in venedig.

Es ist schon lange her. Ich war noch nicht einmal achtzehn glaube ich. Oder ich war es gerade geworden. Schon damals zog es mich jedes Jahr wieder nach Venedig. Zum Fasching. Bloeder haette es natuerlich nicht sein koennen. Alsob ich jedes Jahr nach Muenchen zum Oktoberfest gefahren waere. Aber damals faszinierte mich Venedig zu Fasching immer wieder. Ich war zwei oder drei Jahre vorher zum ersten Mal da gewesen, irgendeine Saufgeschichte, weil ich jemanden aus Venedig kennengelernt hatte, und ich mir die Stadt mal angucken wollte. Man muss ja was von der Welt gesehen haben, um mitreden zu koennen, und von Bozen aus, war das ja nur eine 4 stuendige Zugfahrt. Aus purem Zufall war ich in der Woche vor Fasching da, hing einige Tage herum, das heisst, ich irrte eigentlich mehr, als dass ich hing, und ploetzlich merkte ich, dass die Stadt innerhalb kuerzester Zeit, eine wahre Metamorphose durchgelaufen war. Ich war ja schon immer etwas langsam und merkte daher nur, dass ploetzlich, zwischen einem Augenschlag und dem anderen, aus der ausgestorbenen Lagunenstadt eine richtig ueberfuellte Metropole mit tausenden und tausenden Menschen, aus allen Laendern, geworden war. Und nach dieser Woche besuchte ich Venedig jedes Jahr zu dieser Zeit. Ich blieb meistens drei Wochen, schaute zu wie die Stadt sich fuellte, und sich nachher wieder entleerte. Waehrend ich durch die Stadt irrte.

Ich war in jenem dritten Jahr mit Juergen dort. Fuer unsere rebellierenden Punkerherzen gab es den carnevALtro, den „anderen Fasching“, ein Faschingsfestival in einem kleinen Arbeiterviertel, noerdlich der Piazza San Marco. Wir schnorrten uns durch die Tage, klauten Wein aus dem Supermarkt und tranken eben, weil das zum gluecklichsein dazugehoerte. Die Nacht verbrachten wir meistens in einer verlassenen Druckerei im selbigen Viertel, die uns ein Junkie mal gezeigt hatte. Er meinte, da gaebe es zuviele Chemikalien im Boden, da blieben die Ratten fern. Scheinbar schliefen dort oefters Leute. Es gab Matratzen und Decken. Spaeter wurden wir mehrere Male von einer amerikanischen Austauschstudentin in deren Schlafsaal geschmuggelt. Inmitten einem dutzend anderer jungen Frauen. Ich wundere mich heute noch, dass das alles so ging wie es ging.

Alessandra lernte ich am Rosenmontag kennen. Eigentlich war ich schon viel zu betrunken und weggetreten von allen berauschenden Mitteln, die mir ueber den Weg gelaufen waren, oder mir in den Mund geflogen kamen, um einer Frau die Liebe zu erklaeren, oder wenigstens um einen lieblichen Blick erwidern zu koennen. Und trotzdem gab es einen kleinen, hellen Moment in dieser sumpfigen Nacht. Ich brauchte tausend Lire, fuer einen grossen Becher Rotwein, und lief quer ueber den Platz, da liefen wir uns genau entgegen und blieben voreinander stehen. Um ehrlich zu sein kann ich mich gar nicht mal erinnern wie sie aussah. Ich glaube sie war sehr huebsch. Was mich aber in dem Moment wohl am meisten beruehrte, war dass sie mich bloss anlaechelte und einfach stehenblieb. Sie machte gar keine Anstalten auszuweichen und ihren Weg zu verfolgen, sondern sie blieb einfach stehen. Und laechelte. Ich will von Glueck reden, wenn ich sage dass ich mich auch in betrunkenem Zustand ziemlich gut halten kann, was meine Koerperhaltung und meine schwere Zunge betrifft. Ich machte deshalb wohl einen besseren Eindruck als mir tatsaechlich war. Ueberdies bemuehte ich mich sehr, klar dreinzuschauen. Es vergingen zehn Sekunden waehrend wir da einander so gegenueber standen. Der Dramaturgie wegen haette ich da noch gerne fuenf Minuten draufgelegt, waehrend irgendein seifiger Soundtrack im Hintergrund liefe, aber ich war mir bewusst davon, dass dies kein Film war, und es auch niemanden gab, der uns mit traenenden Augen zusah, sodass ich etwas machen musste, weil sie mir sonst entgleiten wuerde. Ueberdies ist es mir aeusserst zuwider als Apathe angesehen zu werden.
„Rauchst du?“ fragte ich, ohne den Schwerpunkt auf Haschisch festzulegen. Sie bejate. So nahm ich sie bei der Hand und fuehrte sie zu meinem Freund Juergen, der ebenso betrunken und weggetreten auf einer Art Brunnen sass und die Umgebung in seinem Inneren betrachtete.
„Juergen, raus mit dem Zeug. Jetzt rauchen wir“. Juergen guckte Alessandra an und erkannte gleich den Ernst der Lage, zog deshalb sein Rauschgift hervor und fing sofort mit der Arbeit an.
Sie hatte lange, gewellte Haare. Ihre Augen strahlten dauernd. Ob das von Drogen kam, oder ob das bloss ihre Froehlichkeit war, weiss ich nicht. Sie verdiente in Venedig etwas Geld, indem sie, zusammen mit ihrer Schwester, uebers Wochenende, Touristen auf dem Markusplatz, deren Geischter bemalte. Zu Fasching wollte jeder angemalt sein. Und vor allem die Leute aus den fernen Laendern. Sie stoerte Juergen beim drehen des Joints, und strich ihm Rot und Gruen und Gelb ins Gesicht. Er liess es ueber sich ergehen.

