Es ist schon lange her. Ich war noch nicht achtzehn, glaube ich. Oder ich war es gerade geworden. Es war Fasching und ich war mit meinem Freund Jürgen nach Venedig gefahren, zum „carneVALtro“, dem „anderen Fasching“, einem Faschingsfestival auf dem Campo Santa Maria Formosa, in einem kleinen Arbeiterviertel nördlich der Piazza San Marco, eine Gegenveranstaltung zum für viele Venezianer unerträglich gewordenen Massenaufgebot des internationalen Tourismus.
Wir waren schon ein paar Tage vorher angereist. Jürgen und ich waren junge Anarchos, mein Lehrlingsgehalt war aufgebraucht, Jürgen verdiente damals nichts und so schnorrten wir uns durch die Tage, klauten Wein aus dem Supermarkt und tranken eben, weil das zum Glücklichsein dazugehörte. Die Nacht verbrachten wir meistens in einer verlassenen Druckerei unweit des Campos. Ein Junkie hatte uns den Ort gezeigt. Er meinte, da gäbe es zu viele Chemikalien im Boden, da blieben die Ratten fern. Scheinbar schliefen dort öfter Leute. Es gab Matratzen und Decken. Für eine Nacht schmuggelte uns eine amerikanische Austauschstudentin in ihren Schlafsaal. Inmitten eines Dutzends anderer junger Frauen. Ich wundere mich heute, dass das alles so ging, wie es ging.
Alessandra lernte ich aber erst am Rosenmontag kennen. Eigentlich war ich schon viel zu betrunken und weggetreten, um Liebesgefühlen zu verfallen. Und trotzdem gab es einen kleinen, hellen Moment in dieser sumpfigen Nacht. Ich brauchte tausend Lire für einen großen Becher Rotwein und lief quer über den Platz. Da liefen wir uns genau entgegen und blieben voreinander stehen. Sie war schön. Sie leuchtete. Sie war einfach vor mir stehengeblieben und lächelte mich an. Sie machte gar keine Anstalten, auszuweichen und weiterzugehen. Sie blieb einfach stehen. Und lächelte. Es vergingen zehn Sekunden, während wir da einander so gegenüberstanden.
„Rauchst du?“, fragte ich, ohne damit konkret Haschisch zu nennen. Sie bejahte. So nahm ich sie bei der Hand und führte sie zu Jürgen, der ebenso betrunken und weggetreten auf einer Art Brunnen saß und die Umgebung in seinem Inneren betrachtete.
„Jürgen, jetzt rauchen wir. Dreh uns einen Spino.“ Jürgen schaute Alessandra an und erkannte sofort den Ernst der Lage, zog deshalb seinen Vorrat hervor und machte sich ans Werk.
Sie hatte lange, gewellte Haare. Ihre Augen strahlten dauernd. Ob das von Drogen kam oder ob das bloß ihre Fröhlichkeit war, weiß ich nicht. Sie verdiente in Venedig etwas Geld, indem sie, zusammen mit ihrer Schwester, übers Wochenende Touristen auf dem Markusplatz, deren Gesichter, bemalte. Zu Fasching wollte jeder angemalt sein. Vor allem die Leute aus den fernen Ländern. Sie zog zwei Stifte hervor. Rot und gelb. Sie kniete sich vor Jürgen hin und malte ihm Muster ins Gesicht. Jürgen hörte währenddessen mit dem Drehen auf und ließ mit sich machen.
Danach folgten mehrere Stunden, in denen Alessandra, Jürgen und ich Südtiroler Freunde trafen und feierten. Später irrten wir durch die Gassen, dann tranken wir noch mehr und beim Tanzen vor der großen Bühne versuchten wir, uns vor der eisigen Kälte zu schützen. Allerdings kann ich mich nicht mehr an die Details erinnern. Es liegt in einer nebligen Alkoholwolke irgendwo in meinem Gedächtnis verborgen. Ich habe nur noch diese losen Bilder im Kopf und die dazugehörigen Gefühle. Ich weiß noch, dass Alessandra irgendwann abgeholt wurde und gehen musste, zurück nach Padova, wo sie wohnte. Wir hatten uns nicht geküsst, nicht einmal zum Abschied. Das wäre zu viel körperliche Nähe auf einmal gewesen. Überdies glaube ich, wäre ich vom Knutschen schwindelig geworden und hätte mich übergeben müssen. Nein, es war bloß eine liebevolle Umarmung. Und dann ging sie.
