Am Freitag brachte ich die Hündin zu den Nachbarn und dann fuhren meine Frau und ich zum Flughafen nach Schönefeld. Gegen zwei Uhr startete der Flieger nach Graz, wo wir ein Mietauto ausliehen und zwei Stunden nach Villach fuhren.
Ich habe Verwandtschaft in Graz. Einen fernen Onkel, der mittlerweile nicht mehr lebt. Allerdings besteht zu seinen Nachfahren kein Kontakt mehr. Das war der Familienstrang, der nach der Machtübernahme von Mussolini aus Südtirol flüchtete. Viele Südtiroler kamen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zurück. Dieser Onkel aber nicht. Als ich Kind war, schwang bei seinen Besuchen immer etwas Konspiratives mit. Als bestünde ständig die Gefahr, dass Carabinieri vor der Haustür auftauchten. Neulich fragte ich meine Mutter, ob dieser Onkel in antifaschistische Tätigkeiten involviert gewesen ist. Das hätte mich stolz gemacht. In meinen beiden Familien kommen nämlich ausschliesslich unmusische, ungebildete und unpolitische, aber dafür trinkende Bauern vor. Mit einem Antifaschist, der Mussolini bekämpfte, hätte ich mich brüsten können. Meine Mutter wusste aber nichts davon.
In Villach bezogen wir ein günstiges Hotel an einer grösseren Strasse unweit des Krankenhauses. Unser Hotelzimmer war einem LIDL Parkplatz zugewandt. Später konnte ich mir das Wortspiel „lidyllisch“ nicht verkneifen und musste das jedem unter die Nase reiben. Nach dem Einchecken gingen wir aber nicht zu Lidl, sondern zu Billa, der sich auf der anderen Seite des Hotels befand. Österreich ist für mich Billa und nicht Lidl.
Auch unsere Freunde aus Minden hatten sich in dem Hotel eingemietet, sie kamen aber wesentlich später, da sie mit dem Auto anreisten und die ganze Bundesrepublik Deutschland aus Baustellen bestand. Meine Frau und ich gingen daher schon vor. Wir hatten einen Tisch im Villacher Brauhof reserviert. Als die Freunde vermeldeten, sie würden erst um halb neun ankommen, beschlossen wir, bereits etwas zu essen. Ich ass Teigtaschen mit Käse und meine Frau einen Salat mit Putenfilets. Das Lokal war aber ganz furchtbar. Die Einrichtung lieblos, das Licht zu grell, die Stimmung existierte nicht, das Publikum war eine Mischung aus asiatischen Grossgruppen und Touristen, die offenbar den Schildern gefolgt waren. Während des Essens sattelte zudem eine Musikkapelle ihre Instrumente auf und spielte diese unsägliche, nervöse Volksmusik, mit der ich aufgewachsen bin. Nach dem Essen schrieben wir unseren Freunden, dass wir aufgrund der Fürchterlichkeit in ein anderes Lokal ziehen würden und zwar ins Turmstüberl. Das war dann richtig nett. Bisschen klein, aber nett.
Samstag.
Die Hochzeit würde erst gegen 15 Uhr beginnen, deswegen wollten wir am ersten Teil des Tages etwas von Villach sehen. Am Frühstückstisch googelten wir alle vier nach „Was kann man in Villach tun“. Da gab es eine Top10. Die erste Sehenswürdigkeit war die Altstadt, die in Prinzip aus einer Strasse mit zwei Kirchen besteht. Das hatten wir aber bereits die Nacht davor schon alles gesehen. In der Top10 kamen auch beide Kirchen vor. Alle anderen Empfehlungen bezogen sich auf das Umland. Irgendeine mautpflichtige Alpenstrasse und verschiedene Aussichtspunkte. Wir hatten aber keine Lust, weite Strecken mit dem Auto zu fahren. Also spazierten wir ein halbes Stündchen an der Flusspromenade entlang und gingen danach in die Altstadt, wo wir einen Kaffee tranken.
Als wir über die Altstadtbrücke liefen, verstand ich, dass die Brücke sich über die Drau spannt. Ich wusste gar nicht, dass die Drau durch Kärnten fliesst. Dazu muss man wissen, dass die Drau der einzige Südtiroler Fluss ist, der in Südtirol entspringt, aber nicht im Mittelmeer mündet, sondern im Schwarzen Meer. Das weiss bei uns jedes Kind. Ein italienischer, pre-faschistischer Nationalgedanke, der sogenannte „Irredentismo“ folgt dem Bestreben, dass alle Flüsse, die im italientischen Mittelmeer münden, bis hinauf zur Quelle auch italienisches Staatsgebiet sein müssen. Aus diesem Grund wurde Südtirol nach dem Ersten Weltkrieg Italien zugeschlagen. Das gilt auch für das schweizerische Tessin sowie Graubünden und den kroatischen Teil Istriens. Für italienische Faschisten ist der italienische Staat deswegen auch noch nicht vollständig, weil sie damals nicht alles erhalten haben, was von ihnen verlangt wurde. Dieser Umstand ist in gewissen italienischen Gesellschaftsschichten durchaus immer noch ein Thema.
