[…]

Meckpomm. Mein Kollege hat mich zu sich eingeladen, in seinen Bungalow im Norden, Resturlaub abbummeln, mal raus, ich wollte eh weg, bisschen schreiben, ich dachte an Templin, aber dann hat er mir seinen Bungalow angeboten, unter Männern, wir sitzen in der Frühlingssone, Abends, morgens, mittags, trinken Kaffee, trinken Bier, Abends schauen wir Fussball, reden von den Frauen, gehen mit dem Hund in den Wald, gehen runter zum Fluss, schauen ins Wasser, tote Fische treiben darin, die Vögel zwitschern.

[tagebuchbloggen: 2.12.]

Die Handschuhe sind super, das Fahrradfahren ist wieder angenehm, morgen muss ich früh raus, meine Schwester hat heute Nacht zwei Stunden geschlafen, zum Schlafen eignen sich diese neuartigen Pennstätten in den Hörsälen also doch nicht, sie liegt jetzt nebenan und schläft, K hat gerade Pasta gegessen und ich einen Salat, ich habe heute seit längerem wieder einmal Texte hervorgeholt, nur ein bisschen drübergeschaut, ab nächster Woche werde ich wieder mehr Zeit dafür haben, und gleich gehe ich ins Bett, nehme K mit und lese dann doch »Es« vor, so zum Schlafengehen und um ein paar böse Bilder mit in den Schlaf zu nehmen, natoll, warum mach ich das eigentlich.

der Aufstand der Pilze (I)

Leo war Hobbybotaniker und kam sich meistens ziemlich bescheuert vor. Aber dies war weiters nie besonders schlimm, da er im Allgemeinen eine grandiose Persönlichkeit war. Ich muss allerdings hinzufügen, dass die allerwenigsten Menschen seine Persönlichkeit zu schätzen wussten, um genau zu sein, kannte ich niemanden ausser mir, der diese Meinung teilte, vor allem jene Menschen nicht, die gezwungenermassen mit ihm zu tun hatten, seine Mutter beispielsweise, oder sein Vater, auch wenn Letzterer es erfolgreich geschafft hatte ihn zu ignorieren, oder seine Sorgen wenigstens ausschliesslich auf die Pflege seines Vorgartens zu lenken. Er war es, der Leo einige Jahre bevor wir uns kennenlernten aus dem elterlichen Haus geworfen hatte und nun Leos Miete bezahlte. Eine weitere Rechnung halt, neben Strom, Gas, Zeitung. Aber wohl allemal besser als tagtäglich seiner missratenem Hinterlassenschaft in die Augen sehen zu müssen.
Leo hatte zweifellos seine Schwächen, hauptsächlich sozialer Natur, er war halt ein wenig, wie soll ich sagen, eigenbrötlerisch. Zu stören schien ihn sein mangelndes soziales Leben jedoch nie, genauso wenig kümmerte ihn sein nicht vorhandenes Geld. Er lebte wie eine Sparflamme, wenn er ass, dann lustlos, wenn er trank, dann nur weil sein Körper alle möglichen Alarmglocken schlug, und reden, ach, das war immer ein bisschen schwierig. Und meist sowieso übeflüssig. Was nicht heisst, dass er nicht sprach, nein ganz im Gegenteil, wenn ihn die Materie interessierte, dann sprach pausenlos, aber es fiel ihm schwer sich für etwas anderes zu begeistern als seine grosse Leidenschaft: die etwas merkwürdige, aber meinetwegen wunderbare Welt der Pilze.
Pilze waren sein ganzes Leben, er konnte stundelang pelzigen Schimmelstrukturen auf Äpfeln beim Wachsen zusehen, als würde er jede einzelne Spore beim Namen kennen, im Laden steckte er verschimmelte Erdbeeren einfach in die Hosentasche und lief weiter, er hatte sogar ein kleines Beet zuhause in der Wohnung, in dem er Champignons züchtete.
Wären damals Computer schon so verbreitet gewesen wie sie es heute sind, dann wäre er ein gewöhnlicher Nerd gewesen, aber der Draht zum Silizium blieb ihm, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, schlichtweg verwehrt. Eine verpasste Chance. Und so nahm das Schicksal meines Freundes seinen dramatischen Lauf.