Ich wuerde noch gerne ueber den Rest des Abends erzaehlen. Wie wir suedtiroler Freunde trafen, durch die Gassen irrten, noch mehr tranken und uns beim Tanzen versuchten vor der eisigen Kaelte zu schuetzen, jedoch muss ich gestehen, dass ich nicht viel mehr darueber zu berichten weiss, als ich hier in dieser Zeile geschrieben habe. Alles liegt in einer nebligen Alkoholwolke irgendwo in meinem Gedaechtnis verborgen. Ich weiss nur noch, dass sie irgendwann abgeholt wurde und gehen musste, zurueck nach Padova, wo sie wohnte. Wir hatten uns nicht gekuesst, nicht einmal zum Abschied, das waere zuviel koerperliche Naehe auf einmal gewesen. Ueberdies glaube ich, waere ich vom Knutschen schwindelig geworden, und haette mich uebergeben muessen. Nein, es war bloss eine liebevolle Umarmung. Und dann ging sie.

Ich hatte noch genuegend Verstand zu wissen, dass ich am naechsten Tag nach Trient, zur Militaermusterung musste. Ein Fernbleiben von der Musterung kam Desertation gleich. Ich war auf dem Platz, bei offenem Feuer, in Gesellschaft meiner Freunde eingeschlafen, wachte nach zwei oderso Stunden Schlaf auf und marschierte voellig automatisiert zum Bahnhof, stieg in den Zug Richtung Brenner, verschanzte mich auf der Toilette, und wachte rechtzeitig in Trient auf. Die Militaermusterung ist eine eigene Geschichte, die ich, wenn ueberhaupt, ein ander Mal erzaehlen sollte, und nicht hier, wo es letztendlich ja um die Liebe geht. Ich brachte den muehsamen Tag auf der Kaserne, mit meiner restlichen Vodkaflasche um. Trotz der Betaeubung und des Schlafentzuges war ich ueber alle Wolken hin verliebt. Ich wusste zwar nur dass sie Alessandra hiess, und so ungefaehr wie sie aussah, aber die paar kurzen Stunden die wir miteinander verbracht hatten, hatten mein Gemuet voellig im Griff. So ging der Tag vorbei, bis uns der Soldat am Ende des Nachmittags verkuendete, dass wir am morgigen Mittwoch nicht kommen braeuchten, da Aschermittwoch ein Feiertag war. Gleich realisierte ich, dass ich den letzten Faschingsabend also wieder in Venedig verbringen konnte. Ich musste Alessandra einfach wieder sehen. Auch wenn es bisher nur eine spontante verliebtheit gewesen ist, eine verliebtheit die dich im Prinzip auf jeder Party ueberfallen kann, so kam es mir doch sehr wichtig vor. Vielleicht nur, weil ich verliebt war, mag sein, da dreht einem der Kopf nur noch um diese eine Person, aber trotzdem sehnte ich mich danach sie schnell wieder zu sehen. Und darin konnte mich niemand aufhalten, Ich lief eine halbe Stunde zum Bahnhof, kehrte unterwegs in einen Supermarkt ein, steckte mir eine Whiskeyflasche in die Innentasche meiner Jacke, und setzte mich im Zug ins Klo.
Mit etwas Verspaetung, weil ich in Verona ohne Fahrkarte erwischt wurde und man mich aus dem Zug schmiss, kam ich am Bahnhof Santa Lucia in Venedig an. Ich lief ziemlich zielsicher (nur zweimal verlaufen) zum campo Santa Maria Formosa, dem Platz wo der carnevALtro vor sich hin tobte. Es tummelten sich da tausende Leute herum, und ich hielt alle Augen und Poren offen. Wir mussten uns irgendwie gerochen haben. Zwei Minuten nach meiner Ankunft, standen Alessandra und ich einander gegenueber. Auch sie hatte mich gesucht.