Warum die Quelle der Drau allerdings auch Italien zugeschlagen wurde, konnte ich nicht herausfinden.
Um 15 Uhr stiessen wir zur Hochzeitsgesellschaft, die sich vor einer Kirche in einem Villacher Vorort versammelt hatte. Sicherlich hundert Menschen. Kinder, Paare, teils in Trachten, aber nicht zu viel, ein paar alte Menschen, die Feuerwehr war auch mit einem Wagen vor Ort, weil der Bräutigam bei der Freiwilligen Feuerwehr ist. Das gehört sich so, das kenne ich aus meiner Kindheit. Und irgendwie finde ich das auch wieder süss.
Wir trafen die Eltern der Braut. Ich hatte sie seit 14 Jahren nicht mehr gesehen. Die Mutter begrüsste mich mit meinem Namen, das freute mich ungemein. Mit dem Vater redete ich über die Drau. Auch er wusste, dass die Drau in Südtirol entspringt. Er erklärte mir, dass sie hinter Kärnten durch Slowenien fliesst, danach bildet sie eine ganze Weile den Grenzfluss zwischen Ungarn und Kroatien, bis sie letztendlich an der Grenze zu Serbien in die Donau einfliesst. Das wusste ich gar nicht.
Mein kleiner Südtiroler Fluss. So weit in die Welt hinaus.
Nach der Segnung der Ringe in der Kirche gab es Bier und Sekt. Die Schnittchen waren leider sehr schnell fertig, weswegen ich den Hunger mit Gösser Bier auffangen musste. Zum Glück fuhr unsere Freundin aus Minden mit dem Auto. Danach wurden Fotos geschossen und als alles im Kasten eingefangen war, fuhren wir hinauf zu einem Schloss mit einer daran angeschlossenen Golfanlage, wo es wieder Alkohol gab. Vorerst gab es kein Bier, sondern nur Prosecco. Weil Weine immer so stark sind, versuche ich das eigentlich zu vermeiden, aber hey, es war Hochzeit, ich nahm gleich drei Gläser davon.
Es war eine sehr schöne Feier. Allerdings fiel mir auf, dass es keine Tanten gab, die ich neulich noch so anpreiste. Der Grund ist der, dass es vermutlich schlichtweg keine Tanten mehr gibt. Weil sie entweder verstorben sind oder sie nicht mehr die Kraft haben, sich abends auf eine Feier zu begeben. Oder um es deprimierender auszudrücken: Die Onkel und Tanten sind jetzt wir.
Um zehn Uhr abends war ich schliesslich altersgerecht müde. Wir hatten zu Achtzigerjahremusik getanzt. Und viel gegessen sowie getrunken. Es dauerte aber noch zwei weitere Stunden, bis wir tatsächlich gingen.
Neben mir am Tisch sass ein Mann aus Kroatien, der am Vortag seine Stimme verloren hatte. Ich ahne, warum die Braut uns nebeneinandergesetzt hat. Er war ein unterhaltsamer Kerl, aber er tat sich schwer, sich ohne Stimme bei dem Lärmpegel zu unterhalten. Praktischerweise waren er und seine Frau sowie die Tochter in diesem Schlosshotel einquartiert, somit legte er sich in den oberen Etagen ins Bett, ohne sich dramatisch verabschieden zu müssen.
Um halb eins riefen wir dann ein Taxi und liessen uns ins Hotel bringen. Dort stürzte ich ins Bett und fiel in einen tiefen Schlaf. Nachts wachte ich allerdings auf, weil mir viel zu warm war. Ich drehte mich und wälzte mich. Davon wachte wiederum meine Frau auf und unsere alten Schlafkonflikte kochten wieder hoch. Ich wollte das Fenster aufreissen, das verschob allerdings den Vorhang, wodurch ein kleiner Lichtstrahl ins Zimmer schien, was meine Frau nicht ertrug. Ich hingegen ertrug gar nichts mehr. Die Bettdecke nicht, die warme Matratze nicht, das viel zu kleine Bett nicht und gar nichts. Am Ende legte ich mich auf den Boden unters Fenster. Dort schlief ich dann tatsächlich ein.
Am nächsten Tag fuhren wir zurück nach Graz.
Ein Kommentar