Ich hatte noch genügend Verstand, um zu wissen, dass ich am nächsten Tag nach Trento zur Militärmusterung musste. Ein Fernbleiben von der Musterung kam Desertation gleich. Ich war auf dem Campo, bei offenem Feuer, in Gesellschaft meiner Freunde eingeschlafen, wachte nach zwei oder so Stunden Schlaf auf und marschierte völlig automatisiert zum Bahnhof. Da ich keine Fahrkarte besaß, verschanzte ich mich auf der Toilette und stieg rechtzeitig in Trento aus. Die Militärmusterung ist eine eigene Geschichte, die ich vielleicht ein andermal erzähle. Ich brachte den mühsamen Tag auf der Kaserne mit dem Rest meiner mitgebrachten Vodkaflasche um. Während ich das schreibe, wundere ich mich gerade, wie ich die Flasche überhaupt in die Kaserne eingeschleust bekommen hatte. Jedenfalls war ich über alle Wolken hinweg verliebt. Trotz Betäubung und Schlafentzug. Der Liebesbrand überstrahlt alle anderen Empfindungen. So lief der Tag: Ich wartete und dachte an Alessandra, unterwarf mich über den Tag verteilt verschiedenen Tests, motzte gegen das Militär und die Militärs, bis uns ein Soldat am Ende des Nachmittags verkündete, dass wir am morgigen Mittwoch nicht kommen bräuchten, da Aschermittwoch ein Feiertag war.
Sofort realisierte ich, dass ich den letzten Faschingsabend also wieder in Venedig verbringen konnte. Ich musste Alessandra einfach wiedersehen. Es brannte in mir. Ich lief eine halbe Stunde zum Bahnhof, kehrte unterwegs in einen Supermarkt ein, steckte mir eine Whiskyflasche in die Innentasche meiner Jacke und verließ hastig den Laden. Dann setzte ich mich im Zug ins Klo. Zwischen Verona und Vicenza gab es einen aufdringlichen Kontrolleur, der offensichtlich wusste, dass ich mich in der Zugtoilette aufhielt. Er öffnete die Tür mit seinem Spezialschlüssel und verwies mich des Zuges. Ich gab mich in solchen Situationen immer kooperativ, ansonsten riefen Schaffner die Carabinieri und das verlief selten gut.
Vom Bahnhof Santa Lucia lief ich ziemlich zielsicher (nur zweimal verlaufen) zum Campo Santa Maria Formosa. Der Platz war von feiernden Menschen überfüllt, aber ich hielt alle Augen und Poren offen. Wir mussten uns irgendwie gerochen haben. Zwei Minuten nach meiner Ankunft standen Alessandra und ich einander gegenüber. Auch sie hatte mich gesucht.
Die Freude war groß. Sie sprang mir in die Arme. So viel Liebe. Ich wusste gar nicht, wohin mit meinen Gefühlen. Wir kannten uns gar nicht, wir hatten auch nicht viel geredet, nicht viel voneinander erzählt, wir waren nur zwei junge Menschen, die einander zu lange in die Augen geschaut hatten.
Wir tranken den Whisky, liefen zur Bühne und tanzten zur Band. Sie war unbeschwert, sagte eigentlich nicht viel. Sie schien die ganze Zeit bloß glücklich. Vielleicht wegen mir, vielleicht aber auch bloss in sich drin. Sie zog mich hinter sich her, brachte mich zu ihren Freunden und stellte mich ihnen vor. Ich war etwas überfordert mit so vielen Leuten, deren Namen ich mir niemals merken konnte. Nur ihre ältere Schwester blieb mir im Gedächtnis, weil die mich ein wenig genervt anschaute und später am Abend eine nur halb witzig gemeinte Bemerkung fallen ließ: „Und wegen sowas wie dich hat sie uns alle nach Venedig geschleppt.“ Sie lachte dabei. Aber es gab keinen witzigen Anlass dafür. Später kam ich drauf, dass Alessandra viel zu jung war, um die Erlaubnis ihrer Eltern zu bekommen, alleine nach Venedig zu fahren, und deshalb die Schwester mitkommen musste, die wiederum ihren Freund mitnahm, der dann gleich seine ganze Clique hinter sich hergezogen hatte. Die Schwester mochte mich nicht wirklich. Sie hatte sicherlich gute Gründe. Wäre ich die ältere Schwester gewesen, hätte ich mich auch nicht gemocht. Ich war schmutzig, geldlos und schien nicht die Absicht zu haben, irgendwer zu werden. Die paar Gespräche, die ich mit der Schwester führte, drehten sich auch nur um diese paar Themen: Schule, Eltern und wie das so manchmal passiert, gibt man plötzlich ausschließlich falsche Antworten.
Alessandra kümmerte das alles nicht. Und mich daher auch nicht. Wir geisterten zugeraucht und zugetrunken durch die Filmkulisse Venedig. Durch Viertel, die nur nachts und im Winter ausgestorben sind, über kleine Brücken und Treppen. In einer dunklen Gasse, die im Wasser endete, saßen wir am Bordstein und ließen unsere Füße über den Kanal baumeln. Überall nur leises Plätschern der kleinen Wellen an den Häuserfassaden. Sterne, die sich auf der cremigen Oberfläche des dreckigen Lagunenwassers spiegelten. Sie erzählte von sich, dass sie studieren wollte, die Welt kennenlernen, frei sein und all die Dinge tun wollte, von denen man träumt. Eine Ratte schwamm durch das Wasser und schlug kleine Wellen. Ich sagte, das wolle ich auch. Das Freisein. Und die Welt zu sehen. Wir froren und deshalb rannten wir weiter. Wir hatten uns verirrt, und das war gut so. Also rannten wir weiter.
