Morgens stehe ich wieder am Fenster und schaue über den Fjord. So könnte ich wirklich jeden Tag aufwachen.
Man begegnet hier ständig den gleichen Menschen. Das ist lustig. Vorhin im Supermarkt traf ich die Frau, die gestern die Führung in der Brauerei gegeben hatte. Sie sagte, wir seien eine sehr lustige Gruppe gewesen, ich sagte, ich hätte nach so viel gutem Bier auf dem Weg nach Hause keine Angst mehr vor Eisbären gehabt. Sie bedankte sich. Es wirkte, als sei es ein Kompliment.
Heute war allerdings der erste Tag, an dem wir die Frau in Rosa nicht sahen. Die Frau in Rosa sass vor uns im Flieger von Oslo nach Spitzbergen. Sie wohnte auch im gleichen Hotel wie wir. Sie frühstückte auch zeitgleich mit uns. Und wir sahen sie auch bei Cafe Fruene und in einem Restaurant. Immer alleine. Wir nannten sie die Frau in Rosa, weil sie immer rosa Kleidung trug. Wir glauben sie ist deutsche, wir wissen es aber nicht genau, wir hörten sie nur einmal mit dem Hotelpersonal reden und da klang ihr Akzent deutsch.
Heute sahen wir sie nicht mehr. Weil es unwahrscheinlich ist, sie heute nicht gesehen zu haben, denken wir, das sie vermutlich wieder abgereist ist.
In Cafe Fruene trifft sich die Thai Community. Menschen aus Thailand stellen die zweitgrösste ethnische Gruppe nach den Norwegern. Das ist, weil die Minenarbeiter sich jahrelang im Urlaub in Thailand verliebten und ihre Frauen mit in die Arktis nahmen.
Ich dachte immer, ich würde dem halben Dorf auf Insta folgen, erkannt habe ich bisher niemanden. Besser so. Sonst würde ich zu meiner Frau immer sagen, schau das ist der, und die ist die, und die macht das und das. Ich muss mich ohnehin schon zurückhalten, nicht alles immer zu erklären. Ich würde mich dafür hassen.
Wir gehen heute wieder zur Kirche. Diesmal kennen wir den Weg. Die Kirche ist sehr hell von innen. Vor dem Kirchenraum befindet sich ein weiterer Raum mit Tischen und Sitzecken. Es sieht aus wie ein Vereinsheim. Mitten im Gang zum Altar liegen drei Yogamatten. Dort steht eine Frau die aussieht als käme sie aus einer Berliner Yogaschule. Sie grüsst mich freundlich.
Meine Frau bleibt draussen, sie will nicht schon wieder ihre Schuhe ausziehen, aber ich glaube, sie interessiert sich einfach nicht für Kirchen.
Auf dem Weg zurück ins Dorf, laufen uns ein paar Rentiere über demn Weg. Uns erschlägt eine seltsame Freude über diese unwirkliche Begegnung. Wir zücken die Kameras um den Moment festzuhalten. Rentiere. Ich wunderte mich gestern bereits, warum wir noch keine Rentiere gesehen haben. Auf Youtube sieht man ständig Rentiere durch Longyearbyen laufen. Die sind total friedlich auch auch völlig furchtlos. Irgendjemand sagte, dass gerade einfach keine Rentierzeit sei.
Zurück im Dorf gehen wir in die Taqueria im Kulturhuset. Ich folge der Taqueria auf Instagram. Wir wollen aber nur einen Kaffee trinken, und das Lokal ist halb leer, also frage ich, ob man auch einfach einen Kaffee trinken kann, wir hätten noch keinen Hunger. Die Bedienung ist sehr freundlich und sagte Yes, sie würden ja nicht nur Tacos verkaufen, ich frage, ob das nicht eine Taqueria sei. Sie sagte: das würden wir gerne sein, aber die Menschen hier verstehen das Konzept einer Taqueria aber nicht, also verkaufen wir auch Erbseneintopf und Kaffee mit Kuchen.
Sie sagt das lachend, sie findet das ganz offensichtlich lustig.
Ich bin erst seit gestern Nachmittag wirklich angekommen. Es hat etwas gedauert. Ich habe jetzt die Filter nicht mehr, ich kann alles aufnehmen, was ich sehe, rieche, höre.
Um drei Uhr holt uns ein Bus am Hotel ab und bringt uns zum Hafen. Gestern bekamen wir die Info, dass heute die Bootstour durch den Eisfjord nachgeholt werde. Uns freut das sehr. Bereits um drei hängt die Sonne dermassen tief, dass sie den Horizont rot erleuchtet. Der Sonnenuntergang zieht sich über mehrere Stunden hinweg und begleitet uns die ganze Bootstour lang. Erst vier Stunden später weicht der rote Himmel einem graublau. Am südlichen Horizont bleibt noch lange ein heller Streifen.
Die Tour führte durch den Eisfjord hinauf zu dem Gletscher im Tempelfjord. Wir lernen viel über die alten Trapperhütten an den Ufern, die damals von den Bärenfelljägern erbaut wurden und heute von den Bewohnerinnen Longyearbyens als Wochenendhäuser benutzt werden. Es klingt schon seltsam, wenn du in einem abgelegenen Ort wie Longyearbyen wohnst, dass du dann noch ein Wochenendhäuschen auf irgendeiner velassenen, vereisten Landzunge besuchst. Wenn man hier wohnt, dann fühlt sich Longyearbyen wahrscheinlich wie eine dreckige, laute Metropole an.
