[die Sache mit der Arktis]

Gestern Abend hatte es draußen sieben Grad. Das ist die sommerliche Durchschnittstemperatur in Longyearbyen auf Spitsbergen.

Nun. Ich muss vielleicht ein bisschen ausholen. Ich mochte den Nordern immer schon. Der Süden hat mich nie interessiert. In meiner südtiroler Jugend wollte ich immer in den Norden. Nach London, nach Amsterdam, nach Berlin, nach Kopenhagen, Irland, Schottland. Mit achtzehn bin ich dann ohne Job oder Plan in die Niederlande gezogen und fühlte mich sofort pudelwohl. Mitten im Winter. Im Laufe der Jahre habe ich aber verstanden, dass der Norden noch viel weiter geht. Ich zog nach Hamburg, später heiratete ich eine Schwedin, dann wollte ich den Polarkreis überqueren, den 66igsten Breitengrad passieren und sah, dass es da ganz weit oben immer noch Zivilisation gibt, viele Dörfer, kleine Städtchen, und Tromsö, das ist eine richtig große Stadt am 69. Breitengrad und dahinter kommt das Polarmeer. Hier würde man jetzt sagen: da hört die Welt auf.
Aber das ist natürlich nicht so, sonst würde ich es nicht schreiben.
Noch einmal 1000 Kilometer nördlich von Norwegens Nordküste taucht ein Inselarchipel aus dem Polarmeer auf, es trägt den Namen Svalbard, in einigen Ländern besser bekannt unter dem niederländischen Namen Spitsbergen.

Seit diesem Sommer ist mir die Existenz dieser kleinen Orte auf Svalbard erst richtig bewusst geworden und seit ich davon weiß, höre ich stundenlang Podcasts über das Archipel, darüber wie die Leute dort leben, in der nördlichsten Siedlung der Welt, in Longyearbyen. An manchen Tage erlaufe ich meine zehntausend Schritte mit Podcasts im Ohr und laufe dann einfach zehntausend Schritte weiter, ich kann doch nicht einfach die Geschichten über die Arktis aus meinen Ohren rausnehmen und mich zurück ins schnöde Mitteleuropa begeben.
Die Geschichten über die dunkle Jahreszeit, wie der Bewohner das Licht zelebrieren, wie die Orte beleuchtet werden, wie sehr sie doch alle die Dunkelheit zu lieben lernen, wie der Eisbär letzte Woche an den Dorfrand gekommen ist und einen Schuppen demoliert hat, über die Wahl des Bürgermeisters, über die Leute die den Sommer nicht mögen, weil sie dann nicht mit dem Schneemobil fahren können, etc etc.

Ich denke an nichts anderes mehr. Ich denke daran, wie ich unter der monatelangen Mitternachtssonne sitze und auf die schneebedeckten Fjorde starre oder in der langen Polarnacht an der Bar sitze und Karten spiele.
Jede Person kann nach Longyearbyen ziehen und dort leben. Longyearbyen, so heißt der Hauptort mit seinen 3000 Einwohnern. Die Inseln sind eine Visafreie Zone. Man muss sich nur selber finanzieren können. Es gibt dort Kneipen und Restaurants, Kitas, eine Uni, eine Feuerwehr, einen Dönerladen, eine Yogaschule, eine Kohlemine und eigentlich alles was man so braucht. Es gibt da sogar eine Brauerei. Meine Geschäftsidee ist somit leider bereits vergeben.

Weil mich seit Monaten nichts anderes als die Arktis interessiert, fällt es mir schwer, mich mit meinen Freunden zu treffen. Wenn es doch dazu kommt, finde ich immer Strohhalme um mich über das Leben in der Arktis zu unterhalten. Manche Menschen machen es mir leicht, wie der Taxifahrer, wenn er bei 12 Plusgraden sagt, „Puh, es wird wieder kalt“, dann kann er sich sicher sein, dass ich ihn mit Infos über den Permafrostboden in Nybyen überschwemme.
Im Winter ist zwei Monate lang Nacht. Pechschwarze Nacht. Keine Dämmerung oder so. Es gibt dann auch Schneestürme und die Temperatur ist eigentlich immer zweistellig. Also im Minus.

