Es ist wirklich lange her, dass ich mich in einer Kirche aufhielt. Ich muss sagen, dass ich gegenüber Kirchen nichts Besonderes empfinde, was man aufgrund meiner Vita in der Klosterschule und den katholischen Bergdörfern vielleicht seltsam finden mag. In Kirchen konnte ich allerdings immer unfassbar gut denken. Schon als Kind lernte ich in der Kirche, mit meinen Gedanken in überraschende Tiefen abzuschweifen. Vermutlich verleitete mich die Langeweile, im Zusammenspiel mit dieser strengen Ästhetik des Leiseseins, des Geradesitzens, der düsteren Betroffenheit in den dunklen, katholischen Kirchen dazu, gedanklich auszubrechen. Und ich verbrachte richtig viel Zeit in Kirchen.
Kirchen sind für mich immer düstere Orte geblieben. Das meine ich aber gar nicht negativ. Für mich besteht die Erhabenheit der Kirche aus dunklen, hohen Räumen, lichtverfälschenden Glasmalereien, Menschen, die ihre finsteren Mienen in die Hände legen und um Vergebung bitten, Nonnen, die ihr Leben einer Imagination opfern, und wortkargen Mönchen mit unaussprechlichen Begierden. Dabei sehe ich es durchaus positiv, wie Menschen, auch junge Menschen und junge Familien, vor allem in der protestantischen Kultur, anders über ihre Gemeinde empfinden, als ich es gewohnt bin. Dieses moderne, lichtdurchflutete, freundliche, lächelnde Gesicht. Diese Gemeinschaft. Das ist ja etwas Gutes. Für mich hat das nur nie im religiösen Kontext funktioniert. Das mag sicherlich daran liegen, dass ich nicht gläubig bin und mein Bezug zur Kirche rein ästhetischer Natur ist und ich in meiner Kindheit zu viel Zeit vor blutüberströmten Kruzifixen verbrachte.
Am Abend bin ich in der Kirche gewesen, weil ich ein Konzert des Chores, dem ich beitreten will, besuchte.
Links vor mir saß ein junger Mann mit tätowiertem Gesicht. Er hielt die Augen meist geschlossen. Sein Gesichtsausdruck vermittelte Schmerz, Leiden. Es kann sein, dass er einfach der Musik lauschte und die Musik ihn traf. Dass er davon genoss. Aus seinem Kragen heraus wand sich eine tätowierte Schlange. Die Abbildung der Schlange schlängelte sich über seinen Hals hinauf, hinter seinem Ohr entlang über die Ohrmuschel hinweg. Ihr Kopf lag an der Schläfe, kurz vor dem Auge. Als würde sie einflüstern und mit ihm beobachten. Der dunkle Begleiter. Der junge Mann schwitzte, er hatte Schweißperlen auf der Stirn und seine Haare waren feucht und fettig. Er war sehr dick, sicherlich Adipositas im zweiten, vielleicht dritten Grad. Er bewegte den Mund, als würde er lautlos die Musik mitsummen oder beten. Ich versuchte, ihn mir in einer anderen Epoche vorzustellen, sagen wir 500 Jahre früher. Ich sah ihn in einer braunen Kutte eines Bettelordens, wie er sich in einem lichtlosen, gemauerten Keller flagellierte.
So sehe ich die Kirche. Es stößt mich allerdings nicht unbedingt ab.
Als die Musik zu Ende war, klatschte er aufgeregt. Vielleicht liebte er einfach nur Bach.
Aber denken! Ich kann in Kirchen so fucking gut denken! Das ist geblieben. Das war mir gar nicht bewusst. Während ich der Musik von Bach und Mendelssohn Bartholdy lauschte, entfalteten sich ganze Textpassagen meines Romans wie Rauchschwaden vor mir aus. Danach ging ich nach Hause und schrieb noch ganze 5 Seiten bis ein Uhr nachts.
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> Es kann sein, dass er einfach der Musik lauschte und die Musik ihn traf. Dass er davon genoss.
Welch schöne Formulierung!