Die Freude war gross. Sie sprang mir in die Arme, dabei schlug meine versteckte Whikeyflasche ganz ungluecklich gegen meine Rippen. Aber was ist das bisschen Schmerz schon gegen ein unendliches Gluecksgefuehl. Ich war geruehrt. Im Nachhinein finde ich es witzig, mit welcher Selbstverstaendlichkeit wir uns ploetzlich an den Haenden hielten und herumtaenzelten wie zwei kleine Kinder, waehrend wir uns in der vorigen Nacht kaum beruehrt hatten, ja nichtmal zum Abschied einander auf die Lippen gekuesst. Wir tranken den Whiskey, der uns in der eisigen Nacht waermte, liefen zur Buehne und tanzten zur Band. Sie war unbeschwert, sagte eigentlich nicht viel. Sie schien die ganze Zeit bloss gluecklich. Vielleicht wegen mir, vielleicht aber auch bloss in sich drin. Sie zog mich hinter sich her, brachte mich zu ihren Freunden und stellte mich ihnen vor. Ich war voellig ueberfordert mit sovielen Leuten, deren Namen ich mir niemals merken konnte. Nur ihre aeltere Schwester blieb mir im Gedaechtnis verankert, weil die mich ein wenig genervt anguckte und spaeter am Abend, Sachen sagte, wie „Und wegen sowas wie dich hat sie uns alle nach Venedig gebracht“. Irgendwie als Witz ruebergebracht, aber der Ernst des Satzes war mir keineswegs entgangen. Erst spaeter kam ich drauf, dass Alessandra viel zu jung war um die Erlaubnis ihrer Eltern zu bekommen, alleine nach Venedig zu fahren, und deshalb die Schwester mitkommen musste, die wiederum ihren Freund mitnahm, der dann gleich seine ganze Clique hinter sich hergezogen hatte. Die Schwester mochte mich nicht wirklich. Ich war nun auch bestimmt kein Vorzeigeliebhaber. Ungebildet, schmutzig, geldlos, und auch nicht beabsichtigt irgendwer zu werden. Die paar Gespraeche die ich mit der Schwester fuehrte, drehten sich auch nur um diese paar Themen, und wie das so manchmal passiert, gibt man plotzlich ausschliesslich falsche Antworten.
Alessandra kuemmerte das alles nicht. Und mich daher auch nicht. Wir geisterten zugeraucht und zugetrunken durch eine filmreife Kulisse. Durch ausgestorbene Viertel wo niemals ein Tourist hinfinden wuerde, ueber kleine Bruecken und Treppen. In einer dunklen Gasse die im Wasser endete, sassen wir am Bordstein und liessen unsere Fuesse ueber den Kanal baumeln. Ueberall nur leises plaetschern der kleinen Wellen an den Haeuserfassaden. Sterne, die sich ueberraschend klar im dreckigen Lagunenwasser spiegelten und der Mond der sich ab und zu in den engen Gassen blicken liess. Sie erzaehlte von sich, dass sie studieren wollte, die Welt kennenlernen. Frei sein, und all die Dinge von denen man traeumt. Eine Ratte schwamm durch das Wasser und schlug kleine Wellen. Wir froren und deshalb rannten wir weiter. Wir hatten uns verirrt, und das war gut so. Also rannten wir weiter.

