Ziel: Wustrow 53° 13' N, 12° 57' O

Blühende Industrieruinen.

Dem goldenen Tip von Herrn UndUndUnd folgend nach Wustrow gefahren. Per Bahn. Und nochmal Bahn. Und Bus. Und nochmal Bus. Vorausplanende Menschen die wir sind, haben wir natürlich alles perfekt organisiert, erst angerufen, nette Leute da, alles sei kein Problem, es gäbe noch Kanus, und auch Platz für unser kuscheliges, kleines Zelt. Selbst bahn.de zeigte uns die Wustrower Bushaltestelle an, kein Hauptbahnhof Wustrow, aber immerhin Grünplan Abzw., Wustrow b Wesenberg (Meckl), eine schöne Reise sollte uns bevorstehen, durch blühende Landschaften, industrielle Ruinen, ein schauriges Bild vom Abgang der Weltwirtschaft, ich liebe es, den Haltestellenknopf in der Regionalbahn drücken, an zugenagelten Bahnhöfen halten, die uns in verblichener Frakturschrift sagen wollen, dass sie einmal stolze Hauptbahnhöfe von Städchen waren, die auf -ow und -litz und -lin enden, und heute vor allem enden und sonst nicht viel anfangen, der alte Mann, der dann in Litz-lin-ow mühselig auf den verwachsenen Bahnsteigschotter steigt, den Lokomotivführer kann ich durch die abgedunkelte Glasscheibe sehen, wie er geduldig wartet, bis der Mann festen Boden unter sich hat und aufatmend die Stange loslässt.

Die vielen Busfahrer, die uns durch die Landschaften kutschierten, wussten mit Wustrow nicht viel anzufangen. „Weiss nicht ob da irgendwas fährt“. Nur der letzte kannte Grünplan Abzw., Wustrow b Wesenberg (Meckl). Bei der Haltestelle Grünplan bis zur nächsten Kreuzung hochlaufen, da fährt vielleicht noch ein Bus weiter. Kein Problem für uns mit tonnensschwerem Rucksack, Schlafsäcken, Isomatten, Zelt, Provianttaschen zu dieser Kreuzung hochzulaufen. Aber-
„Wie jetzt noch nen Bus nehmen?“
„Grünplan ist nicht ganz Wustrow“
„Aha, danke, wie freundlich“
Ob da Busse fahren oder nicht, konnte er nicht sagen, weil ab Grünplan sei es schon Mecklenburg-Strelitz und er sei ja nur für Rheinsberg-Neuruppin zu ständig. Ahja, klar.

[„Wo ist dieser Camping überhaupt? Haben wir eine Telefonnumer? Adresse? Nein. Danke für den flotten SMS-Service]

„Wie gut, dass uns der freundliche Busfahrer bescheid gibt wenn wir aussteigen müssen. Man fühlt sich ja richtig gut umsorgt in dieser kleinen Welt wo jeder jeden kennt“, kam mir freudestrahlend über die Lippen, als wir in Richtung Grünplan durch den Wald fuhren. Die strahlende Freude hörte erst drei Minuten später auf, als der Bus an einer Weggabelung inmitten einer sumpfigen Waldlichtung hielt. Der Fahrer blickte ein wenig verlegen in den Spiegel zu uns zurück und sagte „Grünplan“. Kunstpause. „Grünplan“ wiederholten wir.

Es gab dort immerhin Schilder. Eines zeigte nach Wustrow und offenbarte uns, dass sich dieser Ort nur sieben Kilometer entfernt befand. Deutlich besser als das 13 Kilometer weiter entfernte Wesenberg.

Stöhnend, schwitzend und keuchend liefen wir in der prallsten Mittagssonne zu dieser Kreuzung hoch. Diese Kreuzung lag einen dreiviertelstündigen Fussmarsch in nördlicher Richtung, exakte 43 Minuten zu viel für meinen Rücken. Die Kreuzung war eigentlich ein Dörfchen namens Canow und dort befand sich tatsächlich eine Bushaltestelle. Das Erfreulichste war, dass es noch genau zehn Minuten dauern sollte, bis der letzte dieser zwei täglichen Busse vorbeikommen würde. Wir warteten zehn Minuten. Zwanzig Minuten. Dreissig. Wir kannten den fünzeiligen Fahrplan schon auswendig, als wir merkten, dass das dicke, fette „S“ hinter Mo-Fr nicht Samstag bedeutete, sondern „nur an Schultagen“. Der einzige Bus, der an einem Donnerstag fuhr, war schon um zehn Uhr gefahren.