Ganz unerwartet fanden wir auch wieder zurück zu ihren Freunden. Es war schon sehr spät geworden und dementsprechend genervt war auch ihre Schwester. Sie hatte einen Schlafplatz für uns organisiert. An einen Schlafplatz hatten wir gar nicht gedacht. Wir fuhren mit einer Fähre zu einer kleineren Insel, die zu entfernt war, um mit Brücken verbunden zu sein. Es war eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern. Alessandras Schwester und ihr Freund gingen in das kleine Zimmer und wir beide wurden in ein anderes Zimmer verwiesen, wo ein Mann und eine Frau im Bett lagen, die kurz aufstanden und das Gästebett auseinander nahmen. Ich war sehr dankbar für die Schlafgelegenheit, wir waren bis auf die Zehen durchgefroren. Alessandra hatte sich innerhalb weniger Augenblicke ins Bett verkrochen, während ich wohl fünf Minuten brauchte, um mich aus meinen Kleidern zu schälen. Wie lange hatte ich wohl nicht mehr meine Socken ausgezogen? Ich stieg, ganz prüde, mit Unterhose bekleidet, ins Bett und wurde unmittelbar von ihren Armen umschlungen. Sie hingegen war splitternackt. In meinem Kopf spielte ein wilder Halbtraum. Ich war müde, betrunken, hatte Unmengen Gras geraucht und war durch und durch in Liebe ertrunken. Mit geschlossenen Augen sah ich sie vor mir, ein Kriegsfilm lief im Hintergrund meines Kopfes ab, wie sie ekstatisch die Beine um mich klammerte. Ich konnte sie nur noch fühlen. Es kam mir vor wie eine Unendlichkeit, da auf dem Schlachtfeld, wir beide, im Schutz eines umgefallenen Zeltes. Irgendwann kamen wir beide, inmitten des Kriegsschauplatzes, und starben gemeinsam in einen tiefen, langen Schlaf hinein.
Am nächsten Morgen wurden wir von der Schwester geweckt. Alle anderen hatten schon gefrühstückt, und plötzlich herrschte Aufbruchsstimmung. Die Schwester musste nach Padova und Alessandra musste auf alle Fälle mit. Alles ging schnell. Schlaftrunken nahmen wir die Fähre, direkt zum Bahnhof. Ich kam mit. Padova lag auf meinem Weg nach Bozen und meine Zeit in Venedig war jetzt vorbei. Wir redeten nicht viel, sondern saßen uns im Zug gegenüber und waren einfach glücklich, wie man das halt so ist. Sie sagte, sie wolle mich wiedersehen, und das wollte ich auf jeden Fall auch. Ich hatte bloß keine Adresse, die ich ihr geben konnte, deshalb gab sie mir ein Passfoto von sich und schrieb mir auf die Hinterseite ihre Anschrift auf. Padova kam viel zu schnell, und zum Abschied sagte sie noch, dass sie sich auf Briefe freuen würde.
Am nächsten Tag saß ich wieder bei der Musterung in Trient. Den ganzen Tag hielt ich ihr Foto in der Hand. Und damit wollte ich mir auch die öden Stunden in der Kaserne verschönern. Als ich am Abend zurück nach Bozen fuhr und auf der Toilette ihr Foto wieder hervorziehen wollte, fand ich das Foto aber nicht wieder.
endlich habe ich zeit gehabt, ihre geschichte zu lesen, ihre wunderschöne geschichte. da kann man ja von glück sagen, dass sie nicht schlafen konnten! ein bisschen tragisch, aber auch einfach so wie das leben ist. verrückt.
jau frau kerstin, man braucht musse, aber damit geht das unter die haut.
sie haben kristallklares erinnerungsvermögen, lieber herr mek, oder ist das schon auch die herinbrechende fiktion hier und da?
hereinbrechende fiktion, ich bitte sie. ich sollte jedoch zugeben, dass jene ratte im wasser nicht in jenem beschriebenen moment auftauchte. aber was ist schon eine ratte mehr oder weniger in venedig.
ja sie haben recht frau kerstin. so wie das leben ist. ein bisschen kalt meistens. was waere ein leben ohne tragik. da haetten wir ja nichts mehr zu erzaehlen.
wie wahr, wie wahr. es gibt noch so viele geschichten zu erzählen…
Schöne Erzählung über Venedig die du da geschrieben hast! Gefällt mir!
Hatte Sie denn nicht auch die Adresse von dir?
Hat irgendwas Dekadentes, die Geschichte. Ma piase.