Vor drei Tagen starb ein alter Freund. Ich würde sagen, wir waren für ein paar Jahre beste Freunde. Zumindest für mich war er das, für ihn war ich das vielleicht nicht, aber vielleicht auch schon, ich bin mir nicht ganz sicher, wie es um sein Gefühlsleben stand, wenn es um Kategorien wie Freundschaft ging.
Wir kannten uns aus Südtirol. Dort gehörte er zu meinem engeren Freundeskreis, wir waren zwischen 16 und 20 Jahre alt und wilde Anarchos, wir taten aber abgefuckter, als es unser Sozialstatus hergab, schliesslich ist Südtirol ein reicher Fleck Erde, sein Vater war Lehrer und meine Eltern waren Rettungssanitäter, aber wir schlugen dennoch destruktive Pfade ein, wir tranken und kifften ständig und hatten generell wenig Lust auf Zukunft. Allerdings schrieben wir Texte, literarische Texte wie auch politische Texte, wir verstanden uns als Bauern- und Bürgerschrecks, er veröffentlichte einen fragmentierten Roman im Eigenverlag und wir schrieben zusammen mit anderen für ein kleines politisches Blatt, das von unserem Freundeskreis herausgegeben wurde, daneben versuchten wir Bands zu gründen, daraus wurde aber nie was. Wir waren so etwas wie eine Subkultur im kleinen Südtirol, auch wenn wir nicht sonderlich produktiv waren und auch für keinen wirklich kulturellen Impakt sorgten.
Mit 19 zog ich in die Niederlande, weil ich es in Südtirol nicht mehr aushielt. Und er zog in ein kleines Dorf, wo er vor allem schrieb. Unser Freundeskreis, der sich damals zwischen Wien, Meran, Bozen, Trento und Bologna aufzuteilen begann, hielt in den ersten Jahren noch intensiven Kontakt, soweit das ohne Email und Messengers möglich war, aber immer, wenn ich nach Südtirol reiste, und das geschah mindestens einmal im Jahr, traf ich alle meine damaligen Freunde wieder und wurde sofort in alle Themen und Projekten eingeweiht, als wäre ich nie weggewesen, meist feierten wir ausgiebig und da meine Familie damals noch auf dem Berg wohnte, blieb ich auch meist bei meinen alten Freunden schlafen, oft bei ihm, Georg hiess er, weil man bei ihm in seinem elterlichen Haus immer willkommen war.
Ein paar Jahre später zog er zu mir nach Utrecht. Nicht wegen mir, sondern wegen eines Geologiestudiums. Aber ich war happy darüber, einen alten Freund in meiner neuen Heimat begrüssen zu dürfen. Ich kümmerte mich darum, dass er weich in den Niederlanden landete, ich weihte ihn in alles ein, wir gründeten zusammen mit einem anderen Freund eine Internetwerkstatt in einem besetzten Haus und ja, eigentlich war er mein bester Freund in jener Zeit.
Er blieb drei Jahre. Es war eine gute Zeit. Er wohnte in einem Hausboot drei Strassen weiter, auf dem Kanal an der Leidsekade. Dort bezog er das Steuerhaus eines kleinen Frachters, den eine gemeinsame Bekannte vermietete. Wir unternahmen viel. Es gibt wenige Männer in meinem Leben. Ich hatte nie wirklich männliche Freunde. Georg kam dem, was ich mir unter einem männlichen Freund vorstelle, aber sehr nahe.
Ich fand ihn anregend. Wir hatten immer etwas zu tun, zu besprechen, er hatte immer Ideen und umgekehrt war auch er immer offen für Ideen. Beinahe vergessen hätte ich, dass wir mehrere Kurse für mittelalterliche Instrumente besuchten. Er lernte die Drehleiher zu bespielen und ich den Dudelsack. Er hörte aber damit auf, während ich das noch ein paar Jahre weiterverfolgte.
In dieser Zeit erhöhte sich auch der Konsum. Wir waren ja älter geworden. Wir tranken mehr als früher und auch öfter. Und er kiffte schon morgens, damit er klarer denken konnte, es beruhigte ihn. Ohne Kiffen war er nervöser, aufgekratzter. Mir machte es nichts aus, selber hatte ich mit dem Kiffen zwar längst aufgehört, aber ich urteilte selten über den Drogenkonsum anderer Leute. Vor allem nicht, wenn es den Leuten danach –nunja– besser ging. Und ich konnte immer vortrefflich mit ihm trinken.
Aber er war immer schon ein Eigenbrötler. Pflegte eine Abneigung gegen Menschen im Allgemeinen und dem, was man „die Gesellschaft“ nennt. Er verliebte sich einmal kurz in eine schöne Frau namens Merle. Das ging aber nicht lange gut. Er fand es anstrengend.
In unserem letzten gemeinsamen halben Jahr passte es aber nicht mehr zwischen uns. Ich weiss nicht genau, woran es lag. Es ging nicht von mir aus, sondern von ihm. Ich hatte mich von meiner Freundin getrennt und führte gerade eine sehr promiskuitive Lebensphase. Ich glaube, das störte ihn. Vielleicht aber auch nicht. Wir redeten nie darüber. Er wollte öfter seine Ruhe, ich hatte den Eindruck, dass er mich nicht sehen wollte.
Dann zog er zurück nach Südtirol, in ein kleines Dorf, er würde sein Studium als Fernstudium weiterführen. Das war vor ziemlich genau 22 Jahren.
Er brach den Kontakt ab, er brach auch den Kontakt zu den anderen Freunden ab, er tauschte sich nur noch sporadisch mit einem einzigen Freund aus.
Daraufhin wollte ich ihn erst mal in Ruhe lassen. Irgendwann würden wir sicherlich wieder quatschen. Dieses Irgendwann streckte sich aber immer weiter, zuerst wurde ein Jahr daraus, dann eine Mehrzahl von Jahren und irgendwann waren zweiundzwanzig Jahre vergangen. Ich dachte immer, wir würden uns in Meran schon über den Weg laufen. Er wohnte unweit von meiner Mutter, es wären zehn Minuten zu Fuss gewesen. Ich lief aber nie hinüber.
Manchmal befragte ich diesen gemeinsamen Freund. Der sagte, er habe sich zurückgezogen, würde viel trinken und sei ein bisschen „pesantuccio“. Das Wort kommt von „pesante“, also schwer, nicht auf das Gewicht bezogen, sondern auf das Gemüt und „uccio“ ist eine Art der Verniedlichung.
Es ging ihm wahrscheinlich schon lange nicht mehr gut. Ein bisschen düster war er immer, aber das waren wir ja alle irgendwie. Er vielleicht etwas mehr. Vielleicht kam er aus irgendwas nicht mehr aus eigener Kraft heraus.
Vorgestern kam dann die Nachricht von seinem Suizid. Auch wenn es bei näherer Betrachtung offensichtlich scheint, denkt man ja immer: Ach er doch nicht.
Er also doch.
Ciao Georg.
Warum auch immer es so kam.