Zudem ist mir aufgefallen, dass ich letzten Montag durch meine Fahrt nach Potsdam das erste mal seit fast einem Jahr Berlin verlassen habe. Im August hätte es sich gejährt. Ich habe den Lebensradius eines mittelalterlichen Mönches.
Gestern einen unheimlichen Drang zur körperlichen Beruhigung verspührt. Liegenbleiben, langsam bewegen, leise reden. Als müsse ich mich auspendeln (auräuchern, ausloten, eins werden mit dem kosmischen Beat [1BPM]) weil drinnen irgendwie alles rocknrollig war. Weiß aber nicht warum, Mutter ist ja eher so Schlager.
Jedenfalls: Am Nachmittag war dann alles wieder Polonaise und supi.
K und ich waren danach bei J eingeladen ihren Geburtstag zu feiern. So richtig nachmittags: mit Kuchen und Maibowle. Die Maibowle wurde immer wieder nachgefüllt, was sehr toll war. J’s ganze Familie aus dem Süden war da. Eltern, Tanten, Schwestern, Kusins und Kusinen. Mit Vater und Mutter habe ich mich sehr amüsiert über so gut wie alles unterhalten. Anfangs saßen sie noch ein wenig verschüchtert nebeneinander hinter der Türe. Bei der zweiten Maibowle aber, und als das Gespräch eine Wendung hin zu den badischen Schlössern und dem schwäbischen Mai nahm, wurden sie beide zunehmend zutraulicher. Der Mai, der Mai. Und die Bowle. Sie werden unsere sozialen Gräben zuschütten.
Die Tante aus München war witzig, als wir an der Maibowlenschüssel standen und über J’s Kräutergarten redeten, das Thema auf J’s Wohnung wechselte und sie sagte: nicht nur schön hier, sondern auch eine gute Gegend.
Klar doch. Tiefster Wedding. Wie unbekümmert stilisiert und in festen Formen sich Smalltalk manchmal bewegt.
So auch das Gespräch mit der jungen Ärztin aus Potsdam, in größerer Runde (an der Maibowlenschüssel). Sanssouci sei überbewertet sagte sie, nachdem ich natürlich vom Schlosspark geschwärmt hatte (Kommet mir nicht mit Potsdam in diesen Tagen). Warum, fragte ich, und sie sagte, nun, es sei ja schon lange her, aber das lange Warten in der Schlange und das viele Geld für die 20 Minuten Königszimmer.
Ahso, sagte ich.
Nachher Bohrungen an der jungen Ärztin vorgenommen weil sie so selbstverliebt und überheblich Kulturverständnis auf dem Niveau einer Butterblume in die Runde sprühte. Ich verblüffte mich selbst mit überraschendem Detailswissen über die einzelnen Gebäude im Park Sanssouci (Kommet mir nicht mit Potsdam in diesen Tagen), womit ich sie andauernd korrigierte, bis sie damit aufhörte und das Thema wechselte. Ich kann manchmal nicht anders. Und glücklicherweise hat niemand mein Halbwissen durchschaut.
Ich muss den Wedding verteidigen. Als Gegend. Es muss sein.
Sicherlich. Den Wedding zu verteidigen ist eine gute, und edle Tat, aber trotzdem: „Gute Gegend“ ist anders. Das meine ich jetzt aber gar nicht abwertend.
Ich schaue auf die Baumwipfel vor meinem Computerfenster und denke an das, was vielleicht fehlt hier im Wedding (vielleicht das Mitte-Mitte-Gefühl) und sehe ein: hier, wo ich wohne ist keine gute Gegend. Wir diskutieren und ich einige mich gegen den Mit-Weddinger darauf, dass es eine mitteldurchschnittliche Gegend ist. Es gibt gute Ecken wie den Vinetaplatz oder die Gegend um die Panke und ätzende wie die Müller- oder Badstraße. Im Durchschnitt: Mitte(l) 😉
Mit „Gute Gegend“ meine ich auch nicht die üblichen Kieze, sondern eher das was eine etwas ältere Münchnerin als „gut“ bezeichnen wird.