Viele Leute machen es mir aber schwerer um das Thema auf die Arktis zu lenken. Wenn ich in einer Runde mit Freunden sitze und der neue wilde Braunbär in Bayern angesprochen wird, dann sage ich: „Auf Spitsbergen gibt es Eisbären, die fressen nur das Fett der Robben, den Rest lassen sie liegen, deswegen gibt es in der Nähe von Eisbären auch immer Polarfüchse, und überhaupt, wenn man Polarfüchse sieht, kann man davon-“
Es erfordert ein wenig Trickserei, aber ich schaffe es immer.

Neulich traf ich mich mit einem Freund zum Mittagessen. Er sagte „Wollen wir gleich ein bisschen über Longyearbyen reden, damit wir das Thema abgehakt haben?“
Haben wir dann so gemacht. Danach fiel es mir leichter mich für seine Dinge zu interessieren.

Kinder sind die Dankbarsten. Kinder lieben es, wenn man über Eisbären oder Schneestürme redet. Außerdem kommen sie bereits mit einem gewissen Grundwissen daher, das vielen Erwachsenen entbehrt.

Auf der Innenseite des Rollos in meinem Arbeitszimmer habe ich die Bucht des Adventfjordes gezeichnet. In schwarz und weiß nur. Es ist nicht besonders gut gelungen. Aber so stelle ich mir die Aussicht meiner Wohnung auf Longyearbyen vor. Mit Aussicht auf den gefrorenen Adventfjord. Es tröstet mich und ist allemal besser als die Aussicht auf den Hinterhof.

Meine Frau verdreht schon die Augen wenn ich mit „Longye-“ ansetze.

Auf meinem Desktop habe ich jetzt ein Applet installiert, das mir das Wetter von zwei unterschiedlichen Standorten anzeigt. Die eine Anzeige die nicht Berlin ist, zeigt schon seit einigen Wochen Minusgrade an. Heute sind es Minus 11. Immerhin bleibt die Temperatur den ganzen Tag über mehr oder weniger gleich. Tag und Nacht gibt es da ja nicht so.
Es ist dort aber nicht immer kalt. Im März geht die Sonne auf und ab April dreht sie am Firmament ihre Runden ohne unterzugehen.
Es wird dann auch 7 Grad warm.

Gestern Abend saß ich also auf meinem Sofa in Berlin. Ich schaute auf mein Handy und sah, dass es draußen 7 Grad hatte. Ich zog sofort die Schuhe an und ging hinunter um zu fühlen, wie er sich anfühlt, dieser Sommer in Longyearbyen. Ist voll OK.

[…]

Nur mal so: ich mag es ja die Uhren umzustellen. Mir ist es egal was richtige Zeit ist und was die Falsche und mir ist es völlig wurscht wenn die Sonne zu Mittag nicht gerade am Zenit steht und innere biologische Uhren sind mir noch wurschter. Ich mag es wenn es im Sommer ewig hell ist und ich mag es wenn es im Winter nach dem Mittagessen dunkel wird, ich mag es, mich Ende Oktober schlagartig auf den Winter einzustellen, und ich mag es wenn im März, patzbumm, die Sonne eine Stunde länger scheint. So ist das.

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Spotify empfiehlt mir die Playlist „Dreamy and Distorted“. Ich fühle mich so entlarvt.

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Die Sonnenbrillenzeit ist ja wieder vorbei. Es passiert mir so oft, dass ich meine Sonnenbrille vergessen glaube. Ich stecke meine Sonnebrille immer entweder in den Kragen oder auf den Kopf. Wenn ich meine Sonnenbrille suche, suche ich immer nur im Kragen. Auf dem Kopf vergesse ich sie. Es geschieht oft, dass ich in einen Laden oder in eine Bar zurückgehe und frage, ob sie beim Aufräumen meines Tisches eine Sonnenbrille gefunden haben. Ich kenne diesen Blick mittlerweile. Wenn man auf meinen Kopf zeigt und ein hämisches Lachen unterdrückt. Dieses unterdrückte, hämische Lachen. Das sieht bei allen Leuten gleich aus.

