[Mi, 19.6.2024 – Nordkapreise Tag 3, Gävle, Sundsvall, Höga Kust, Umea]

Mein Vater will sein Bargeld loswerden. Wegen seines Rentnerjobs besitzt er viel Cash, den er natürlich auch ausgeben möchte. Aber Schweden ist kein gutes Pflaster für Bargeld. Zuerst scheiterten wir schlichtweg daran, Euros in Kronen umzutauschen. Verschiedene grosse Banken wiesen uns freundlich ab. Bargeld tauschen, das würden sie nicht mehr tun. Man wusste auch nicht, wo man uns mit unserem Anliegen hinschicken könne. Erst heute Vormittag, konnte ich bei einem Western Union Schalter in Gävle 500 Euro in schwedische Kronen wechseln.
Als wir endlich schwedisches Bargeld besassen, standen wir vor dem nächsten Problem, dass kaum irgendwo Bargeld angenommen wird. In einem Restaurant, an dem wir unterwegs einen Kaffee trinken wollten, stellte sich die Kellnerin mit unserer Bargeldzahlung dermassen überfordert an, dass sie eine Kollegin herbeirufen musste, die sie bei der Bedienung der Kasse unterstützte. Oft bekommt man einen verwunderten, aber freundlichen Kommentar, dass man Bargeld erst vor ein paar Jahren abgeschafft habe. Ich fühlte mich, als würde ich mit Hühner bezahlen wollen.

Mein Vater versteht die Welt nicht mehr. In Italien wickelt man alles in Bargeld ab. Er schüttelt ständig den Kopf.

In Finnland und Norwegen werden wir sicherlich vor dem gleichen Problem stehen, daher beschlossen wir, keine norwegischen Kronen zu tauschen, sondern der Kartenzahlung zu vertrauen.

Heute fuhren wir die Strecke von Gävle nach Umeå, das ist eine fünfeinhalbstündige Autofahrt. Die heutige Fahrt hatte ich etwas kürzer geplant, weil sich unterwegs die Höga Kust befindet, von der ich gelesen hatte, dass das eine sehr schöne Landschaft ist, die es sich lohnt, sich etwas Zeit dafür zu nehmen. Der ganze etwa hundert Kilometer lange Abschnitt ist sehr bergig und ähnlich dramatisch wie die norwegische Küste. Nach dieser grossen, bekannten Spannbrücke bei Veda, verliessen wir die Schnellstrasse und folgten den braunen Schildern mit einer Blume, die einen touristischen Umweg über eine Halbinsel, Fischerdörfern und vielen kleinen Seeen markierte. Der Weg dauerte anderthalb Stunden länger. Es ist jetzt überflüssig zu beschreiben, wie schön diese Route war.

Zuvor waren wir übrigens in Sundsvall. Als ich vor zwanzig Jahren in Madrid lebte, hatte ich einen Kollegen, der hiess Pontus. Pontus war ein grosser haariger Mann, mit freundlichen, blauen Augen. Er trug damals schon einen Bart, als es noch nicht in Mode war. Er kam aus Sundsvall. Er sagte, Sundsvall sei ganz weit oben in Schweden, das sei ganz anders als Spanien. Sundsvall stellte ich mir wie das Ende der Welt vor. Damals hatte ich wenig Ahnung von dieser Gegend hier. Sundsvall befindet sich ziemlich genau in der geografischen Mitte Schwedens. In Wikipedia las ich, dass es die schönste Stadt des Landes sei. Zehn Kilometer vor Sundsvall fanden wir, dass man sich die schönste Stadt Schwedens unmöglich entgehen lassen könne, also beschlossen wir einzukehren. Wir schlenderten etwas planlos durch die Altstadt, tranken einen Kaffee und fanden, dass wir jetzt genug von der schönsten Stadt des Landes gesehen hatten und fuhren weiter.

Ich dachte bisher die Ostseeseite sei sehr flach und eine eher gerade Küstenlinie. Deswegen war ich einigermassen überrascht, wie hügelig und teils bergig es hier ist. Und die Küstenlinie ist eben nicht gerade, sondern fjordartig zerfranst. Mit niedrigen fjordartigen Buchten und riesigen Flüssen, die das Schmelzwasser aus Lappland in die Ostsee abführen.

Das Wetter ist heute sehr stürmisch. Zwar ist es meist sonnig, aber es weht ein starker, kühler Wind. Es ist für die Jahreszeit ungewöhnlich kühl, tagsüber misst es 17 Grad.

Mein Vater kommentiert alles, was er sieht. Er liest jedes Ortsschild laut vor und auch jeden schwedischen Werbespruch, den er am Strassenrand erblickt. Natürlich spricht er es falsch aus, er gibt sich gar nicht die Mühe alle Buchstaben richtig zu erkennen. Er hat einfach irgendwas raus, das klingt wie der Name auf dem Schild. Anfangs half ich ihm und wiederholte die richtige Aussprache der Namen, aber ich hörte schnell damit auf, als ich merkte, dass das jetzt 11 Tage lang so gehen wird. Und er kommentiert ständig die Bäume. Er erwähnte sicherlich hundert Mal, dass die Bäume hier ungewöhnlich niedrig seien. Nein, er sagte das nicht hundert Mal, er sagte das tausend Mal. Anfangs hatte ich meine Zweifel an seiner Aussage, ich entgegnete, dass es vielleicht bloss junge Bäume seien, die vor wenigen Jahren gepflanzt seien. Nach dem siebenundfünfzigsten Mal gab ich ihm aber Recht. Und widerrief diese Meinung seitdem nicht mehr.

Gegen sieben Uhr erreichten wir Umeå. Ich wollte schon seit längerem nach Umeå. Zum einen, weil die Stadt eine sehr lebendige Kulturszene zu haben scheint. Von den etwa 90.000 Einwohnern sind ganze 37.000 Studenten. Ausserdem gibt es hier sehr viele kleine Internetstartups, die um Mitarbeiterinnen werben. Das wollte ich mir schlichtweg einmal ansehen.

Vor zwei Jahren führte ich einmal ein Gespräch mit einem Inder, der sich bei uns auf eine Stelle als Entwickler bewarb. Er hatte Indien bereits verlassen um für ein Unternehmen in Europa zu arbeiten. Das Unternehmen sass in Umeå und der junge Mann wusste natürlich nicht, wo sich diese Stadt genau befand. Europa ist ja nicht so gross. Er erzählte mir, dass er im November von Indien nach Umeå gezogen war. Es ist vermutlich überflüssig, zu sagen, dass er 5 Sonnenstunden pro Tag und die klimatischen Bedingungen nicht besonders lustig fand. Er wirkte sehr verzweifelt, er wollte nur weg.

Andererseits zeigt sich das Städtchen sehr international. Es gibt ungewöhnlich viele mexikanische und indische Restaurants und eine riesige Bar namens Orangeriet, die sich mit Regenbogenflaggen schmückt und von Englisch sprechenden Menschen bevölkert wird. Das ist vermutlich die Auswirkung der Universität.

Ausserdem fand ich heute heraus, dass die brasilianische Starfussballerin Marta hier vier Jahre lang beim Umeå IK Profifussball spielte.

Zum Schluss googelte ich Pontus. Ich kannte noch seinen Nachnamen. Es gibt zahlreiche Fotos von ihm. Er lebt wieder in Sundsvall, jetzt hat er aber keinen Bart mehr. Dafür eine Tochter.
Ich sollte ihm schreiben, dass ich in Sundsvall war.

Bein zeigen in Sundsvall

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