Auf dem Boot treffen wir auch wieder die deutsche Familie. Sie waren heute schon auf einer dreistündigen Bergwanderung zum Plateauberg. Hey, wir waren immerhin schon bei der Kirche und hatten einen Kaffee. Das sagen wir natürlich nicht.
Um halb acht kehren wir in den Hafen zurück. Dort wartet ein Shuttle auf uns. Wir hatten noch einen Abend im Adventdalen gebucht. Ein Abend im sogenannten Camp Barents, einem Camp mit mehreren Holzhütten, wo wir (wieder) Rentiersuppe essen und Alkohol trinken werden, während man uns Geschichten über die Nordlichter erzählt. Mit etwas Glück würde es auch Nordlichter geben. Das Camp Barents liegt elf Kilometer taleinwärts in diesem, wie ich finde, phantastischen Adventdalen. Das Adventtal ist ein sehr weites und langes, baumloses Tal. Von Longyearbyen aus, überblickt man weite Teile des Tales und man sieht es die Farben und Schattierungen verändern, je nachdem, wie die Wolken die Sonnenstrahlen niedergehen lassen. Es ist von Tundraboden und feinem Gestein bedeckt. Es erinnert mich an die Unendliche Geschichte. Dieses baumlose Tal, in dem Atreju durch das südliche Orakel schreitet. Das war doch ein weites, baumloses Tal, war es das nicht? Zumindest in meiner Erinnerung war es das.
Es ist bereits dunkel, wenn wir in Camp Barents ankommen. Am Samstag hätte man um acht Uhr noch wesentlich mehr erkennen können. Die Tage verkürzen sich momentan um etwa 20 Minuten, pro, öhm, Tag. Ich wäre gerne bei Tageslicht durch das Adventdalen gefahren, aufgrund des Lichtes im Bus sieht man nur die Lichter der Grube 7 der letzten aktiven Kohlegrube und die Lichter einiger Huskyhütten, also Hütten von Leuten, die Huskys für Schlittenfahrten züchten und halten. Es gibt mehrere davon im Adventdalen verstreut, dieses weite, flache Tal eignet sich natürlich vortrefflich für solche Fahrten.
In Camp Barents sind wir etwa 30 Besucherinnen. Wir werden am Eingangszaun von einem Mann mit einem Gewehr begrüsst. Er stellt sich als Stanislav aus Slowenien vor. Er wohnt seit sechs Jahren auf Spitzbergen und wird uns heute alles über die Arktis und Nordlichter erzählen. Der ganze Abend ist natürlich nur touristische Unterhaltung. Als wir bei der Buchung überlegten, ob wir sowas machen wollen, entschieden wir uns genau aus diesem Grund dafür. Man sitzt irgendwo kuschelig in einer Hütte weitab der Zivilisation und jemand unterhält uns einen Abend lang. Kann man auch mal machen.
Wir werden durch drei jungen Menschen durch den Abend geführt. Zum einen Stanislav aus Slowenien, dann ein junger Mann aus Japan und Merle. Merle ist 23 Jahre alt, sie sagt allerdings nicht woher sie kommt. Sie nennt nur ihren Namen und erzählt, warum sie lebt. Sie hat einen deutschen Akzent. Später am Abend müssen wir aufs Klo, das ist ein Aussenklo etwa zweihundert Meter abseits des Hauses. Sie begleitet uns mit einem Gewehr. Auf dem Weg zum Klo frage ich sie, ob sie aus Deutschland kommt. Sie sagt, sie käme aus Leipzig. Das ist oft so mit Deutschen im Ausland. Sie verheimlichen, dass sie deutsche sind. Das sage ich ihr natürlich nicht. Wir sagen aber auch nie, dass wir in Deutschland wohnen, wir sagen, wir leben in Berlin.
Den Tisch teilten wir mit vier weiteren Leuten. Ein schwules Paar aus Frankreich, wobei einer der beiden aus der französischen Karibik kam. Sie wohnten beide in Oslo, aus Sicherheitsgründen, wie sie sagten. In Frankreich würden sie als verheiratetes Paar oft angefeindet werden.
Die anderen beiden waren ein heterosexuelles Paar aus Italien. Der Mann war zwar in Mannheim geboren, sprach aber kein Wort deutsch, da er in jungen Jahren bereits nach Sizilien umgezogen sei. Die Frau kam aus dem Piemont. Beide wohnten seit drei Jahren in Äthiopien in einem internationalen Camp in der Savanne, wo sie gerade einen Staudamm errichteten. Sie wollen jetzt aber wegziehen und eine Familie gründen und dafür, entweder nach Piemont oder nach Meran in Südtirol zurückkehren (der Wunsch des Mannes) oder nach Skandinavien (der Wunsch der Frau).
So ist das.
Morgen ist der letzte volle Tag. Am Donnerstag fliegen wir wieder zurück. Jetzt möchte ich noch ein paar Tage dranhängen.