[Fr, 15.8.2025 – Berggarten, Dostojewski, Goethe, Suizide, Arktisreise, Kaurismäki]

Ich strenge mich wirklich sehr an, mich nicht über die Hitze zu beschweren. Wirklich.

Gestern war ich im Berliner Berg-Biergarten in Neukölln. Die ehemals kleine Hinterhofbrauerei hat jetzt ja ein ziemlich großes Fabrikgebäude auf einem Gewerbegebiet zwischen Treptower Park und Sonnenallee hingestellt und betreibt dort neben Braukesseln auch einen kleinen, feinen Biergarten. Damals, vor zehn Jahren, war ich ja einer der ersten Unterstützer, da sie eine Crowdfunding-Aktion angestoßen hatten, um die ersten Braukessel anzuschaffen. Ich gab ihnen 150€ (oder waren es 350€?) und dafür bekam ich eine Messingplakette mit deren Logo und auf der Hinterseite meinen Namen mit der Unterstützernummer: 10.

Mit dieser Plakette bekomme ich jeden Tag ein Gratisbier in deren Ausschank, so lange es sie gibt oder so lange es mich gibt. Früher, als sie noch in dem Neuköllner Hinterhof brauten, war ich öfter da. Seit sie aber die große Fabrikshalle gebaut haben, habe ich es nicht mehr geschafft, einfach weil es ein bisschen ungünstig liegt, ziemlich fernab von den üblichen Gegenden, in denen man sich sonst so herumtreibt.

Ich wusste gar nicht, ob die Messingplakette auch in der neuen Location funktioniert. Die Frau am Tresen wusste aber sofort Bescheid und schenkte mir ein großes Bier umsonst ein. Ich kam mir vor wie ein Veteran. Oder ein Sugardaddy aus dem Biermittelalter. Was auch immer das sein mag.

Dummerweise brauen sie nicht mehr das leichte Session-IPA. Es war mein Lieblingsbier und das perfekte Sommerbier. Sehr hopfig, aber nicht sehr alkoholisch. Natürlich wollte ich wissen, warum sie es eingestellt haben. Es lag offenbar an den drastisch gestiegenen Hopfenpreisen. Ein sehr hopfiges Bier braucht natürlich auch mehr Hopfen und damit wäre es so teuer geworden, dass es entweder niemand kaufen will oder sie draufzahlen würden. Kann ich nachvollziehen.

Eigentlich wollte ich bei solcher Hitze keinen Alkohol mehr trinken. Aber was soll ich machen. Endlich schaffe ich es mal ins Berliner Berg und dann glüht Berlin bei 34 Grad.

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Die Hitze ging heute weiter. Am Morgen traf ich die Travelling Lady, die gestern von ihrer Skandinavienreise zurückkam, auf einen Spaziergang mit unseren Hunden. Die beiden Tiere freuten sich tatsächlich, einander zu sehen. Das war sehr schön. Tagsüber schrieb ich endlich wieder an der langen Geschichte weiter. Es sieht so aus, als hätte ich wieder reingefunden. Dafür musste ich aber dreißig Minuten lang den vorangehenden Text lesen. Klar. Wusste ich vorher, aber mir fehlte der Zugang zu mir selbst, um dreißig Minuten lang einen fiktionalen Text von mir zu lesen. Heute tat ich es jedenfalls und ich fand mich in so einem Gedankenstrom wieder. Die Figuren sind wieder da, die Szenen sind wieder lebendig.

Später am Nachmittag traf ich meine Frau bei Dussmann in der Friedrichstraße. Sie musste ein Buchgeschenk abholen und ich wollte checken, was sie dort so an handlichen Büchern haben. Neuerdings kaufte ich mir ja Knausgård als handliche Taschenbuchausgabe. Seitdem bin ich von diesen Miniaturbüchern sehr angetan. Weil sie gut in der Hand liegen und auch weniger schmerzen, wenn man darunter einschläft. Aber das schrieb ich schon einmal.

Sie führten eine große Anzahl Titel, auch die Neuübersetzung von Dostojewskis „Schuld und Sühne“, der man nun endlich den richtigeren deutschen Titel „Verbrechen und Strafe“ verpasst hat. Vor einigen Jahren sahen wir diesen Dokumentarfilm namens „Die Frau mit den 5 Elefanten“, einen Film über Swetlana Geier, eine charismatische, sehr alte Frau, die sich zwanzig Jahre Zeit genommen hat, um die fünf großen Bücher Dostojewskis in zeitgenössisches Deutsch zu übertragen.

Meine Frau sagte, ich solle das doch kaufen. Aber ich besitze das Buch bereits, noch mit dem alten Titel, es steht seit zwanzig Jahren ungelesen im Schrank. Dabei muss ich gestehen, dass Russen es bei mir derzeit sehr schwer haben, um mein Interesse zu wecken. Sind sie selber schuld.

