Pfingstreise

Das Mädchen bei mir zuhause ist Studentin in der heisstesten Schlussphase. Um genau zu sein, hat sie morgen ihre Diplomprüfung. Seit Monaten arbeitet sie an einer interessanten Art Reiseführer, der das Reisen in der eigenen Stadt, oder gar Nachbarschaft stimulieren soll. Geschickt und hübsch hat sie anhand eines cleveren Kartensystems, samt Tagebuch, blanko Landkarten und Aufgaben ein gut aussehendes Bündel gefertigt, womit sie morgen ihr Studium beenden wird.
Für mich einfachen Hirtenjungen eine grossartige intelektuelle Herausforderung, und so durfte ich mich auf die erste Testreise begeben, die ich dann anhand von Zeichnungen, Fotos und Tagebucheinträgen dokumentieren musste, die sie morgen in ihrer Prüfung präsentieren wird.
Ich zog drei Karten die eine Art Basis für meine Reise schaffen sollten:

Gepäck: verschiedene Dinge mitnehmen, die man verschenken wird oder verkaufen oder liegenlässt
Ort: Endhaltestelle des nächsten öffentlichen Verkehrsmittels
Aktivität: Freunde machen

Als Gepäck nahm ich drei Bücher die ich loswerden wollte und eine alte Sonnenbrille.
Mein Reiseziel würde die Endhaltestelle der S-irgendwas-Bahn sein. Wie sich später herausstellte, brachte mich die Bahn bis zum Bahnhof Elbgaustrasse. Ich hatte keine Ahnung was mich dort erwarten würde.

Ein Teil ihrer Arbeit besteht aus einem Tagebuch. Hier habe ich notiert, was ich im finstersten und abgelegtesten Hamburg erlebt habe:

-In östlicher Richtung, die Elbgaustrasse runter, das Buch Dr.Ratte von William Kotzwinkle auf einer Holzbank liegenlassen. Die erste leere Seite des Buches vollgeschrieben, eine Botschaft an den glücklichen Finder, wie mir das Buch gefallen hat, welche Charaktere ich nicht mochte, und dass der Finder nach dem Lesen, das Buch doch einfach wieder irgendwo liegenlassen solle.

-In einer Seitenstrasse der Elbgaustrasse auf ein altes Paar gestossen. Beide zwischen siebzig und achtzig, im glücklichen, ehelichen Spaziergang durch ihr Wohnviertel unterwegs. Ich erklärte ihnen, dass ich mich gerade auf einer Reise in einer eigenen Stadt befände. Meinen Reiseführer gezeigt. Ein „ihr jungen Leute seid alle so verrückt“ geerntet. Ich bat sie, mir ein wenig von ihrer Wohngegend zu erzählen, weil ich bei meiner Rückkehr von meiner Reise erzählen wollte. Das Gespräch wollte nur mühsam zustande kommen, daher beschloss ich, sie ein wenig aufzuwärmen, und zeigte ihnen zwei Bücher, wovon sie sich eines aussuchen sollten, das sie behalten durften. Ein Geschenk der Kulturen sozusagen. Als Reisender soll man dem besuchten Ort auch etwas zurückgeben, und nicht bloss konsumieren und ausssaugen, so habe ich einmal gelesen.
Zur Auswahl hatten sie: „Las 100 mejor Tapas“, ein Kochbuch der 100 besten Tapas, auf Spanisch, und „Julia EXTRA, Sommerband nr 278“, eine Kollektion der allerschönsten Liebesgeschichten, für den Sommer.
Der Herr wollte keines, Liebesgeschichten interessierten ihn nicht, und spanisch könne er auch nicht. Und kochen erst recht nicht. Als ich meinte, dass er mit dem Buch das Kochen ja erlernen könne, lachte er nur.
Seine Frau schien von „Julia EXTRA, Sommerband nr. 278“ ein wenig angetan, traute sich jedoch nicht wirklich zuzupacken. Also streckte ich ihr das Buch entgegen und legte ihr die dritte Geschichte ans Herz, „die Liebesgeschichte mit dem Arzt“, und zwinkerte ihr dabei verschmitzt zu. Sie schien mich zu verstehen, und nahm es dankend in die Hand.
Um meine Reisebekanntschaft zu zelebrieren und unsere Freundschaft zu besiegeln, bat ich sie für mich für ein Andekenfoto zu posieren. Das hatte ich mir einfacher vorgestellt. Schuld daran war wohl der Bus, der sich vom Ende der Strasse her näherte. Man konnte ja nicht wissen welche Nachbarn dort drinnen sassen. Ein Lächeln habe ich keines bekommen, aber wenigstens hat die Dame den „Julia EXTRA, Sommerband nr. 278“ halbwegs stolz in die Kamera gehalten.

-Interessante Häuser gesehen, an der linken Seite in östlicher Richtung an der Elbgaustrasse, kurz vor der Brücke, die mich sehr an norditalienische Lehrervillen aus der Po-ebene denken liessen.

-Einen etwa 16-jährigen Jungen angesprochen. Ich bat ihn, mir etwas Sehenswürdiges aus der Gegend zu empfehlen. Er sagte „das Rathaus“, womit er das Hamburger Rathaus in der Innenstadt meinte. Netter Versuch.
Nach einigen verkrampften Ansätzen ein flüssiges Gespräch zu führen, blühte er erst beim Thema Wetter so richtig auf. Er begann zu schimpfen. Er schimpfte lange. Ich wartete. Und nickte. Aber letztendlich sagte er, dass es nicht mehr lange dauern kann, dass es wieder besser wird. Ich sagte ihm, ich habe das Hoffen schon aufgegeben und schenkte ihm meine Sonnenbrille. Als Andenken bat ich ihn, sich mit Brille fotografieren zu lassen. Das hat er gerne getan.
(Zum Schluss hat er mir die Brille zurückgegeben, da sie ihm plötzlich nicht mehr gefiel)

-Zuruck am S-Bahnhof. Beim türkischen Imbiss gegenüber den schlechtesten Kaffee meines Lebens getrunken. Gleich einen Zweiten bestellt.

14 Kommentare

  1. was für ein reiseführer…. was für ein konzept…… viel glück dafür, bin immer wieder dafür dass man seine eigene stadt als eigener tourist erleben soll

  2. Obwohl . ich glaub der 16 jährige Junge hat sicher sein Teil gedacht. („Keine Geschenke annehmen von suspekten Herren. Und wenns noch so ne coole Sonnenbrille ist“).

  3. eine gefühlte Eins oder darf man wirklich gratulieren? Wenn ja, dann hurra! Wenn noch nicht, dann drücke ich auch nochmal ne Runde Daumen.

  4. Ich drück auch mit. So ne seltsame Reise ist ja schon eine Überlegung wert *schmunzel*

  5. hurra! WUNDERBAR! beste gratulationen der lieben dame des hauses!! hoch lebe das das designertum!

  6. jetzt aber – ich kann mittlerweile wieder mit meiner umwelt kommunizieren – danke vom erwähnten mädchen selber für die guten wünsche und die gedrückten daumen!
    hat geholfen! danke!

  7. Aber die Idee ist wirklich so schön! Eins ist voll verdient, gratuliere!

  8. oh, der reiseführer klingt herrlich!! den würd‘ ich auch gerne ausprobieren, wo ich doch so gerne stadtspaziergänge ohne ziel aber mit anfang (vor die haustür treten) betreibe.
    glückwunsch unbekannterweise auch von mir, natürlich.

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