Die Muskatnuss hat in meiner Küche einen schwierigen Stand. Meine Abneigung dagegen ist dermassen gross, dass ich ihn bereits versteckte. Meine Frau reibt ihn mittlerweile heimlich in den Kartoffelbrei. Sie behauptet, ein Kartoffelbrei ohne Muskatnuss sei kein Kartoffelbrei. Es ist nicht notwendigerweise der Geschmack, der mich stört. Es sind die Erinnerungen an den Geschmack dieser Nuss, wie ich sie mir in haschischlosen Nächten in den Wein rieb.
Um meine Abneigung zu verstehen, muss man wissen, dass sie in grösseren Mengen eine überaus wirkungsvolles Rauschmittel ist.
In der ersten Hälfte der Neunzigerjahre war es in Südtirol oft schwer, an Drogen zu kommen. Mit Drogen meine ich jetzt eher die leichten Drogen, also Haschisch, Gras, beizeiten zählte ich auch Ecstasy und Speed, bzw jegliche Amphetamin- und MDMA Verschnitte dazu. Kokain und LSD zählte ich nicht dazu und Heroin auch nicht, Heroin gab es dummerweise ständig, aber von Heroin hielt ich mich immer fern.
Da ich aus einem Bergdorf in Südost-Südtirol komme, gab es allerdings einen ziemlich unbeschwerten Zugang zu Psylocibin Pilzen. Zumindest im Herbst. Pilze konnte man auch gut mit Honig konservieren und sich so durch das Jahr hindurch versorgen. Aber dieses System hatte für mich zwei Haken: zum einen war ich ein lausiger Hamsterer, ich glaubte schließlich an die Anarchie und ich hasste das System, ich hasste jegliche Art von System, sogar ein System um Pilze mit Honig haltbar zu machen. Und der zweite Haken war, dass sich Haluzinogene nicht als Alltagsdroge eignen, die man einfach mal morgens zum Entspannen oder abends in der Kneipe einwerfen kann. Mit Haluzinogenen kann man nicht mal wirklich feiern, weil sie einen zu sehr ins Innenleben hineinziehen und wer will schon unbeschwert feiern, wenn einem dauernd die eigene Psyche vor der Nase aufgezogen wird.
Auch wenn ich einem psychedelischen Trip durchaus mal etwas abgewinnen konnte, war mein Drogenkonsum immer eher sozialer Art, ich nahm etwas ein und hing rum. In Kneipen, bei Freunden, auf Feiern oder in Diskotheken.
Von Psylos kriegt man regenbogenfarbene Augen. Von innen heraus betrachtet. Sozial ist daran nichts.
Gras war sehr selten, meist gab es also Haschisch. Hasch konnte man über Verbindungen am Zugbahnhof oder am Bahnhofspark besorgen. Meist ging das über bekannte Kleindealer, manche Bekannte bezogen größere Mengen über größere Bezugspersonen und handelten ausschließlich mittelgroße Mengen im Freundeskreis. Ich kiffte als Teenie total gerne, aber der Beschaffungsaufwand, der Umgang mit Dealern, die eigentlich durchgängig unsympathisch waren, das nervte mich immer.
Ausserdem nervten mich in Südtirol immer diese Abstände. Ich hatte keinen Führerschein und den Hasch musste man sich komischerweise immer in den Dörfern besorgen, weil die Kleindealer in den Kneipen meist doch nicht so leicht zu finden waren. Oder sie hatten nur gestrecktes „Parafino“, der nicht richtig stonte. In die Dörfer musste ich immer trampen oder sogar einen Bus nehmen, der aber höchstens drei Mal pro Tag fuhr. Ich sass oft in fremden Autos, die mich beim Trampen mitnahmen, und hielt dabei Haschischstangen im Wert von einer halben Million Lire in meiner Tasche. Lire. Halbe Million. Das war nicht so viel, wie es klingt. Zweihundert Euro grob, wenn man das mit heute vergleicht.
Ich bin mir nicht sicher, woher diese Knappheit kam. Ab Mitte der Neunziger wurde es ein bisschen besser, als Ecstasy und Speed (mit zehn Jahren Verspätung) den Markt fluteten. Deswegen vermute ich, dass die Carabinieri und die Polizei einfach ihre ganze Energie auf den Cannabismarkt gelegt hatten. Als dann die moderneren Drogen kamen, erhielten diese die Priorität und der Haschverkehr wurde mehr in Ruhe gelassen. Nur eine Theorie.
Ausserdem spielte sicherlich mit, dass etwa zur selben Zeit die Hippies aus den Seitentälern des Vinschgaus ihre Marihuana nach Bozen und Meran zu verkaufen begannen. Es gab eine Periode in der niemand mehr Haschisch hatte, weil das Vinschger Gras schlichtweg omnipräsent war.
Die schlimmste Zeit war für mich zwischen 1992 und 1994. Ich hatte gerade die Volljährigkeit erreicht und war eigentlich ständig heiss auf jede Art von Drogen. Drogen reinschmeissen, Alkohol trinken und gleichzeitig den Staat bekämpfen. Das war mein Lebensinhalt.
