keine Ansprüche mehr am Besitz der Tuniger Ländereien erheben würde, weil der Holzer Hof war ein guter Hof.

Jetzt war sie aber zurückgekommen, samt mittellosen Mann und drei Kindern.

Der Tunigerhof bestand aus zwei Gebäuden plus einem Stall. Juliane und ihr Blees bekamen das zweite Geschoss des oberen Gebäudes zugewiesen. Auf Erbschaft musste Juliane verzichten, es wurde ihr aber Wohnrecht bis zum Ende ihres Lebens zugesagt.
Blees und Juliane schafften sich vier Kühe an, die sie, auf der einzigen Wiese die Blees geerbt hatte, die weit weg, oberhalb des Dorfes lag, grasen liessen. Weitere Kinder wurden geboren, und deshalb bekamen sie alle den „Tuni“-Zusatz in deren Namen. Deswegen ist mein Vater der Tuni Peter und ich der Sohn vom Tuni Peter.

Das Geld reichte natürlich nicht, von der Milch der vier Kühe konnte man keine achtköpfige Familie ernähren, und nach dem sechsten Kind hörten sie auch auf, weitere zu zeugen. Bis sechs Jahre später, der Pfarrer höchstpersönlich, beim Blees und der Juliane auf ein paar Scheiben Speck und einem Glas Wein einkehrte. Er tadelte, wie es denn sein könne, dass da keine Kinder mehr nachkämen. Er äusserte den Verdacht, dass sie sich lediglich der fleischlichen Lust hingäben, ohne an die Zeugung zu denken. Ein Sündenfall also. Laut mundlichen Überlieferungen meiner Tanten, die die Gespräche durch die Holzwände mithörten konnten, versicherten der Blees und die Juliane, dass es bloss ein Zufall sei, das Geld gerade knapp und das Haus viel zu klein, man hätte andere Sorgen als sich der fleischlichen Lust hinzugeben. Ein Jahr darauf kam mein Vater zur Welt. Der Tuni-Peater.

Erst einige Jahre später endete die Misere jener Familie, als nämlich die Gemeinde beschloss eine Schule zu bauen. Mein Grossvater beteiligte sich am Bau der Schule und blieb dann bis zur Pensionierung Angestellter in der Firma, die eigens für diesen Bau gegründet würde. Diese übernahm auch später alle möglichen Aufgaben, vom Strassenbau bis zum Bau des neuen Gemeindehauses und der Holzer Blees erhielt somit ein ordentliches Gehalt mit dem er endlich vom Tunigerhof wegziehen konnte.

Der Holzerhof wurde einige Jahre nachdem man Blees des Hofes verwiesen hatte, vom jüngsten Sohn der alten Schliffbacherin übernommen und der Luttl bekam Wohnrecht auf Lebzeiten. Auch einige Wiesen oder Waldstücke bekam er, die er verpachtete, damit er weiterhin ins Wirtshaus gehen konnte und seine Lebenstage nicht auf den Wiesen abschuften musste.

13 Kommentare

  1. Prima Geschichte. Oder genauer: schreckliche Geschichte, prima erzählt.

  2. ihre ahnengeschichte liest sich wie die einstimmung zu „schlafes bruder“. wo haben sie nur so eine familie geerbt?
    und wie sieht es bei ihrer mutter aus?

  3. So. Ausgedruckt. Mitgenommen. In der S-Bahn gelesen. Tolle Geschichte, Mek, macht in der Tat Appetit auf mehr. Ich finde es schön, wen jemand im Blog seine Wurzeln ein wenig freilegt. Wenn es sich dann noch wie ein Märchen liest, um so schöner. Mamas Seite würde mich auch interessieren. Und was die Tanten im Laufe der Jahre noch alles durch die Löcher in der Wand erlauscht haben. Gut dass der Pfarrer ein Machtwort gesprochen hat, sonst wäre meine Blogroll um einen wertvollen Favoriten ärmer.

  4. Mütterlicherseits ist die Chronik ein bitterböses, finsteres Loch, welches ich schonmal versucht habe in eine *hüstel* Romanform zu giessen, bin aber letztendlich an Selbstdisziplin gescheitert. Ich kann mich so schwer monatelang an ein Thema binden.
    Ich bin gerade am recherchieren. Zwei Episoden die noch etwas Deutlichkeit brauchen, dann kommt auch die mütterliche Version. Die Blogversion des Romanes (ohne Hardcover) (das geht schneller).

  5. Vielen Dank für die Geschichte (dazu vielleicht noch irgendwann ein Foto?). Nimm das Blog doch einfach als Sammeltopf für die Brocken an Familienvergangenheit, die Du auftreibst. In ein großes Ganzes kannst Du das später immer noch verwandeln.

  6. das liest sich ja wie ein heimatgroschenroman…. herrlich. 🙂

  7. Sie aus dem Land von Via Mala müssen darüber ja genauestens bescheid wissen.

    Übrigens, seit schon einigen Jahren suche ich eine Kopie dieses Filmes. Sie kennen nicht zufällig jemanden?

  8. hmm… via mala als kopie…. der einzige der mir spontan einfällt wer ein alter lehrer von mir der das filmmuseum basel unterhält, der dü (dürrenmatt).

  9. Filmmuseum. So einer ist leider in der Position, dass er nichts von Kopien hält. Den Film gibt es nur für 150EUR beim ZDF zu kaufen und auch bei ebay gehen die für solche Preise über den Monitor. Das habe ich nicht für übrig. Wirklich ärgerlich, dass das ZDF (oder das SF) den Film nicht neu verlegen, auf DVD oder gar am besten den Film neu ausstrahlen. Ist ja immerhin schon 15 Jahre her.

  10. dü ist ein sonderbarer kauz und plaudert einem in grund und boden, aber vielleicht haben sie recht. seine vorliebe und stärken sind fritz lang filme. alte, meist uralte sw-filme und wochenschauen aus dem 2. weltkrieg.
    ich glaub da kann ich ihne gar nicht weiterhelfen, leider.

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