Ganz unerwartet fanden wir auch wieder zurueck zu ihren Freunden. Es war schon sehr spaet geworden und dementsprechend genervt war auch ihre Schwester. Sie hatte einen Schlafplatz fuer uns geregelt. Daran hatten wir gar nicht gedacht. Wir fuhren mit einer Faehre zu einer kleineren Insel, die zu entfernt war um mit Bruecken verbunden zu sein. Es war eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern. Alessandras Schwester und ihr Freund gingen in das kleine Zimmer und wir beide wurden in ein anderes Zimmer verwiesen, wo ein Mann und eine Frau im Bett lagen, die kurz aufstanden und das Gaestebett auseinander nahmen. Ich war sehr dankbar fuer die Schlafgelegenheit, wir waren bis auf die Zehen durchgefroren, glaube ich. Alessandra hatte sich innerhalb weniger Augenblicke ins Bett verkrochen, waehrend ich wohl fuenf Minuten brauchte, mich aus meinen Kleidern zu schaelen. Wie lange hatte ich wohl nicht mehr meine Socken ausgezogen, wuerde ich heutzutage denken. Komischerweise zaehlte das frueher alles nicht. Ich stieg, ganz pruede, mit Unterhose bekleidet, ins Bett und wurde unmittelbar von ihren Armen umschlungen. Sie hingegen war splitternackt. In meinem Kopf spielte ein wilder Halbtraum. Ich war muede, betrunken, hatte Unmengen Grass geraucht, und war durch und durch in Liebe ertrunken. Mit geschlossenen Augen sah ich sie vor mir, ein Kriegsfilm lief im Hintergrund meines Kopfes ab, wie sie extatisch die Beine um mich klammerte. Ich konnte sie nur noch fuehlen. Es kam mir vor wie eine Unendlichkeit, da auf dem Schlachtfeld, wir beide, im Schutz eines umgefallenen Zeltes. Irgendwann kamen wir beide, inmitten des Kriegsschauplatzes, und starben gemeinsam in einen tiefen, langen Schlaf hinein.
Am naechsten Morgen wurden wir von der Schwester geweckt. Alle anderen hatten schon gefruehstueckt, und ploetzlich herrschte Aufbruchsstimmung. Die Schwester musste nach Padova und Alessandra musste auf alle Faelle mit. Alles ging schnell. Schlaftrunken nahmen wir die Faehre, direkt zum Bahnhof. Ich kam mit. Padova lag auf meinen Weg nach Bozen und meine Zeit in Venedig war jetzt vorueber. Wir redeten nicht viel, sondern sassen uns im Zug gegenueber und waren einfach gluecklich, wie man das halt so ist. Sie sagte, sie wolle mich wiedersehen, und das wollte ich auf jeden Fall auch. Ich hatte bloss keine Adresse die ich ihr geben konnte, deshalb gab sie mir ein Passfoto von sichselbst und schrieb mir auf die Hinterseite ihre Anschrift auf. Padova kam viel zu schnell, und zum Abschied sagte sie noch, dass sie sich auf Briefe freuen wuerde.

Am naechsten Tag sass ich wieder bei der Musterung in Trient. Den ganzen Tag hielt ich ihr Foto in der Hand. Und damit wollte ich mir auch die oeden Stunden in der Kaserne verschoenern. Aber ich fand das Foto ploetzlich nicht wieder.

6 Kommentare

  1. endlich habe ich zeit gehabt, ihre geschichte zu lesen, ihre wunderschöne geschichte. da kann man ja von glück sagen, dass sie nicht schlafen konnten! ein bisschen tragisch, aber auch einfach so wie das leben ist. verrückt.

  2. jau frau kerstin, man braucht musse, aber damit geht das unter die haut.

    sie haben kristallklares erinnerungsvermögen, lieber herr mek, oder ist das schon auch die herinbrechende fiktion hier und da?

  3. hereinbrechende fiktion, ich bitte sie. ich sollte jedoch zugeben, dass jene ratte im wasser nicht in jenem beschriebenen moment auftauchte. aber was ist schon eine ratte mehr oder weniger in venedig.
    ja sie haben recht frau kerstin. so wie das leben ist. ein bisschen kalt meistens. was waere ein leben ohne tragik. da haetten wir ja nichts mehr zu erzaehlen.

Kommentare sind geschlossen.