[Porsche]

Neulich bin ich im Prenzlauer Berg mit einem Porsche gefahren. Ein alter Freund von mir besitzt einen alten Porsche 924. Das ist kein teures Auto. Auch kein schönes Auto. Auch kein gutes Auto. Aber er hat es vor vielen Jahren einmal billig kaufen können und seitdem fährt er damit herum. Über den Porsche 924 muss man wissen, dass er in den Siebzigern gebaut wurde und von Autokennern abfällig Hausfrauenporsche genannt wurde. Auch damals besaß die Hausfrau keinen hohen sozialen Stellenwert, obwohl die Zeiten damals besser waren.
Da ich jetzt ja auch einen Führerschein besitze wollte ich unbedingt wissen wie es sich anfühlt mit einem Wagen dieser Sorte zu fahren. Sonst kenne ich ja nur meinen kleinen UP oder die üblichen glatten Mietwagen.

Wir trafen uns im Bötzowkiez in der Hufelandstraße bei einem Vietnamesen zum Mittagessen. Danach setzten wir uns in den Porsche, ich an der Fahrerseite. Ich saß so tief, dass ich das Gefühl hatte ich wäre in eine Luke in der Straße gestiegen. Der Freund wies mich ein. Man könne bei diesem Auto nicht einfach Motor einschalten und losfahren. Man müsse ihn erst aufwärmen. Das bedeutet: Zündschlüssel umdrehen, Kupplung halten und alle zwei Sekunden ordentlich auf das Gaspedal drücken. Ungefähr eine Minute lang. Man fühle dann schon wann der Motor zum Losfahren bereit sei.
Nun hat dieser Porsche lediglich 125PS. Aber die akustische Terrorizität eines Düsentriebwerks.

Wir alle kennen die gängigen Klisches des Prenzlauer Bergs. Die oft etwas unwuchtig wirkende Liebe für Kinderwagen und des darin liegenden Nachwuches, das grüne Herz auf dem rechten Fleck und die Frisur sitzt immer.
So saß ich da in diesem basslastigen Düsenjäger und pumpte alle zwei Sekunden auf das Gaspedal.
Ich habe natürlich ein grünes Herz (allerdings eine etwas schlecht sitzende Frisur) deshalb pumpte ich das Gaspedal nicht tief genug durch. In der achten Sekunde starb mir der Bolide ab.
Überall um uns herum schauten Menschen etwas ratlos in die Gegend. Wo war dieser Lärm hergekommen? Mein Freund sagte mir vorwurfsvoll ich müssen mehr pumpen, mehr Gas geben, dabei imitierte er Motorengeräusche, wrumm wrumm. Ich schaute etwas bedrückt auf die Straße hinaus. Was würde der Prenzlauer Berg von mir denken? Dann drehte ich wieder den Zündschlüssel um und pumpte auf das Gaspedal. Alle zwei Sekunden. Aus den Augenwinkel merkte ich, dass der ganze Kiez die Quelle des Lärms identifiziert hatte und die Blicke auf mich richtete. Neben mir saß mein Freund und schrie „Pumpen, pumpen, mehr, mehr“. Ich pumpte und beschloss eigenmächtig, dass der Motor jetzt warm genug sei und legte den ersten Gang ein. Der Motor starb ab.
Das sei zu früh gewesen, hörte ich von der Beifahrerseite, nochmal, ich schloß die Augen und drehte wieder den Zündschlüssel.

Etc. etc. Um es abuzschließen: ich brauchte fast eine Viertelstunde bis ich es schaffte loszufahren.