Er erzählte mir, dass alles mit einem Kombuchapilz angefangen hatte. Kombucha sind die Dinger die aus Thee mit Zucker gesunden Apfelessig ausscheiden. Er nannten ihn Peter, ein mittlerweile mehrere Zentimeter dicker, ledergleicher Lappen, der in süssem Theewasser ab und zu fröhlich vor sich hin blubberte. Mit den Kindern die Peter abwarf, experimentierte er, versuchte es mit grünem Thee, mit Salz, mit Cola, Bier, Schnaps. Die allermeisten starben, aber es gelang ihm, ziemlich genau die Schmerzgrenzen des Pilzes zu erkunden. Später war ihm alles egal, er liess den Pilz mit schädlichen Schimmeln befallen, wagte bizarre Kreuzungen mit Holzpilzsporen, oder schnitt ihn in Stücke. Jedenfalls schien es mir als sei es ihm egal. Später stellte sich allerdings heraus, dass alles zu einem grösseren Plan zu gehören schien, an dem er schon seit Langem arbeitete.

Seine Mutter bekam irgendwann Wind von meiner Freundschaft zu Leo und hatte mich ausfindig gemacht. Ohne Ankündigung stand sie plötzlich an meiner Wohnungstür und wollte mit mir reden. Über ihren Sohn. Ich sei ja sein erster Freund, ob mir nicht etwas einfallen könne, wie aus Leo doch noch etwas werden würde, ob ich nicht vielleicht jemanden kenne, der ihn einstellen würde, sei es auch nur in einer Fabrik, zum Käseschneiden, vielleicht würde er dadurch aufblühen, den Sinn für ein geregeltes Leben entwickeln, Verantwortung lernen und zu schätzen wissen, ach er sei ja so schwierig und sträube sich gegen alles, vielleicht würde er ja auf mich hören, wäre das nicht was? Ich weiss noch, dass ich lange einfach so dasass und tat, als würde ich angestrengt über Leos Lebenslplanung nachdenken, aber ich wusste, dass das unmöglich war, ich kannte ihn damals schon lange und gut genug, überdies lag halb unter dem Sofa, neben ihrem rechten Schuh, ein gebrauchtes Kondom, das mich völlig nervös machte. Leo sei ja so intelligent, sagte sie, und ganz drin in seinem Herzen auch noch ein wirklich guter Junge. Sie habe ihn ja geboren, sie müssen das ja wissen.

„Pilze sind revolutionäre Gewächse“ sagte Leo hingegen immer, wenn man seine Leidenschaft erwähnte. Egal ob man nun abfällig über den Geruch aus seinem Kühlschrank klagte oder den neuen Grünstich seines Joghurtschimmels bestaunte. Pilze waren jederzeit revolutionär. Und kein Anlass war ihm zu schade, dies zu erwähnen. Wenn er über seine Pilze sprach, blühte er richtig auf. Seine Augen bekamen einen hellen, fröhlichen Glanz, wobei immer ein leichter Schimmer Wahnsinn aufflackerte.
Der geneigte Leser wird sich natürlich fragen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass zwischen Leo und mir eine Freundschaft entstanden war, oder noch verwunderlicher mag gar sein, wie es dazu kam, mit Leo ins Gespräch zu kommen. Nichts war leichter als das, wenn man das richtige Thema als Anlass hat.
Ich hatte giftige Pilze zu mir genommen. Nicht die giftigen von denen man Atem- oder Herzstillstand bekommt, sondern die Pilze die im Kopf ungeahnte Pforten zu Paradiesen und finsteren Kellerverliesen öffnen. In meinen jungen Jahren dachte immer, mich reichlich damit auszukennen, dass ich immer die mit dem breitesten Farbenspektrum erwischte, doch auch bei mir kam es vor, dass ich ab und zu einfach Mist pflückte. Und so geschah es, dass ich an jenem Abend, statt fröhlich vor mich hin zu virbrieren mit einem grausigen und hämmernden Schädel auf einer PKK Solidaritätsparty, mit Schnaps, den Presslufthammer in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen versuchte. Wie ich auf jene Party gelangen war, weiss ich nicht mehr, aber Leo hatte diffuse revolutionäre Neigungen, und bei einem seiner seltenen Rundgänge ausserhalb seiner Wohnung, hatte ihn das Interesse für einen gewissen Vortrag über die PKK, der vor der Party stattgefunden hatte, dorthin gezogen. Er stand an der Bar, mit seinem typischen, verwirrten Blick und sah mich an, während ich ausser Atem, mit verdrehten Augen mich an den Tresen schmiss und meinen Focus auf den Schnapsbestand richtete. Die Dame hinter der Bar beachtete mich erst nicht und so sprach ich Leo an, er solle mir verdammtnochmal ein Mittel gegen Pilzkater empfehlen.
Das Stichwort „Pilze“ war gefallen – und wir wurden Freunde.