Jene zwei bis drei Jahre war ich ständig frustriert darüber, dass es nichts zu kiffen gab. Und so las ich eines Tages in irgendeinem klugen Drogenbuch über die Muskatnuss. Man konnte sich mit Muskantnuss offenbar richtig gut berauschen.
Ich war ja immer schon sehr experimentierfreudig. In dem Buch las ich, dass man für eine guten Rausch anderthalb bis zwei Muskatnüsse konsumieren musste. Es wurde empfohlen, die Nüsse zu reiben, wie man es beim Kartoffelpüree macht, damit die Nuss zum Einen genießbarer wird, aber auch damit sie vom Körper besser aufgenommen wird und die Wirkung gleichmäßiger und konzentrierter einsetzt. Muskatnusspulver ist geschmacklich sehr intensiv und in so großen Mengen nicht angenehm einzunehmen. Das Buch empfahl, das Pulver in eine Flüssigkeit zu geben.
Mir fiel nichts besseres ein, als sie in meinen Rotwein zu reiben. Das erste Mal Muskatnuss war an einem Donnerstag. Donnerstagabend ging man oft in den Apres Club, weil Donnerstags Hardrock und Heavy Metal aufgelegt wurde. In Südtirol war die Szene klein und Musik war der größte gemeinsame Nenner, um Arschlöchern aus dem Weg zu gehen. Natürlich gab es da auch haufenweise Arschlöcher. Aber wenigstens Arschlöcher, die die gleichen Arschlöcher verabscheuten, wie die, die man selber verabscheute.
Ich war also abends im Apres verabredet. Das Apres befand sich auf halber Strecke zwischen Meran und Bozen, mitten in den Obstwiesen, man konnte die zwanzig Kilometer mit dem Bus, der einmal in der Stunde fuhr, fahren, oder man trampte. Ich war damals Lehrling in einer kleinen Druckerei, die Todesanzeigen und Gemeindeblätter druckte. Um Geld für Alkohol zu sparen, trampte ich.
Nach der Arbeit musste ich zuerst etwa 3 Stunden in Bozen totschlagen. Die meisten meiner Freunde wohnten in Meran und kamen also aus der anderen Richtung, oder sie fuhren nach der Arbeit in ihre Dörfer und kamen dann später mit Freunden ins Aprés. Mein Dorf lag ziemlich weit weg. Weiter weg als die Dörfer aller anderen. Wenn man eines der südlichen Täler komplett hinauffährt, also bis da hin wo das Tal aufhört und dann am Ende des Tales noch einmal den Berg hochfährt, dann erreichte man mein Dorf. Ich wäre mit dem Bus etwa eine Stunde unterwegs gewesen. Das wäre gar nicht schlimm gewesen. Aber es fuhr am Abend kein Bus mehr aus dem Tal heraus. In meinem Dorf gab es auf keine Metalfans, daher fuhr nie jemand ins Aprés.
Ich war das aber gewohnt. Ich hatte immer viel Zeit, die es totzuschlagen galt und fand das auch nicht besonders schlimm. Ich würde einfach in der Kneipe sitzen, die Muskatnuss reiben und mich dann um 8 auf die Drususallee stellen um zu trampen.
Als Druckerlehrling, hatte ich nur wenig Geld und saß daher drei Stunden an einem Glas Rotwein, das ich diesmal mit Muskatnusspulver mixte. Eigentlich wollte ich ja mehrere Nüsse reiben, die ich dann an Freunden im Apres verteilen würde. Ich merkte aber schnell wie anstrengend das Reiben war. Ich saß in der Kneipe und rieb da ewig vor mich hin, keine Ahnung, was die Leute von mir dachten, wenn ich da mit meiner rechten Hand unter dem Tisch eine Stunde lang ruckelnde Bewegungen von mir gab. Nach anderthalb Stunden und anderthalb Nüssen beschloss ich, nur für mich zu reiben und dann die restlichen Nüsse einfach als Ganze mit ins Apres zu nehmen. Sollten sie doch alle für sich selbst reiben, ich hatte bereits steife Finger.
Da die Wirkung zwischen 5 und 10 Stunden dauern konnte, wollte ich nicht zu lange mit der Einnahme warten und trank es also schon in der Kneipe. Das geriebene Pulver vermischt sich nicht gut mit Flüssigkeit. Bei mir schwamm die Pulverschicht einfach auf der Weinoberfläche. Rühren half kaum. Mir war das egal, ich würgte es einfach hinunter.
Bis die Wirkung einsetzt dauert es etwa eine Stunde. Länger als andere Sachen, die oral eingenommen werden. Und dann steigt die Wirkung eher langsam hoch. Bei mir stieg die Wirkung dummerweise genau dann auf, als ich in der Drususallee stand und meinen Tramperdaumen in die Nacht streckte. Ja, ich hatte vom Risiko der Paranioagedanken gelesen, aber wenn mir so etwas Sorgen bereiten würde, dann wäre ich auch nicht experimentierfreudig.