Vermutlich habe ich einen Beitrag dazu geleistet unbescholtene Bürger in die Fänge umweltfreundlicher Politiker zu treiben. Wenn ich dafür mal als Hassfigur meinen Kopf hinhalten muss, ist es schon okay.

[krkr]

Wann hat das eigentlich mit den Krähen in Berlin angefangen? Wie sie sich in Schwärmen über die Karl-Marx-Allee hermachen. Wenn die Wolken über der Stadt hängen, sieht es stellenweise aus wie in einer Kulisse von Game of Thrones. Es sind besonders große Exemplare von Nebelkrähen. Sie sind schon fast so groß wie Kolkraben. Abends krähen sie. Gestern beobachtete ich zwei solcher Vögel, wie sie sich um eine Packung mit Essensresten stritten. Großer geöffneter Schnäbel, bedrohlich aufgespannte Flügel. Breitbeiniger Gang wie Cowboys auf dem Platz vor der Ranch. Neulich am Alex zerfleischte ein halbes Dutzend Nebelkrähen eine liegengebliebene Abfalltüte. Menschen standen ziemlich erfurchtsvoll daneben.

Lovin‘ it.

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[hypno]

Um mich in den Zustand der Hypnose zu versetzen ließ sie mich bei unserer ersten Sitzung gedanklich über eine Treppe hinunterlaufen. Ich saß in diesem weichen Ledersessel, hatte die Beine hochgelegt und ausgestreckt. Mit geschlossenen Aufgen lief ich eine Treppe hinunter. Sie forderte mich auf, mir die Treppe detailiert vorzustellen, die Höhe der Brüstung, das Material der Stufen und so gelangte ich gedanklich ziemlich schnell in die Treppe des katholischen Internats, das ich in meiner frühen Pubertät besuchte. Das war eine sehr sehr breite Treppe aus glattem Stein. Die Stufen waren längst abgerundet vom jahrhundertelangen Verschleiß. Das Gebäude ähnelte im Inneren eher einem Kloster. Das Treppenhaus erstreckte sich über sechs Geschosse, im Zwischengeschoß gab es jeweils Tore durch die man in das Kirchenschiff gelangte. Die meisten dieser Tore waren für uns Kinder aber geschlossen. Um von unseren Schlafgemächern im sechsten Stock bis ins Kellergeschoss für die Speisesäle zu kommen, lief man ewig über diese steinernen Treppen. Die Stufen waren so abgerundet, dass man mit glatten, weichen Pantoffeln regelrecht wellenreitend hinuntergleiten konnte. Ich verstand, dass mich die Hypnotiseurin durch dieses Treppenhaus in mein Unterbewusstsein hinunterschicken wollte, das fand ich gut, ein nettes Hilfsmittel, eine Treppe, so genial. So stieg ich diese Treppe hinunter. Nach dem dritten Stock hörte ich auf die Stockwerke mitzuzählen, während sie mit mir redete und mich hinwies auf gewisse Dinge zu achten, ob es Zwischengeschosse gibt, ob es ein Geländer gibt, ich sollte mir auch die Wände ansehen, das ging bestimmt mehrere dutzend Stockwerke so. Während ich immer weiter nach unten gelangte, wurde es zusehend dunkler im Treppenhaus. Ich weiß nicht mehr, ob Tageslicht ins Treppenhaus gelangte und ich weiß auch nicht wie hell es war als ich ganz oben auf der Treppe gestanden hatte, aber nach den dutzenden Stockwerken war mir aufgefallen, dass es dunkler geworden war. Vielleicht waren einfach die Lampen weniger stark, mittlerweile gab es auch vereinzelte Kerzen in den Einbuchtungen der Wände.
Die Frau die zu mir sprach, sagte es gäbe jetzt noch fünf Treppen vor mir. Ich sollte sie langsam laufen, ich schaute zu meinen Füßen, oh, nur noch fünf Stufen, damit hatte ich nicht gerechnet. Sie zählte für mich. Fünf, vier, drei, zwei, eins.
Unten angekommen.