Die Freundschaft beruhte anfänglich natürlich nur darauf, dass er in mir einen Kenner gefunden zu haben glaubte, jemand der ihm Psilocybinpilze besorgen konnte. Narrische Schwammerln, nannte er sie. Doch alsbald entwickelte sich eine Art Zuneigung zwischen uns, die lediglich darauf beruhte, dass wir uns über Pilze unterhielten. Das Thema gibt ja durchaus was her, und für mich war das alles neu. Dass Psilos mit Obstschimmel verwandt waren, konnte mich wirklich begeistern. Er entwickelte sogar eine gewisse Empathie, die sich dadurch äusserte, dass er immer zwei oder drei Flaschen Bier für mich im Kühlschrank stehen hatte. Alkohol trank er nie. Diese Aufmerksamkeit war auch die Einzige, aber es rührte mich, vor allem in der späteren Phase unserer Freundschaft, als ich merkte, dass diese kleine Aufmerksamkeit wirklich ungewöhnlich für ihn war.

Seine Wohnung war ein feuchter und ungesunder Ort. Dreissig morsche Quadratmeter in einem schattigen Hinterhof. Er züchtete dort hauptsächlich Speiseschimmel, da er mit diesen die schnellsten Resultate erzielte. Das läge jedoch hauptsächlich am sich leicht zersetzenden Nährboden, nicht am Schimmel selbst, klärte er mich auf. Schimmel auf Speisen sei auch die unwählerischste Sorte. So habe er in relativ kurzer Zeit fertiggebracht, gemeinen Brotschimmel mit Lacto-Schimmel, der Milchprodukte bevorzugt, zu kreuzen. Er sei verwundert gewesen, wie einfach der Brotschimmel sich an die neue Umgebung angepasst hatte, durch schlichtes Kreieren eines konstant temperiertes Miniatur-Biotopes – im Joghurtbecher! Er unterstrich die Wichtigkeit dieses Versuches mit der Begründung, dass beide Schimmelsorten vollkommen unterschiedliche klimatische Vorzüge besässen. Mit anderen, langsamer wachsenden Pilzsorten wäre ihm das freilich nicht so einfach geglückt, da die Generationen der Sporen sich nicht schnell genug an die Nahrungsbedingungen anpassen wollten, aber er arbeitete zur Zeit unseres Kennenlernens an einer Methode diese sogenannte Bestäubung zu beschleunigen. Erst später entwickelte er die eigentlich simplere Methode, die Nährböden erst zu mischen, und nach und nach den Einen der beiden Komponenten verringern.

Das war alles gut und recht, und auch sehr interessant. Das Besondere, oder gar revolutionäre an Pilzen wollte mir nie so recht einleuchten. Zumal die Zuchtmethoden mir nicht sonderlich raffiniert vorkamen, sondern eher der ganz gewöhnlichen Zucht von Früchten glich, wenn auch unter anderen Umständen. Immer wenn ich meine Bedenken, oder nennen wir es besser mein Unverständnis, dazu äusserte, hüllte er sich in geheimnisvolles Schweigen. Meistens nahm er dabei einen seiner kleinen Zuchtbehälter zur Hand, schaute vertieft in die sich darin befindende Flora (Leo hätte sich an dieser Stelle geärgert, und gesagt, dass Pilze keine Pflanzen seien, sondern den Tieren viel näher stünden), und brummte mantraartig Sätze wie: „Mein Freund, mein Freund, Grosses steht uns noch bevor, mein Freund.“

Hätte ich damals gewusst, was uns, oder ihm, bevorstand, dann hätte ich ihn womöglich am Kragen gepackt und ihn mit dem Kopf ins Wasser gesteckt, aber was sollte das bisschen Pilz da schon bedeuten, gab es bei mir zuhause ja auch, und doch, hatte er zu jener Zeit schon das Ziel klar vor Augen, es war lediglich eine Frage der Zeit, bis er die erforderliche Technik dazu entwickelt hatte. Aber ich greife vor.