Unter den Miniaturausgaben befand sich auch Goethes Werther. Ich habe noch nie etwas von Goethe gelesen, dafür war ich nicht lange genug auf der Schule. Später, als ich mir alles selber beibrachte, interessierte mich dieser manierliche Mann nicht genug. Was ich über die „Leiden des jungen Werthers“ allerdings weiß, ist die Tatsache, dass er eine Suizidwelle unter jungen Männern auslöste. Ich hab’s gerade nochmal gegoogelt. Ganz so schlimm war es wohl nicht, aber immerhin lässt sich bestätigen, dass sich ein gutes Dutzend Männer aufgrund dieser Schrift das Leben nahmen. In Südtirol gab es in den Achtzigern und Neunzigern auch größere Suizidwellen. Weil das immer eine große Medienresonanz auslöste, einigte man sich darauf, nicht mehr über Suizide zu berichten, um keine Nachahmungen anzustiften. Das beschäftigte mich damals ungemein, da ich selber einige Menschen kannte, die sich entweder das Leben genommen oder einen Versuch unternommen hatten. Diejenigen, die überlebten, wurden danach im Dorf anders behandelt. Sie wurden in Ruhe gelassen, sie schienen aber auch keine Fröhlichkeit mehr vorzutäuschen, sondern waren offen deprimiert, freudlos. Man sah sie alleine, auch in der Kneipe. Als Jugendlicher gruselte ich mich fast ein wenig vor den Überlebenden. Sie liefen mit einem unsichtbaren Stigma auf der Stirn herum. Fast so, als wären sie von den Toten zurückgekehrt.

Die Medien hörten jedenfalls mit der Berichterstattung auf. Wegen der Nachahmungen. Nachahmungen. Das beschäftigte mich. Als Teenager hegte ich durchaus romantische Gefühle für den Tod. In gewisser Hinsicht romantisierte ich auch den Suizid und dachte oft darüber nach. Nicht, dass ich je ernsthaft daran dachte, mir das Leben zu nehmen, aber sehr oft waren meine Suizidgedanken hypothetisch. Begleitet durch einen deprimierenden Soundtrack von elektrischen Gitarren. Ich konnte diese Nachahmungen nachempfinden. Dieses Reinrauschen, dieses befreiende Gefühl, mitgerissen zu werden. Dieses befreiende Gefühl, der Ausweglosigkeit durch einen Sog zu entkommen.

Ich weiß nicht, ob man heute noch so über Suizid schreiben kann. Dummerweise ist das vernünftigste Ende des Romans, an dem ich gerade schreibe, der Suizid von einer der drei Hauptfiguren. Es ist wirklich das einzig mögliche versöhnliche Ende. Aber ich finde auch, dass ich das so nicht bringen kann. Ein bisschen Zeit habe ich ja noch. Am Ende kommt es ja ohnehin immer anders, als man es geplant hat.

Jedenfalls kaufte ich auch nicht Goethe. Ich entschied mich für den Reisebericht einer französischen Frau namens Léonie d’Aunet, die 1838 eine Arktisexpedition begleitete. Das war vor fast 200 Jahren und sie reiste übers Land, von Frankreich nach Rotterdam über Hamburg und Kopenhagen, durch viele Orte, die ich letztjährigen Sommer und im Jahr davor auch bereiste bzw. Orte, die ich von meinen Schwedenreisen kenne. Helsingborg, Göteborg, Linköping, Sundsvall, Gävle, Umeå, Luleå, Karesuando, Nordkapp usw. Sie reiste dann weiter nach Spitzbergen. Damals gab es dort noch nicht einmal Longyearbyen. Longyearbyen wurde erst 80 Jahren später gegründet. Sie schrieb noch ein paar weitere Romane, aber in Frankreich wurde sie wegen dieses Reiseberichtes berühmt. Das Buch wurde erst jetzt, 2024, im Mare Verlag auf Deutsch veröffentlicht. Ich freue mich sehr darauf.

Abends zuhause schauten meine Frau und ich dann Aki Kaurismäkis „Wolken ziehen vorüber“. Jetzt bin ich aber ein bisschen zu müde, um noch dieses Fass aufzumachen. Außerdem drücke ich mich die ganze Zeit davor, aktuelle Nachrichtenseiten zu öffnen, die gerade von den beiden Unterhändlern in Alaska berichten werden. Ich möchte das erst morgen lesen, keine negativen Gefühle mit in den Schlaf nehmen. Einen ganz einfachen Gedanken zum Film kann ich jedoch noch loswerden: Die ganze Zeit fiel mir auf, wie russisch bzw. osteuropäisch Finnland in dieser Zeit noch war, während ich Finnland in den letzten Jahren immer sehr europäisch wahrnahm. Bei Kaurismäki wirkt Finnland immer eher baltisch als skandinavisch. Ich habe noch keine weiterführenden Gedanken dazu. Wird mich aber beschäftigen.

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