Ich bin unten angekommen. Ich schaue immer noch zu meinen Füßen, ich stehe auf einem harten Boden aus festgetreteter Erde. Ich schaue mich um. Es ist ein dunkler Raum, es sieht aus wie ein Keller, ich kann aber keine Wände erkennen. Auch keine Gegenstände. In einiger Entfernung gibt es so etwas wie einen Nebel. Ein schwarz, violetter Nebel. Der Nebel ist überall. Er hält mich davon ab, die Enden des Raumes zu erkennen. Das ist also mein Unterbewusstsein. Ein finsterer Keller. Hätte ich mir nicht ausdenken können.

Ich erkenne sofort das Potential hier unten herumzulaufen. Natürlich weiß ich, dass ich nur mit einer Taschenlampe herumzuleuchten brauche um auf hunderte spannende Sachen zu stoßen. Wahrscheinlich schaffe ich es ohne Lampe, ich würde einfach über die Dinge stolpern, vergessene Ängste, vergessene Begierden, Streckbänke, vermutlich gibt es da Schaufeln, mit denen ich die Leichen ausgraben muss. Nix gegen ein bisschen Schweiß.

Aber die Stimme der Frau lenkt mich davon ab, sie weist mich auf eine Tür hin, die sich ein Stück weiter vorne befinden soll. Ich schaue hin, da steht tatsächlich eine Tür. Ich gehe hin. Die Frau sagt, ich solle die Kiste neben der Tür öffnen. Neben der Tür steht plötzlich eine große Kiste auf dem Boden. Es ist eher eine Truhe als eine Kiste, eine Schatztruhe mit eisernen Beschlägen. Ich öffne sie. Sie ist leer. Die Frau fordert mich auf, alles in die Kiste zu tun, das mich davon abhält, mich hier jetzt mit ihrer Stimme unten in meinem Unterbewusstsein zu befinden. Ich soll alle Ablenkungen ablegen bevor ich durch diese Tür schreite. Das verstehe ich. Ich lege meine Nackenschmerzen in die Kiste, ich lege ein paar Befindlichkeiten in die Kiste und noch ein paar andere Dinge.
Wenn ich also durch die Tür schreite, dann betrete ich also noch eine tiefere Ebene, das ist so spannend, ich frage mich ob ich nicht auf die Aufregung besser in diese Schatztruhe hätte legen sollen, es scheint mir etwas dämlich, da unten aufgeregt zu sein. Während ich vor der Tür stehe und tief durchatme, merke ich, dass ich tatsächlich meinen Nackenschmerz nicht mehr fühle, dabei weiß ich noch, dass er während meines Abgangs in der Treppe noch da war. Ich schaue zur Schatzkiste, mir ist, als würde ich den Nackenschmerz in der Truhe fühlen, aber nicht mehr in meinem Nacken, und wenn ich den Schmerz nicht haben will, dann ist er einfach nicht da. Auch nicht in der Truhe. Irre.
Dann trete ich durch die Tür. Eigentlich hatte ich erwartet, es würde eine weitere Treppe folgen. So etwas wie eine schmale Freitreppe in ein schwarzes Loch hinunter. Aber da ist nur ein weiterer Kellerraum. Ich gehe hinein und schließe die Tür. Es läuft ein Film. Es flackert, der Film wird projiziert, wie in einem kleinen privaten Kino. Es laufen die achtziger Jahre ab, ich bin ein kleiner Junge. Ich bewege mich in diesem Film, ich laufe eine Wiese hinab. Auch ich flackere ein bisschen.

 

[…]

[38,3]

Der Hitze getrotzt und drinnen geblieben. Alle Rollos runter-, die Kleider ausgezogen. Fenster geschlossen, Lampen vermieden, Maschinen ausgeschaltet, mich im Halbdunkel durch den Tag getastet. Musik gehört. Hörbuch gehört. Salat gegessen. Wasser in mich hineingegossen. Wasser über mich gegossen.

