[Mo, 2.10.2023 – Tag 3, Svalbardkyrka, Brauerei]

Gestern hatte wir aufgrund der ausgefallenen Bootstour den langen Tag in Longyearbyen. Dieser Tag war eigentlich für heute geplant. Jetzt habe ich ein bisschen Angst, dass uns der Ort langweilt. Longyearbyen ist nicht New York oder London, wo man eine ganze Woche lang von Aufregung zu Aufregung hoppst. Longyearbyen hat man in einem halben Tag gesehen.
Dennoch bin ich vor allem wegen diesem Ort hier. Natürlich interessiere ich mich auch für die Natur, für Wanderungen, Expeditionen und Bootsfahrten, aber zum Teil fallen Aktivitäten wie Wanderungen und Expeditionen aufgrund der Jahreszeit schlichtweg aus. Was mich an Longyearbyen anzieht ist diese Zivilisation am Ende der Welt. Natur, jaja, alles schön und so, aber diese Gesellschaft am nördlichsten Ende der Welt, aufzusaugen wie die Menschen in dieser Eiswüste leben und dabei gute Laune zu haben scheinen, das ist der Grund warum ich hier bin. Ich will wissen, wie sie sich versorgen, wie sie sich bei Laune halten, Wie sie den Fluss überqueren, welchen Jobs sie nachgehen, wie die Kinder hier leben. All das und noch viel mehr. Und ich will natürlich auch die eisbedeckten Landschaften sehen.

Wir wollten heute runter zum Wasser und danach durch ein Wohnviertel und dann rüber auf die andere Seite des Flusses zur Kirche. Das Dorf ist in fünf Teilen aufgeteilt.

1) Das Zentrum mit den Hotels und den Bars am rechten Flussufer
2) Die Wohnviertel am Hang des rechten Flussufers, das sich um die Ecke mit Aussicht über Fjord und Adventdal zieht
3) Das ältere Wohnviertel im finsteren Longyeartal
4) Das alte Longyearbyen auf dem linken Flussufer, mit der Kirche und wo sich heute eigentlich nur nich die Verwaltung befindet
5) Der Hafen und das Gewerbegebiet am Wasser

Wir wollten heute den Hafen und das alte Longyearbyen ansehen. Wir nehmen eine Akürzung über den Tundraboden, sonst hätten wir den langen Umweg auf Asphalt nehmen müssen. Wir sind gestern schon den ganzen Tag auf Asphalt gelaufen. Ich laufe alles mit meinen weissen Nike Air, dafür trage ich warme Socken, das reicht vollkommen.
Unten am Wasser laufen wir über etwas Geröll. Es ist graubraunes Gestein. Das Gelände ist aber nicht zu abwegig. Das ist die Gegend, in der der grosse Fluss aus dem Adevntdalen in den Fjord mündet, es ist ein seltsames Gelände aus Eis, Geröll, Felsen, Schnee und Wasser, unfassbar schön. Tausende Töne aus grau, braun, und blau. Durchsetzt mit weiss und schwarz. Es sind die ersten Fotos die einigermassen gelingen.

Danach steigen wir in das Wohnviertel unter dem Sukkertoppen hinauf. Sukkertoppen heisst Zuckerspitze, oder Zuckerhut, es ist dieser kleine, spitze Berg an dessen Fuss sich dieses neue, schönere Wohnviertel räkelt. Wir streifen das Viertel aber nur kurz, weil wir auf die andere Seite des Flusses zur Kirche wollen. Zuerst wärmen wir uns im Lompen Senteret in einem sehr netten Café namens Fruene. Wir essen eine Rentiersuppe mit Butterbrot. Wir besuchen diesmal auch die Shops, die wir aufgrund des gesrtigen Sonntags nicht besuchen konnten. Meine Frau findet einen superschönen, gelben Wollpulover, ich kaufe mir Handschuhe mit abnehmbarer Kappe, damit man in der Eile ein Telefon bedienen kann ohne die Handschuhe auszuziehen. Ich ziehe die Handschuhe natürlich trotzdem jedes Mal aus. Es ist ein Reflex, ich werde das noch lernen müssen.

