31 Mai Montag/Monday – Nachbar

Mein Nachbar von oben war mir nie ganz geheuer. Schon von Anfang an nicht, wo uns schon der Vermieter im voraus eine Warnung abgab, es jedoch als ’nicht weiter schlimm‘ abtat, er halt nur meinte, der oben haette Streit mit seinem Schwager, der auch oben wohnte und sie sich eben manchmal anschreien wuerden. Die anderen Mieter im Haus redeten immer von den ‚beiden Tuerken da oben‘ wenn sie davon sprachen, obwohl der eine mit seinem Sohn wohnte und der andere mit seiner Frau. Also durchaus Familien. Meine Mitmieter sind auch moderne junge Leute, von der toleranten Art, aber die Geschichten von Schlaegereien im Hause und Krankenwagen der blutueberstroemte Leute aus den beiden Wohnungen oben holte, war auch denen nicht so geheuer. Seit Julietta und ich hier eingezogen sind, gab es weiters keine besonderen Zwischenfaelle, ausser einigen Bruellereien und einmal wurde oben die Tuer eingetreten, aber davon hatten wir nichts mitbekommen weil wir damals in Wien waren. Davon hatten wir nur gehoert. Und dann halt das vollgeschissene Treppenhaus von letzter Woche, wovon ich mich durchaus zu sagen traue dass es wohl irgendein Racheakt gewesen ist, der in deren sozialen Zusammenhang stand.
Vor etwa zwei Monaten zog der Mann oben rechts mit seiner Frau weg, und jetzt wohnt ein eifriger junger Mann mit guten Musikgeschmack dort und die Lage hat sich soweit gebessert. Nur blieb der in meinen Augen gefaehrlichere der beiden Tuerken weiterhin wohnen. Jedoch nicht weiters schlimm. Ich verstehe mich mit seinem Sohn ziemlich gut. Zwar ein halb-krimineller Tuerke, aber im Grunde kommt er mir so grundehrlich vor. Und eigentlich nett und freundlich. Aber seine Freunde, mit denen er vor dem Haus rumhaengt lassen wohl alles andere ahnen. Irgendwie verstanden wir uns auf Anhieb gut. Wir schuettelten uns beim kennenlernen die Hand und er bot mir Hilfe beim Einzug an und wenn wir
uns im Haus oder auf der Strasse treffen quatschen wir immer kurz miteinander. Er arbeitete im Hafen, machte oft naechtliche Schichten und trainiert taeglich Boxen. Damit will er mal Geld verdienen. Er ist auch ziemlich muskuloes gebaut, vielleicht etwas klein, aber er koennte es durchaus mit mir aufnehmen. Er tut mir irgendwie Leid. Wahrscheinlich wegen seinem kleinen Fehler. Er hat das Tourette-Syndrom. Ich glaube es ist eine Krankheit, psychisch soviel ich weiss, und das laesst einen dauernd unkontrolliert fluchen oder andere komische Laute oder obzoenitaeten ausstossen. Bei ihm aeussert es sich als staendiges Stoehnen und brummen wenn er redet, vor allem wenn er nervoes ist. Und der arme hat vor einigen Wochen seinen Job im Hafen verloren und nun findet er keine neue Anstellung mehr. Ich stell mir seine Bewerbungsgespraeche vor, wie er vor dem zukuenftigen Boss sitzt und nach jedem zweiten Wort stoehnt, und sich dieser Boss denkt, lass dieses Gespraech bloss bald zu Ende sein damit ich mich mit diesem Spinner nicht weiters abgeben muss.
Sein Vater ist Alkoholiker und warum seine Mutter nicht mehr bei ihnen wohnt habe ich bisher nie gefragt, und er selbst erwaehnte seine Mutter mit keinem einzigen Wort. Freilich hat er mir von deren Streit da oben erzaehlt und er sagte schon beim unserem ersten Gespraech, dass sein Vater mal ab und zu ein bisschen laut sein kann, er habe halt Streit mit seinem Schwager nebenan, schon seit zwanzig Jahren, aber wenn es uns mal zu viel werden sollte, sollen wir zu ihm kommen, weil alles liess sich regeln und alles kaeme gut. Bloss nicht Polizei oder so, ja? Er ging nicht naeher auf meine Frage ein wo ich wissen wolle wroum es zwischen den beiden ging. Nur dass es schon ganz lange her ist, und dieser Schmerz ganz tief saesse, sagte er und legte seine Faust auf sein Herz.
Er sieht eigentlich gut aus. Ohne weiteres. Und er ist auch cool mit seinem Cabriolet und er wuenscht sich so gerne eine Freundin, aber mit seinem Sprachfehler ist er in seiner coolen Gesellschaft wohl fehl am platze. Er traeumt von einer grossen, sexy Frau, die gut aussieht. Leider will diese grosse, sexy Frau zwar seinen coolen Sportwagen, aber wird seinen Fehler nicht akzeptieren. So sind diese grosse sexy Frauen mit Tigermustertaeschchen und goldenen Klunker nunmal. Und vor allem wenn er im Hafen arbeitet. Oder arbeitslos ist. Da ist er einfach in der falschen Gesellschaft.
Gestern Abend kamen Julietta und ich noch von einem naechtlichen Spaziergang zurueck nach Hause und da sah ich ihn schon von weitem mit seiner Gang von drei anderen Tuerken, wie sie vor unserem Haus sassen und ich liess gleich Julietta los um meine Hand frei zu haben, weil er mich gleich ‚cool‘ seine Hand entgegen strecken wuerde und fragen ‚Ey wie gehts?‘. Jedoch blieb das diesmal aus. Er gruesste zwar, aber mehr kam da nicht, also sagte ich gleich ‚Ey Junge wie gehts so?‘. Gleich merkte ich dass irgendwas nicht stimmte. Er guckte zu Boden und auf die Seite und sagte ’naja nich so gut ey‘ und guckte weiter nervoes umher ‚mein Vater ist gerade gestorben‘.
Traurige Angelegenheit. Es hat mich sehr beruehrt. Der Junge hat sonst niemanden. Er redete was von seinem Onkel, was wohl der Typ sein musste, mit dem sich sein Vater immer gepruegelt hatte, aber so sauber kam mir der auch nicht vor. Die Miete koenne er dann wohl auch nicht mehr bezahlen. Und er redete irgendwas von ‚zurueck in die Tuerkei oderso‘ auf meine Frage ‚was nun?‘.
Weiss nicht warum ich das aufschreibe, hat mich irgednwie beruehrt seine Situation eben.

Ein Kommentar

  1. Es sind die merkwüdigen Brüche hinter den Fassaden, den ewig geschlossenen Türen. Seid ich hier auch etwas sozial "randständiger" wohne, wird mir die Indifferenz unter "Nachbarn" wieder stärker bewußt. Vor einigen Wochen irrte meine 80jährige Nachbarin hilflos im Hausflur umher. Sie ist an Alzheimer erkrankt, meistens gut drauf, aber ab und an scheint sie Schübe zu haben, in denen sie stark verwirrt ist. Ich wohne erst seit ein paar Monaten hier. Aber als ich andere Nachbarn fragte, ob jemand vielleicht Angehörige kennen würde, wurde mir die Tür fast vor der Nase zugeschlagen. Nö, kennen wir nicht, wissen wir nicht. Höhepunkt: "Da haben Sie aber Pech, daß Sie oben wohnen und das mitbekommen haben." Holla?

    Ich glaube, die Straßen und Häsuer sind voll mit Geschichten. Wir müssen die alle aufschreiben.

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