Es half nichts anderes mehr, als den Finger rauszustecken. Nach einer Stunde Mercedesse, Jeeps, Rentnerpäärchen und Grossfamilien vorbeirauschen zu sehen, hielt irgendwann ein junger Neustrelitzer Bursche, der uns in dieses paradiesische Wustrow brachte.
Ich dachte ich sei zu alt für sowas. Aber es hat sehr viel Spass gemacht.

Paddeln. Vögel, Schilf, plätscherplätscher, Libellen, Wind.

Gelernt, bei Mückenstichen nicht direkt am Stich zu kratzen, sondern drumherum. Jetzt habe ich die Wunden daneben.

Die Schwaanenhavel ist ein 5 Kilometer langer und anderthalbe Meter breiter Kanal durch Schilf und verwachsener Wildnis. Die Schwaanenhavel ist sehr schön. In der Schwaanenhavel wohnen auch Schwäne. Wenn Schwäne Kinder haben werden sie sehr böse. Ein anderthalb Meter breiter Kanal ist manchmal sehr schmal.

Tante Emma trägt in ihrem Laden Hotpants mit Hautfarbener Strumphose in Birkenstock. Sie stellt uns eine persönliche Frage, ob diese CoffeToGogo Becher den Kaffee auch wirklich warm hielten. Sie habe ja bloss ihren Mann gefragt etwas aus der Stadt mitzubringen, damit sie den Gästen nicht immer ihre Tonbecher mitgeben muss, das sei ja immer so umständlich und die Gäste würden ab und zu einmal vergessen den Becher zurückzubringen.

Ich hasse Insekten. Ich hasse Mücken, Käfer, Spinnen, Ohrenkneifer, Fliegen, alles was summt, alles was kriecht, alles was fliecht, zirpt, hinter den Ohren kitzelt, sticht, an den Armen juckt, versucht in mein Hosenbein zu krabbeln, im Zelt an den Innenwänden hängt.
Aber ich mag Rapskäfer. Auch in Plagen. Auch wenn ich ein knallgelbes Handtuch habe.

14 Kommentare

  1. Hach, klingt das schön. Ich möchte auch wegfahren. Nur ohne 23 Busfahrten, 7-Kilometer-Wegen zu Fuß und Insekten. Die kann ich nämlich ebenfalls nicht leiden. Ganz besonders Ohrenkneifer nicht. Keine Ahnung, woher der Ekel kommt – an ein traumatisches Erlebnis kann ich mich nicht erinnern.
    Und das mit den Rapskäfern ist doch holzhart gelogen, Mek.

  2. Ich habe einmal gehört, dass Menschen die Insekten nicht ausstehen können, alles potentielle Heroinabhängige sind. Ob meine Liebe zu Rapskäfern diesen Fakt ein wenig mildert, weiss ich nicht.

  3. ojweh. das hört sich ja nach einer odyssee an. (vorausplanender mensch, der ich bin, hatte ich letztes jahr das organisatorische k. überlassen, die in neuruppin wohnte)

    weiß jetzt nich, welche tour ihr gemacht habt, aber am besten gefällt mir immer, wenn der fluß bzw. kanal ein bisschen fahrt hat und man sich einfach treiben lassen kann.

    auf der insel beim rheinsberger see wurde wir übrigens auch von einem schwan belästigt. ich meine: anschauen is ok, aber sonst sind die viecher doch eher nervig

  4. Rapskäfern begegne ich so welten. Und ich frage mich, ob man mit dem Kanu auch durch Canow kommt, ehe ich selbst nurmehr müde über den vermeintlichen Wortwitz lächeln mag. Ich glaub, ich mag aber auch mal wieder raus. In den Urlaub. Und wenn ich mir irgendwo einen Kaffeebecher leihe, bringe ich ihn auch fraglos zurück. 🙂