Leo besass durchaus eine künstlerische Ader, der er jedoch weiter keine Achtung schenkte. Talent will ich es nicht nennen, aber durchaus Verständnis, für die Kunst. Einmal traf ich ihn bei eifrigem Gepinsel in seinem Badezimmer vor. Für den Schimmel in seiner Dusche hatte er einen optimierten Nährboden entwickelt, mit dem er jetzt sozusagen Wege von der verschimmelten Ecke, in geschwungenen Bögen über die rechte Badezimmerwand malte. Dieser Nährboden war lediglich eine etwas klebrige, durchsichtige Flüssigkeit, sie liess mich an Kleisterwasser denken, und roch ein wenig nach faulen Äpfeln. Die Zutaten interessierten mich nicht, ich war eher begeistert von der hingerissenen Art, in der er mit durchsichtiger Matsche die Wand verzierte. Das war ein Moment, bei dem ich an seine Mutter denken musste, wie gerne hätte sie vielleicht gesehen, wie ihr Sohn sich musisch betätigte, vielleicht war er bloss ein verkanntes Genie, ein Wunderkind dem man früher den Pinsel aus der Hand genommen habe.
Ich überlegte an jenem Abend ihn über seine Mutter anzusprechen, ihrem Wunsch etwas aus ihrem Sohn zu machen. Beschloss dann aber ein Bier zu öffnen und den neuen Grünton in einem Joghurtbecher zu bewundern.
Zwei Tage später, als ich ihm eine neue Ladung Narrische Schwammerln brachte, erschrak ich während dem Pinkeln zu tode, als mich Che Guevara von der rechten Badezimmerwand anstarrte. Kein Wunder also, dass ich ihm kein künstlerisches Talent sondern lediglich künstlerisches Verständnis zudichtete. Prangte jetzt doch tatsächlich dieser schimmelige Kommunist aus Bolivien an der Wand und schaute mir beim urinieren zu.

Mich zu sorgen, fing ich erst an, als ich dahinterkam, dass er den Badezimmerschimmel bis in sein Schlafzimmer hatte weiterwuchern machen. In sein winziges Schlafgemach kam ich eigentlich nie, irgendwie widerte mich Leo in Zusammenhang mit Körperlichkeit und Intimsphäre, an. Er war kein besonders gepflegter Mensch. Anders hätte er sich wohl kaum mit dieser Fülle an Schimmeln umgeben können.
Ich entdeckte erst eine grauschwarze Spur, in der selben Farbe des kubanischen Revolutionärs im Badezimmer, die vom Badezimmer aus über die Decke des Flurs in der geschlossenen Schlafzimmertür endete. Leo war im Wohnzimmer mit Pilzen beschäftigt und so öffnete ich vorsichtig und leise die Tür, die jedoch verschlossen war.
Zurück im Wohnzimmer sprach ich ihn sofort darauf an, wobei er ausweichend zugab, eine Schlafzimmerwand vom Schimmel befallen zu lassen wollen. Er wolle andere klimatische Bedingungen prüfen, sagte er erst, wurde dann aber, als ich ihn verägert über die gesundheitlichen Risiken hinwies, richtig böse, und verbot mir zu versuchen in sein Schlafzimmer einzudringen.
Er verschwieg mir etwas.
Es hätte mir damals sofort einleuchten müssen, dass ich es mit einem kranken, jungen Mann zu tun hatte.

Doch meine Zweifel, wurden eine Woche später sogleich über den Haufen geworfen, als er einen spektakulären Erfolg zu verbuchen hatte. Er rief mich hellauf begeistert an, ich müsse un-be-dingt vorbeikommen, er sei der erste Mensch dem es je gelungen sei, einen Steinpilz zu züchten. Eine Untertreibung. Als ich seine Wohnung betrat war ein neues, kleines quadratmeter Beet übersät mit dutzenden, achwas, hunderten kleinen Steinpilzen. Einfach so hochgeschossen, sagte er, er sei gerade dabei gewesen eine Symbiose aus gutartigen Edelschimmeln mit bösartigen Lederpilzen herzustellen, als er es aus der Ecke des Beetes seltsam habe rascheln hören.
Das war eine wirkliche Sensation, dessen Bekanntmachung einen gewöhnlichen Wissenschaftler zu Reichtum und Ruhm bis am Ende seiner Tage hätte verhelfen können.
Doch nicht für Leo. Er hatte Anderes vor.