Übrigens gibt es an den Eingängen zu sämtlichen Geschäften immer Schilder, die das Mitführen von Waffen untersagen. Sollte ich erwähnen. Weil Menschen hier regelmässig Schiessgewehre bei sich tragen, die sie zur Abwehr von Bären bei sich tragen. Es gilt hier die Pflicht, gegen Eisbären ausgerüstet zu sein. Es gibt ein Protokoll, wie man sich bei Begegnungen mit Eisbären zu verhalten hat. Der letzte Schritt, der nur in einem absoluten Notfall getätigt werden darf, ist der Schuss mit dem Gewehr. Andererseits darf man die sogenannte Safetyzone um Longyearbyen gar nicht ohne eine Waffe, oder jemandem, der eine Waffe bei sich trägt, verlassen. Ausser man befindet sich in einem Auto.

Um auf die andere Seite des Dorfes zu kommen, nehmen wir die kürzeste Route über eine Brücke, die uns auf Googlemaps angezeigt wird. Als wir uns der Brücke nähern, sehen wir riesige Felsen, die darauf abgelegt sind. Sie sollen wohl Autos davon abhalten, die Brücke zu überqueren. Als wir auf der Brücke stehen, wissen wir auch warum. Die Brücke gibt es nämlich nicht mehr. Es sieht aus, als wäre sie von einem starken Wasserschwall mitgerissen worden. Der Fluss ist gefroren, mit einigem Geschick, könnte man ihn vielleicht passieren. Wir beschliessen allerdings, die sichere Route zu nehmen und zwar die nächste Brücke, etwa einen Kilometer taleinwärts.

Wir laufen eine ganze Zeit auf diese Brücke zu und sehen den langen Weg durch den Schnee auf der anderen Seite des Tales. Wir haben viel Zeit um über diesen langen Weg nachzudenken.

Es ist nämlich so: in Longyearbyen sperren die Menschen ihres Autos und ihre Wohnungen nicht ab. Das tun sie zum einen, weil es kaum Kriminalität gibt, aber der wichtigste Grund sind Eisbären. Weil diese hungrigen Tiere immer und überall plötzlich auftauchen können. Auch wenn das selten passiert. Im Dorf gab es den letzten Eisbären vor fünf Jahren. Vor drei Jahren wurde allerdings ein junger Mann auf dem nahegelegenen Campingplatz gefressen. Das ist kein guter Tod. Eisbären töten nämlich nicht vorher, sondern sie fressen während man stirbt.
Ich merke, dass ich mich hier mit einer gewissen Nervosität durch die Gegend begebe. Ich scanne die Umgebung eigentlich laufend nach weissen Tieren ab. Dummerweise läuft hier im Dorf ein weisser Golden Retriever herum, der aus der Entfernung immer ein kurzes, nervöses Gefühl auslöst.

Mit diesem Gefühl des Scannens laufen wir also auf diese Brücke zu und sehen auf der anderen Seite des Flusses, auf die wir gleich laufen werden, eine lange, leere Strasse im Schnee, an der keinerlei Autos und keine Häuser stehen. Wir beginnen,über diese lange leere Strasse zu reden. Wir reden uns ein, dass die Statistik eher gegen eine Begegnung mit Eisbären spricht, wir haben aber auch beide eine blühende Phantasie. Von den vielen Horrorfilmen, die wir immer schauen, sollte ich gar nicht beginnen.

Auf der Brücke beschliessen wir umzukehren. Wir können auch hinunter ins Dorf, ganz unten bei der Uni gibt es schliesslich die grosse Brücke, wir könnten auch von dort aus über die Nordseite hinauf zur Kirche. So machen wir das dann. Wir laufen hinunter zur Uni.
Etwa auf halbem Wege dorthin passieren wir diese hohen Holzhäuser, es ist ein Studierendenwohnheim. Dort sehen wir Menschen über einen Weg durch den Schnee auf uns zukommen. Der Weg führt an Rohren entlang, die über den Fluss führen. Dabei muss man wissen, dass ganz Longyearbyen mit offenen Rohren durchzogen ist. Das hat mit der Beschaffenheit des Bodens zu tun. Es ist Permafrostboden, das Wasser in der Rohren würde frieren. Man müsste die Rohre also beheizen, was wiederum den Permafrostboden zum schmelzen bringen würde, was die Infraktuktur destabilisiert. Also laufen alle Rohre überirdisch. Warmwasser, Kaltwasser, Abwasser. Zwei solche dicke Rohre führen auch über diese Stelle des Flusses, von der die Menschen herkommen. Ich ahne, dass es dort einen Überweg für Personen gibt. Als die Leute bei uns ankommen, frage ich, ob an den Rohren entlang ein Fussgängerinnenüberweg führt. Ein Mann bejaht es und sagt: von da aus kommt man dann überallhin. Ich verstehe nicht ganz, was der Mann mit „überallhin“ meint, aber es überallhin klang gut.