[unter Russen]

Letzte Woche in einem Luxushotel in Düsseldorf gewesen. Eine russische Familie wollte sich unsere Dienstleistungen erklären lassen. Zuerst ließ man uns eine halbe Stunde im Foyer warten. Große, schlanke Frauen mit streng gebundenen, blonden Pferdeschwänzen und 12cm Highheels liefen ein und aus. Als sich die Tür zum großen Saal öffnete, bat man uns herein. Man hatte drei Stühle für uns bereitgestellt. In dem großen Saal saßen ein gutes dutzend Männer an Tischen die zu einer U-Form zusammengeschoben waren. Dahinter standen bullige Männer mit Sonnenbrillen mit verschränkten Armen. Ich vermute, dass die Rangordnung in der Mitte des U’s begann. Dort saß ein einfach gekleideter Mann, der fast eine Stunde lang nichts sagte, aber immer ein zufriedenes Lächeln im Gesicht trug. Rechts von ihm saß ein Mann im Anzug, der uns ständig mit Fragen löcherte. Fragen zu Zahlen. Zahlen hier, Zahlen da. Er holte immer sein Tablet dazu und zeigte demonstrativ auf seine eigenen Zahlen. Links von dem Chef saß ein junger, smart gekleideter Mann. Dieser saß immer etwas lässig zurückgelehnt. Warf ab und zu den einen oder anderen Satz ein, der weder kritisch noch zustimmend war. Ganz am Anfang brauchten wir ein HDMI-Kabel. Er hob nur den Finger und blitzbefahl einem der bulligen Männern: „HDMI!“ Der bullige Mann zuckte zusammen und marschierte los.

Wir waren uns nachher einig, dass unser Auftritt nicht sehr überzeugend gewesen sein muss. Es beruhigte uns einigermaßen, den Auftrag nicht zu bekommen.

[nachtigall]

Es lebt wieder eine verliebte Nachtigall in unserem Innenhof. Letztes Jahr war auch schon eine da. Und auch im Jahr davor. Dieses Jahr fing das mit der Verliebtheit schon Ende März an. Meist beginnt die Nachtigall gegen Mitternacht mit ihren dopamingetränkten Triolen. Danach geht es die ganze Nacht lang. Die ganze Nacht lang.

Ich versuche immer vor Mitternacht eingeschlafen zu sein. Oft gelingt es mir aber nicht rechtzeitig. Manchmal werde ich von ihr geweckt. Ich kann dann nur schwer wieder einschlafen. Insbesondere seit ich weiß, dass Nachtigallen einen komplexen Gesang haben, seitdem liege ich nur noch mit offenen Augen da und denke mir: komplexer Gesang, komplexer Gesang, komplexer Gesang. Ich weiß auch schon was die diesjährige Nachtigall von der Letztjährigen unterscheidet. Die Neue hängt nach jedem zweiten Vers eine etwas exzentrische Moll-Kadenz hintendran. Das machte die andere nicht, die trällerte aber hinter jedem Satz ein hohes Schleifchen, wie wenn man ein „W“ zeichnet und hintenraus ein kapriziös verziert.

Letztes Jahr habe ich die Nachtigall einmal aufgenommen. Mitten in der Nacht stellte ich ein Nierenmikrophon ins Fenster und schnitt etwa zwei Minuten lang mit. Danach stellte ich die Boxen ins Fenster und spielte es ihr vor.
Ich weiß nicht, was ich mir von der Aktion genau erwartet hatte, vielleicht, dass es sie verwirrt und einen Konkurrenten um den Nestbau wittert, der sie mit den eigenen künstlerischen Fähigkeiten zu übertrumpfen versucht, eine plagiierende Nachtigall sozusagen, die es aufzustöbern und aus dem Werttbewerb zu kicken gilt. Ja, vielleicht erhoffte ich mir einfach, dass sie etwas anderes macht als ihre Verliebtheit in den Innenhof herumzuträllern. Ich wollte schließĺich schlafen.

