Vorletzte Woche fuhr ich mit der Bahn von Bozen nach Berlin. Der Bozner Bahnhof war immer schon ein Ort an dem Leute herumhängen, in Grüppchen zusammenstehen, oft Drogengeschäfte, Sexgeschäfte, Männer die Wurst essen oder Zeitung lesen. In diesem April 2016 sah man natürlich viele Menschen mit dunkler Hautfarbe ein wenig zielos herumirren. Draußen vor dem Gebäude, drüber in dem kleinen Park, aber auch auf dem Bahnsteig und in der Halle. Junge, vermutlich aus Afrika stammende Männer mit Gepäck. Keine großen Koffer, eher kleinere Taschen, gut gefüllte Turnbeutel oder Rucksäcke.
Ich musste in Kufstein umsteigen, dabei hatte ich fast zwei Stunden Aufenthalt. In der Nacht davor hatte ich mein Telefon nicht aufgeladen, da ich der Steckerinfrastruktur der ÖBB und Trenitalia vertraute. Ich würde diesen letzten Satz nicht aufschreiben, wenn sich dieses Vertrauen nicht als großes Missverständnis herausgestellt hätte. Die Fahrt bis nach Kufstein sog ich also den Akku meines Telefons leer. Ich mache ja fast alles nur noch auf diesem Telefon. Nachrichten lesen, Emails schreiben, Bücher lesen, OK mehr ist es nicht, aber mein Leben besteht nur noch aus diesen drei Dingen.
In Kufstein am Bahnhof bot sich ein ähnliches Bild wie in Bozen. Männer, die mit gefüllten Taschen herumstanden. Auffallend viel Polizei auch. Eine seltsame Stimmung des Beobachten und beobachtet werden.
Ich ging in die Bahnhofshalle und fragte die Frau der ÖBB nach Steckdosen. Sie wollte mich in eine Kneipe gegenüber des Bahnhofs schicken, aber das wollte ich nicht. Mein Akkuzeichen war nur noch eine dünne, rote Linie. Als ich dann auf die Bahnhofstoilette ging da sah ich neben dem Waschbecken eine einsame und verwaiste Steckdose. Die mit dem Rasiererzeichen. Rasiererzeichen. Das ist das neue Hipsterzeichen für Telefonladedose. Ich, voll im Hipsterglück, steckte mein Telefon in die Ladedose und fühlte mich gerettet.
Ich blieb eine ganze Weile da stehen, las Nachrichten und schrieb Emails. Die Toilette war erstaunlich ruhig, eine ganze Stunde lang kamen lediglich zwei Männer ins Klo. Ich tat betont desinteressiert, auffällig mit Kabel an meine Ladedose genabelt.
Dann kam dieser junge, afrikanische Mann. Er war mir im Zug durch Österreich schon aufgefallen, er hatte seine kurzen Kraushaare nach oben gezwirbelt, das gefiel mir, deshalb hatte er im Zug meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich hatte gehört wie er jemanden in sehr brüchigem englisch ansprach. In Kufstein am Bahnhof sah ich ihn dann nicht mehr. Um ehrlich zu sein, hatte ich ihn vergessen. Erst als er auf die Toilette kam, erkannte ich ihn gleich wieder. Er hatte keine Taschen bei sich, er reiste mit Händen in der Jackentasche.
Er ging zum Pissoir. Ich tat wieder betont desinteressiert. Hinter mir hörte ich erstmal nichts. Der Toilettenraum war sehr eng, so eng, dass wir Rücken an Rücken vielleicht einen Meter auseinander standen. Er pinkelte nicht. Er schien zu warten. Aus den Augenwinkeln erkannte ich im Spiegel (ich stand ja am Waschbecken), dass er stillstand. Vermutlich versuchte er die Situation oder mich einzuschätzen, ich weiß es nicht genau. Ich las einfach Dinge auf meinem Handydisplay. Es raschelte, er suchte etwas in seinen Jackeninnentaschen, ich hörte etwas Zelophanartiges, er zog es heraus und steckte es in die Socken. Dann eine Weile lang nichts. Dann sprach er mich an: excuse me. Ich setzte ein freundliches Gesicht auf. Menschen mit einem schwierigen Leben verdienen es freundlich behandelt zu werden. How can I help you, fragte ich. Er fragte ob es in der Bahn Polizeikontrollen gäbe. Sein englisch war sehr schlecht.
Ich sagte: ziemlich sicher ja.
Während er mit mir sprach richtete er sich das Zelophanpäckchen in seiner Socke, er redete praktisch auf einem Bein mit mir. In meiner Jugend versteckte man Hasch und Grass in den Socken. Dass ich mit meiner weißen Mittelstandsschicht an Betäubungsmittel dachte, spricht vermutlich für sich, als hätte ein Mensch auf der Flucht nichts besseres zu tun als Betäubungsmittel mitzuschmuggeln, als ginge es darum den Worstcase noch wörster zu machen.
Do they control in train? Police? fragte er wieder.
Ich wiederholte, dass das sehr wahrscheinlich sei. Er wusste mit meiner Antwort aber nicht viel anzufangen. Ich hingegen wusste mit der Situation nicht viel anzufangen, ich hätte jedenfalls nicht gedacht, dass man einfach mit der Bahn eine Grenze überquert. Ich fragte ihn, ob man nicht einfach besser auf die Nacht warte und dann durch den Wald ginge. Er verstand mich nicht. Dabei weiß ich nicht, ob es an der Sprachbarriere scheiterte oder ob mein Vorschlag seltsam war. Ich öffnete Googlemaps zoomte auf den Bahnhof ein, zeigte den Fluss, zeigte die Grenze im Wald. Naiv von mir vielleicht. Er schaute nicht wirklich hin. Er sagte, dass er alle seine Dokumente in Italien gelassen habe. Er richtete sich wieder das Zelophan in seinen Socken. Wir standen dann ein bisschen nebeneinander. Es verging einige Zeit. Dann sagte er: OK. Und drehte sich um. Ich fragte ihn, ob ich ihm helfen könne. Er blieb kurz stehen, dann ging er raus.
Fünf Minuten später musste ich zu meinem Zug. Der Zug nach München stand abfahrbereit auf einem Stumpfgleis. Von weitem sah ich schon, dass uniformierte Sicherheitsleute den Einsteig in die Bahn kontrollierten. Sie standen lediglich am ersten Wagen, ich ignorierte sie und wollte weiter zu den nächsten Wagen. Man rief mich heran, ich müsse hier einsteigen, ich erwiderte, dass mein Wagen weiter hinten sei, sie sagte, dass es heute nur hier vorne einzusteigen ginge. Man forderte mich auf mich auszuweisen. Ich sagte, ihr seid keine Polizisten, ich muss mich nicht ausweisen. Dann zeigten sie auf einen Polizisten der im Wagen saß. Dieser nickte. Ich zog meinen Privilegiertenpass hervor und zeigte meine privilegierte Staatsangehörigkeit.
Wenig später saß ich auf meinem reservierten Platz am Fenster. Und der Zug fuhr los.
Wie jetzt: Privileigiertenpass und privilegierte Staatsangehörigkeit.?
Zugegebenermaßen: nicht jeder empfindet einen EU-Pass als Privileg.
Schwierige Verhältnisse. Ich hätte vor Ort auch nicht gewusst wie und was. Später lässt sich trefflich darüber sinnieren. Ich helfe öfters am „Migrantentag“ bei der Tafel. Selbst dann, in diesen nun schon halbwegs reglementierten Situationen gibt es Augenblicke, in denen man hofft andere Freiwillige hätten spontan Durchblick oder die bessere Idee.