Die Überführung ist ein schmales Holzgestell, das für Fussgänger an die Brücke für die Rohre angebaut wurde. Sie ist so schmal, dass man nur hintereinander drüberlaufen kann.
Am Ende der Brücke landet man auf einer Fläche mit Geröll. Es gibt dort keine Wege. Man könnte schlicht überall hingehen. Das meinte der Mann vielleicht damit: man kommt von da aus überallhin. Entweder rechts runter über eine Schotterfläche zum Gewerbegebiet, oder am steinigen Flussufer in das Tal hinauf. Oder auch über eine sehr steile, vereiste Böschung hinauf zur Kirche. Weil wir zur Kirche wollen, versuchen wir die Böschung, aber das Eis ist Teil der Böschung. Wir würden uns die Knochen brechen. Nach einer längeren Diskussion entscheiden wir uns für das Gewerbegebiet. Wir könnten diesen vielleicht zwanzigminütigen Umweg nehmen, aber es reicht uns und wir gehen zurück in das Hotel.

Dort entspannen wir uns. Es gäbe im Hotel einen Whirpool und eine Sauna. Für den Whirlpool bräuchte man aber Badesachen. Die haben wir natürlich nicht mitgenommen, für unseren arktischen Strandurlaub.

Die Haut wird hier sehr strapaziert. Unsere Fingerkuppen trocknen schnell aus. Warum auch immer gerade die Fingerkuppen. Es ist ratsam
sich mit Creme einzudecken.

Um halb sechs gehen wir los zur Svalbard Bryggeri. Ich habe uns eine Brauereiführung gebucht. Es ist die nördlichste Brauerei der Welt. Sie befindet sich etwas ausserhalb, an der Strasse zum Flughafen, zwar noch innerhalb der Safety Zone, aber man läuft etwa 20 Minuten lang an Container vorbei, eingepfercht zwischen Wasser und einem Bergrücken. Immerhin stehen dort mehrere Autos, in die man flüchten könnte. Ausserdem sehen wir mehrere kleine Menschengruppen, die sich möglicherweise auch auf dem Weg zur Brauerei befinden.

Ich mag diese Gewerbegebiete. Es ist ein bisschen schäbig. Es erinnert mich an diese schäbigen Orte in Krimis über Alaska.

Die Brauerei befindet sich in einem schlichten Gewerbebau in diesem Gebiet am Hafen. Sie stellen ein sehr gutes Pils und ein phantastisches Pale Ale her. Das Weissbier ist auch OK, aber Weissbier ist generell nicht so mein Fall. Die anderen Biere sind auch gut, ich bin aber nicht so der Fan von Rotbieren oder von Stouts. Guiness ist das einzige Stout, das ich mag, weil es sich so trocken anfühlt, normale Stouts sind mir immer zu schokoladig, das passt für mich nicht so.

Ich weiss natürlich alles schon über diese Brauerei. Wie es eigentlich verboten war, auf Spitzbergen Alkohol herzistellen, wie der Gründer, ein Mann, der 12 Jahre lang in einer Kohlemine im Adventdalen arbeitete, 5 Jahre lang die Behörden in Oslo nervte, damit sie das Gesetzt ändern würden. Und wie es dann in 2015 die Behörden und der Innenminister Norwegens zur Eröffnungsfeier in die Arktis kam.

Bei der Verkostung sitzen wir neben drei Menschen aus Freiburg. Es ist eine Familie, die 15 Jahre in der Nähe von Stockholm lebte. Der Vater ist ein älterer Mensch, der immer mit einer etwaa professorialen Haltung über die Dinge redet. Die Mutter und der Sohn sind aber eher sympathisch.
Die drei sind unglaublich aktiv, sie waren in zwei Tagen bereits auf zwei langen Bergwanderungen im Schnee. Wir beschliessen, kein Wort über unsere nicht getätigten Wanderungen zu verlieren. Morgen werden wir sie auf der Bootstour treffen, wenn sie denn stattfindet.

Auf dem Weg zurück ins Dorf haben wir einen im Tee und haben natürlich keine Angst vor Eisbären mehr. Wir spazieren hinauf bis ins Restaurant Kroa, dort esse ich ein Rentierfilet, auch diesmal wieder mit einem phantastischen Karottenpuree. Wahrscheinlich gibt es hier einen Karottenpureekoch, der Karottenpuree für das ganze Dorf herstellt.