Sie zwitscherte aber einfach weiter. Unbeirrt. Das hatte mich schon etwas ratlos gemacht. Dass sie so überhaupt nicht darauf reagierte. So viel Aufwand betrieben um komplett ignoriert zu werden, das war ich nicht gewohnt.

In unserem Haus haben wir einen Emailverteiler. Ich weiß nicht ob es vernünftig ist, die Nachbarn wegen der Nachtigall anzuschreiben. Das kann auch nach hinten losgehen. Eine Nachtigall zu verschmähen ist vermutlich eine ähnliche Kategorie Kinderfresser zu sein.
Immerhin habe ich nie „Ruhe“ in den Hof hineingeschrien, wie andere Leute das machen, wenn Menschen im Sommer zu laut, achtung, vögeln. Insofern bin ich auf meine seltsame Aktion mit den Lautsprechern im Nachhinein schon ein bisschen stolz.

Wenn ich nach zwei Stunden immer noch nicht schlafen kann, dann ziehe ich mein Schlaflager auf die Straßenseite der Wohnung um. Von der Nachbarin auf der anderen Seite weiß ich, dass in deren Innenhof Krähen leben. Sie beneidet mich um die Nachtigall, ich beneide sie um die Krähen. Immerhin gibt es in Berlin kaum noch gurrende Tauben, das ist eine gute Sache, darin sind wir uns einig.

[meine Lieblingsfarbe ist blau]

Meine Lieblingsfarbe ist blau. Oder auch rot. Und schwarz. Aber schwarz ist ja keine Farbe. Ich habe keine Affinität zu Autos. Mit 39 habe ich den Führerschein gemacht und mir ein kleines Auto gekauft. Ich fahre gerne damit. Affinität dazu habe ich aber immer noch nicht. Ich bin auch schon große und dicke Autos gefahren. Mit diesem Gefühl einen fetten Motor unter mit zu haben, konnte ich nicht viel anfangen. Ich liebe Fußball und gehe gerne ins Stadion. Ich liebe Bier. Ich liebe Bier wirklich. Und ich trainiere meine Muskeln weil ich es sehr mag wenn ich meine Oberarme im Spiegel sehe. Außerdem bin ich gerne stark. Ich kann über meine Gefühle reden. Ich habe mehr Freundinnen als Freunde. Ich kann nicht gut bohren, mache es aber sehr gerne, auch weil meine Frau es nicht so gerne macht. Sie kann es aber besser. Überhaupt mache ich gerne grobe Dinge, Bretter anschrauben, Gegenstände befestigen. Es sieht nur nie gut aus. Mich langweilen Actionszenen in Filmen, ich sitze gerne irgendwo um einfach mit jemandem zu reden, ich lächle gerne und bin gerne freundlich. Ich liebe doggystyle. Ich bin zu dick. Manchmal finde ich mich zu dick, manchmal ist es mir egal, manchmal finde ich mich aber auch sehr heiß. Wobei. Ich finde mich öfter heiß als zu dick. Manchmal erschrecke ich dann wenn ich mich im Schaufenster sehe. Apropos Schaufenster, ich gehe gerne shoppen. Kleidung und Technik. Aber auch andere Dinge. Vasen und Geschirr nicht so. Aber Küchen, ich liebe alles was mit Küchen zu tun hat. Ich flirte gerne. Ich kann Männern Komplimente machen. Ich bin gut darin andere Leute zu organisieren. Ich mag Menschen. Ich mag Nähe. Neige aber auch zu Einsiedelei. Mir ist es bewusst wie sehr es mir im Leben geholfen hat ein Mann zu sein. Ich mache Platz wenn ich jemandem im Weg stehe, finde es aber dämlich einer Frau meinen Sitzplatz anzubieten nur weil sie eine Frau ist. Ich liebe Frauen die derbe Witze machen. Ist aber kein Muss. Ich sauge Staub und wische die Böden. Ich koche meistens, ich kümmere mich meistens um den Einkauf.
Ich mache Sachen. Nicht weil ich ein Mann bin.
(Dank an Isa)
(Ich finde Weltfrauentag aber eine super Sache)

