Wir fuhren um acht Uhr los, damit wir die Fähre um 11:15 in Rostock erreichen. Das ist eine Fahrt mit fast einer Stunde Puffer. Man weiss nie, was auf der Strecke passiert und wenn man die Fähre verpasst, dann muss man zwei Stunden warten, deshalb plane ich für die Rostockfähre immer genügend extra Zeit ein. Ich warte immer gerne am Fährhafen, das Warten auf der Fähre weckt bei mir Reisegefühle. Die Möwen, die Autos, die Meerluft, das Wasser, über das ich bald in ein anderes Land gebracht werde.
Ich weiss noch nicht ganz, welche Rolle ich meinem Vater in diesem Reisebericht geben werde. Entweder bin ich stockehrlich und reflektiere auch unsere Beziehung bzw unsere nicht existierende Beziehung, aber dann sollte ich ihm besser verschweigen, dass ich das alles im Internet protokolliere. Er kennt dieses Blog nicht. Bzw hat er schon einmal davon gehört, aber ich glaube nicht, dass er weiss, wie man es findet. Er sucht bei Google immer via Spracheingabe und lässt sich die von Google kuratierte Antwort vorlesen. Wenn sein Sprachbefehl keine vorgelesene Antwort liefert, sondern einen Webbrowser öffnet und die Google Ergebnisliste zeigt, dann sieht er die Suche als missglückt an und ändert seinen Sprachbefehl. Finde ich megasüss.
Alternativ könnte ich ihm einfach seine lustige Rolle zuschreiben, und die Reise mit dieser Perspektive auf ihn erzählen. Und ihn vielleicht auch so darstellen, wie er sich gefallen würde. Dann könnte ich Stories auf Insta mit dem Bloglink versehen und er würde es alles nachlesen. Oder sich vermutlich vorlesen lassen.
Aber das wäre etwas zu oberflächlich.
Oder ich mache eine Mischung aus beidem. Ein bisschen lustig und ein bisschen privat. Aber dann zeige ich es ihm lieber nicht. Ach ich weiss nicht. Ich hatte heute viele Gedanken auf der Fahrt. Wir schnitten viele Themen an, aber gingen nie in die Tiefe, was aber auch okay war. Ich muss wirklich nichts aufarbeiten. So waren die Väter früher halt. Ein bisschen abwesend und ein bisschen zu sehr auf ihre Arbeit und ihr Leben fokussiert, mir sind die vergangenen Fehler eher egal, ich möchte eher sehen, ob uns noch etwas verbindet und dass man ein paar gute Dinge gemeinsam erlebt und vielleicht viele gute Erinnerungen übrig behält. Er ist jetzt 75, ich denke nicht, dass wir noch zwanzig Jahre Zeit haben, eine solche Reise zu unternehmen.
Auf der Fähre nahmen wir Selfies im Wind. Ihm gefällt es, mal in eine ganz andere Richtung zu fahren. Unterwegs im Auto will er Tante Zita anrufen. Tante Zita betet nämlich jeden Abend für mich. Tante Zita spinnt ein bisschen und ist einem religiösen Wahn verfallen, aber sie ist lustig. Als wir sie auf der Freisprechanlage haben erzählt mein Vater mit grosser Geste, wo wir uns gerade befinden, in Dänemark und gleich fahren wir auf die nächste Fähre. Es klingt aus seinem Mund, als würden wir die Weltmeere besegeln.
Danach rufen wir seinen Bruder Onkel Konrad an. Es folgt ein ähnlicher Monolog. Onkel Konrad war aber sehr interessiert und stellte Fragen, bei denen man merkte, dass er sich schon einmal damit auseinandergesetzt hat. Er fragte sich nämlich, warum wir nicht die direkt Fähre nach Schweden genommen hätten, er dachte nämlich, das ginge schneller. Es wunderte mich. Ich glaubte bisher immer, Onkel Konrad hätte das Dorf, in dem er wohnt, noch nie verlassen.
Auf der Fahrt will sich mein Vater alles von mir erklären lassen. Wie man das A mit dem Kringel ausspricht, ob das Ö auf Schwedisch so klingt wie das deutsche Ö, warum die Häuser alle Rotweiss sind, und wie das mit der Isolierung läuft undsoweiter. Ich kann fast alles beantworten.
Wir fahren zu unserem Häuschen im Wald. Das Gras ist mittlerweile kniehoch, es müsste demnächst gemäht werden, aber das mache ich erst im Juli, wenn ich wiederkomme.
Unterwegs hatten wir uns Tagliatelle und Tomatensauce gekauft. Da ist mein Vater wieder voll der Italiener. Danach spazieren wir runter zum Fluss, ich zeige ihm alles, er ist sehr neugierig und aufgeschlossen. Dann werfen wir Ball mit der Hündin. Sie hatte heute wirklich nicht viel Bewegung, ich bin gespannt, wie sie die Reise mitmacht.
Mein Vater schaut immer auf die Uhr und prüft, wo sich die Sonne befindet. Dass die Sonne fast im Norden untergeht, findet er fantastisch. Er textet Freunde in Südtirol an und fragt, wie dunkel es dort ist. Dann schickt er Selfies mit Abendsonne im Gesicht. Er erinnert mich an eine kindliche Version von mir selber. OK, das „kindliche“ kann man vielleicht streichen.