Aber zu fremden Menschen ins Auto steigen, wo gerade die Muskatnuss damit begann, meine inneren Kirchturmglocken läuten zu lassen – Hölle.
Die Wirkung ist eine seltsame Mischung aus sehr starkem Bekifftsein und immer wieder auftretenden, leichten Halluzinationen. Eigentlich fand ich das ganz OK. Damals konnte ich mit Halluzinationen wesentlich besser umgehen.
Nachher im Apres mit der Musik und den Freunden, war es eher wie immer, nur halt, dass ich mich stärker bekifft als sonst fühlte und die optischen Illusionen vermischten sich mit der Lichtanlage, das fiel nicht so ins Gewicht. Außerdem war die Stimmung gut und friedlich, was bei Halluzinogenen ja immer ein wichtiger Faktor ist.
Ich bot die restlichen Muskatnüsse übrigens an, aber niemand schien sich wirklich dafür begeistern zu können. Zum einen lag das sicherlich am langwierigen Reiben aber es war auch so eine ungute Zeit, in der man sich in meinem Freundeskreis mit natürlichen Mitteln wie Pilzen, aber auch LSD beholfen hatte und es dabei zu oft auf negative Erfahrungen hinausgelaufen war. Und Muskantnuss klang wohl sehr schräg und reihte sich sicherlich in diese Reihe ein. Man müsse nicht alles im Leben ausprobiert haben.
Nach einigen Stunden begann eine Übelkeit. Auch davon hatte ich im Vorfeld gelesen (und ignoriert). Ich musste mehrmals mit Brechreiz auf die Toilette, jedoch kam nie etwas hoch.
Irgendwann war es aber spät und ich versuchte mir eine Heimfahrgelegenheit zu organisieren. Ich musste noch zurück in mein Dorf kommen. Zu meinen Freunden nach Meran wollte ich nicht, weil ich dann am nächsten Tag nicht wusste ob und wie ich zu meiner Lehrlingsstelle in Bozen kommen würde. Und ich erschien immer an meiner Ausbildungsstätte, egal, wie viel ich getrunken hatte. Bozner Freunde waren an dem Abend keine da. Meistens gab es Leute mit denen ich zumindest in das Nachbardorf kam, da konnte ich mit etwas Pech eine Stunde durch den Wald laufen aber wenn ich Glück hatte fuhr man mich. An jenem Abend war nur eine Gruppe junger Frauen da, die zwar in einem Dorf auf meinem Berg wohnten, aber mein Dorf war ein halbstündiger Umweg für sie, daher schluge eine von denen vor, dass ich bei ihr übernachten könnte. Ich kannte auch ihre Mutter, die saß immer im gleichen Bus nach Bozen. Ich fand das praktisch, dann hatte ich sozusagen einen Garant dafür, dass ich den Bus schaffen würde. Ich brauchte nur den Bus um 6 Uhr, das ist alles, was mich für den nächsten Tag interessierte. Ich war niemals krank und hatte niemals diesen Bus verpasst. Egal was ich tat. Um drei Uhr legte ich mich völlig betrunken und mit einer donnernden Muskatnuss im Kopf, in ein Gästebett in einer fremden Wohnung. Als ich die Augen verschloss, verwandelte sich das Bett in eine Gewitterwolke, die durch ein atlantisches Tief schwebte.
Das war der Moment an dem die große Kotzerei losging. Ich war mir sicher, dass das nicht vom Alkohol kam, auch wenn ich nicht mehr wusste, wie viel ich getrunken hatte. Meistens trank ich sehr viel, ich übergab mich selten vom Alkohol, es gibt keinen Grund, warum es diesmal anders hätte sein sollen. Außerdem hatte ich in dem schlauen Drogenbuch über das grosse Kotzen gelesen und hatte das gewissenmaßen erwartet. Zumindest in der Theorie.
Die Mutter der jungen Frau, bei der ich schlief, war immer sehr nett zu mir gewesen. Im Bus grüßte sie mich immer freundlich, obwohl wir nie miteinander gesprochen hatten. In den Alpendörfern ist es nicht unbedingt üblich, dass erwachsene Menschen zu jungen Menschen freundlich sind, vor allem, wenn man, wie ich, pumucklfarbene Haare trug. Ich erwähne das, weil ich mich ab dem Tag ihr gegenüber wirklich schlecht fühlte. Ein Bruchstück, an den ich mich von der großen Kotzerei erinnerte, ist, wie ich mit Hand vor dem Mund durch die dunkle, fremde Wohnung irrte und mein Mageninhalt zwischen meinen Fingern durch den Hausflur spritzte. Ich habe keine Ahnung, was ich alles getroffen hatte.
Ich weiss nicht mehr, was danach passierte, ich kann mich nicht daran erinnern wie und ob ich schlief, ich kann mich auch nicht mehr an irgendein Putzen oder Aufräumen erinnern. Ich weiss aber, dass ich den Bus um 6 Uhr noch bekam.
An alle diese Dinge muss ich denken, wenn meine Frau Muskatnuss in den Kartoffelbrei reibt.