  5. @ arboretum: so ein oller fauchender schwan – na klar nehme ich den in kauf. der soll nur aufpassen, dass er nicht auf dem grill landet. 😉

  6. @ mek: nein, das mildert es nicht. glaubt ihnen ja wie gesagt eh niemand. 🙂
    meinen sie wirklich – potentiell heroinabhängig? oh. aber da ich sehr ungern rauche, es hasse, mir dinge durch die nase zu ziehen und vor spritzen genauso einen großen ekel habe wie vor insekten, bin ich recht drogensicher.
    nur trinken und essen, damit wird’s heikel.

  7. Oh! Wie schön! War auch gerade nicht weit davon unterwegs, aber ohne Kanu, dafür mit ortskundiger Begleitung. Ja, die Seen. Und die Mücken. Aber irgendwann, so habe ich mir erzählen lassen, merkt man die Mückenstiche gar nicht mehr, wenn man schon genug hatte. Also: nächstes Jahr schon im Mai ohne Mückenschutz im Supfgebiet nächtigen, drei Tage leiden, und dann ist für den Rest des Sommers Ruhe.

  8. @mlle Händel
    Das kann ich nicht behaupten. Als Bewohner von oben beschriebenem Land und einem Ort der zwar nicht auf -lin, aber so doch immerhin auf -nin endet, kann ich unter anderem bestätigen, das auch noch der 101te Mückenstich pestig juckt.
    @mek
    Daneben kratzen hilft tatsächlich. Am Ende hat man statt der runden Narben, merkwürdige, längliche Striemen, die einen bestimmten Punkt, der im Nachhinein vielleicht einer Erklärung bedürfte, zu umlaufen scheinen

  9. Ah, schön zu hören. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht (die Sorge! die Sorge! ich hätte Schwan werden sollen!), ob Sie es finden werden. Mal Insekten und Gliederfüßler beiseite, das klingt doch nach spannenden Abenteuern close to home. So toll kann der Osten sein.

  10. als nachbereitende lektüre empfehle ich die „mutmaßungen über jakob“ von uwe johnson, was zwar nicht exakt in der seenplatte, doch aber in mecklenburg sich abhandelt. und u.a. mit der eisenbahn zu tun hat.

  11. Erstmal die Jahrestage. Obwohl ich beim Umfang jenes Buches kurz schlucken musste. Aber Danke für die Empfehlung. Ich bin ein Liebhaber Ostdeutschlands.

    Herr Kid37, hätte ich ein wenig weiter gedacht, dann wäre ich auch auf die Idee gekommen, dass man in einer kleinen Häuseransammlung des Formates Wustrow einen Campingplatz annex Kanuverleih unmöglich übersehen kann. Aber die Sorgen, die Sorgen…

    Dieses Fachwissen meiner Leser über Insekten und deren Stiche ist verblüffend. Wussten Sie auch, dass Mückenstiche jucken weil sie ein Antigerinnungsserum in die Wunde spritzen, damit sie sich nicht verschlucken?
    Ein interessantes Mittel, das ich in meinem Haushalt gerne einmal ausprobieren werde.

  12. Labussee, Canower See, Schleuse Strasen-Priepert (mit den schönen Blumenkästen), Schleuse Diemitz und der Zootzensee. Das sind Erinnerungen…

    Nächstes Jahr bestimmt. Verprochen.

  13. Sind Sie eigentlich zufällig am „Waldhaus Neu Canow“ vorbeigeschippert? In ganz Münster stehen wahrscheinlich beinahe hundert, wenn nicht mehr Fahrradständer aus rotem Gußeisen mit weißem Schild, das für eben dieses Waldhaus wirbt. Ich habe keine Ahnung, wie teuer Fahrradständer sind. Ich habe keine Ahnung, wie groß das Waldhaus Neu Canow ist. Aber diese Verbreitung verwundert mich. 🙂

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