[am Halleschen Tor]

Letzte Woche gab ich dem Obdachlosen fünzig Euro. Ich lief schon einige Wochen an ihm vorbei. Er sitzt nur vormittags da, in dem Durchgang zwischen der U1 und der U6 am Halleschen Tor. Er ist ein älterer Mann, er sitzt mit Decke und einem Pappschild auf dem Boden, auf dem Pappschild steht: ich bin Obdachlos und habe Krebs.
Mittlerweile bin ich ja ziemlich abgestumpft. Wenn mich Leute anbetteln sage ich meistens nein. Oder ich mache mir Gedanken dazu. Warum ich ausgerechnet ihm oder ihr die eine oder andere Münze geben sollte. Dabei habe ich gemerkt, dass ich im Laufe der Zeit sehr nach Sympathie oder Bauchgefühl vorgegangen bin. Aus dem Bauchgefühl heraus habe ich immer jene Leute belohnt, die nett geschnorrt haben oder diejenigen die tolle Musik gespielt haben, also Leute die etwas in mir auslösen oder Leute die trotz Armut etwas bewegen oder etwas können.
Aber das ist natürlich falsch. Obdachlos wird man in der Regel weil man gar nichts kann, weil man unsympathisch ist oder weil man nichts auf die Reihe kriegt, nicht mal ein nettes Lächeln, ich bin der Meinung, dass man denjenigen Geld geben muss, die nichts können, die schlecht drauf sind, und auch Trinkern, Holgi sprach in einer seiner WRINT-Sendungen mal darüber, dass man auch Trinkern einfach Geld geben soll, auch wenn man weiß, dass sie es eh versaufen werden. Um sie von diesem Stress zu erlösen den Obdachlosigkeit mit sich bringt, damit sie einfach trinken können, damit es ihnen kurzfristig besser geht, Obdachlosen Geld zu geben ist schließlich keine Investition, sondern man gibt einem Obdachlosen Geld um ihn für eine kurze Zeit vom Stress seines unheimlich anstrengenden Lebens zu lösen. Das klingt so sinnvoll: es ist keine Investition.

Der Obdachlose mit dem Krebsschild hat mich in Gedanken bis nach Hause verfolgt. Mehrere Wochen lang. Krebs zu haben in diesem Scheißleben zwischen zugigen Ubahndurchgängen und was weiß ich wie verkackten Schlafstätten, mit einer Decke und einem Pappschild. Boah. Ich stand unter der Dusche und dachte daran, wie schnell und ohne mit der Wimper zu zucken ich manchmal fünfzig Euro ausgebe wenn ich aus essen gehe oder wenn ich in Mediamarkt herumlungere. Kant hat einmal gesagt, dass man beim Geben von Almosen ja eigentlich nicht dem Bettler etwas Gutes tun will sondern es für sich selbst tut, entweder um sich ein gutes Gewissen herzustellen oder auch einfach nur um dankbare Blicke zu ernten. So ähnlich sagte Kant das jedenfalls, vermutlich klang es bei ihm etwas klüger.
Am nächsten Tag gab ich dem Obdachlosen mit Krebs fünzig Euro. Im Vorbeigehen steckte ich den Schein in den Joghurtbecher und sagte etwas wie „Hab nen schönen Tag“ und ging gleich weiter. Ich schaute mich nicht um, es wäre mir wirklich zu blöd gewesen einen gerührten oder übermäßig dankbaren Blick zu bekommen, denn ich war der andere Typ den Kant meinte, ich war mir sicher: ich würde den Rest des Tages ein gutes Gefühl, ein gutes Gewissen haben.
Aber das gute Gefühl stellte sich den ganzen Tag nicht ein. Abends stand ich wieder unter dem warmen Wasserstrahl der Dusche und dachte an dieses Scheißleben in den zugigen Ubahndurchgängen. Keine Ahnung wie Kant das meinte.