Er fing dann an immer merkwürdigere Fragen zu stellen. Während er früher, berauschende Pilze verlangte, die er zwar nie schluckte, sondern erst die Haut des Hutes abschälte und den Rest in Säuren legte, war das für mich immer irgendwie nachvollziehbar, sei es auch nur deshalb, weil es sich um Drogen handelte, doch wollte er in der späteren Phase beispielsweise von mir wissen wie das eigentlich mit Fusspilz sei, ob ich das schonmal gehabt, und wo ich mir das eingeholt hätte. Ich sagte ihm, dass 12% aller westlichen Grossstadtmenschen von Fusspilz befallen sind, dass es daher wohl kaum schwierig sei, sich den einzufangen. Leo war begeistert von dieser meiner halbwissenschaftlichen Aussage (er nannte es überraschendes Mykologisches Fachwissen), und fragte mich ob ich mit ihm ins Schwimmbad gehen würde, da er von Schwimmbädern und deren für Fusspilz günstigen Voraussetzungen wusste.
So stand ich wenig später mit diesem käsebleichen, verwirrt dreinschauenden Kerl im Schwimmbad. Ich im Wasser um Atem ringend, er behutsam seine Kreise um das Becken ziehend. Es war mir nach kopfschütteln zumute, aber das tat ich in Bezug auf Leo schon lange nicht mehr.

Es ging dann plötzlich abwärts mit ihm. Er bekam einen vorerst leichten Husten, der bis zu meinem letzten Besuch bei ihm, immer lauter und von einem Röcheln begleitet aus den tiefsten Winkeln seiner Lunge hervorzukommen schien. Er klagte über Allergien, tat diese aber als lästige, jedoch unvermeidliche Nebenwirkungen seines Hobbies ab.
Eines Tages klingelte ich bei ihm und er tat nicht auf. Was mich sehr wunderte, weil das noch nie vorgekommen war. Ich fing an, mir Sorgen zu machen und hämmerte mit der Faust an die Tür, als er leichtbekleidet aufsperrte und mich bat zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukommen. Er habe weiblichen Besuch, und müsse sich darum kümmern. Früher hätte ich mich wahrscheinlich darüber gefreut, an jenem Tag beunruhigte mich dieser Umstand jedoch. Er wirkte müde, ein wenig krank, noch blässer als sonst.
Er schwieg eine Woche lang. Doch dann rückte er mit der Sprache raus und erzählte mir von der Frau. Eine junge, hilfesuchende Frau, die er über eine Zeitungsannonce kennengelernt hatte. Als er das Wort „hilfesuchend“ erwähnte, ahnte ich es schon, dass die junge Frau ein Pilzproblem haben musste. „Eine äusserst seltene Vaginalmykose“ sagte er. Er sagte das, wie man jemandem sagt, dass man verliebt ist.
Aus der Liebe ist nichts geworden. Aus dem Pilz schon. Ich wollte nicht wissen was er damit vorhatte. Auch er schwieg.

Die Wohnung wurde von Woche zu Woche ungesünder. Mittlerweile waren so gut wie alle Wände vom Schimmel befallen, die Schimmelbehälter im Kühlschrank, auf dem Schrank, auf dem Herd, auf dem Esstisch, auf dem Wohnzimmertisch, quillten über, waren mit einer dicken, pelzigen Schicht überwuchert. Die Champignons und die Steinpilze befallen, alles was man anfasste schien mit Sporen bedeckt zu sein. Sein Bier rührte ich schon lange nicht mehr an.
Wir sassen nebeneinander auf dem Sofa, ich sagte, er sei ein Schmutzfink, dass er irgendwann daran sterben würde, dass ich nicht mehr kommen würde, wenn er nicht etwas gegen diesen Schimmelwucher unternähme. Dann entdeckte ich einen dunkelblauen oder dunkelgrauen, so genau weiss ich es nicht mehr, Fleck unter seinem Hemdärmel. Ich zog den Ärmel hoch und erschrak. Er reagierte nicht darauf, schaute zur Seite und fragte mich nach einer Zigarette. Die Erste, seit ich ihn kannte.
Er müsse mir etwas gestehen, sagte er. Er würde sein Experiment nicht zu Ende bringen können. Er würde wahrscheinlich bald sterben.
„Sie sind sehr aggresiv“ wiederholte er mehrere Male, das habe er nicht erwartet, und lachte nachdenklich, fast ein wenig stolz, aber mit einer gewissen Wehmut. Er habe einen Plan, er könne mir noch nicht verraten worum es nun genau ging, aber es sei die Revolution, die Welt würde sich verändern. Er würde mir einen Brief schreiben, mir alles mitteilen, ich sei sein Erbe, ich müsse alles zu Ende bringen. Und ich solle nun besser gehen und nicht mehr wiederkommen.

Dem leistete ich Folge. Es schien mir ernst.

Es dauerte nur wenige Wochen, als die Zeitungen und das Fernsehen von diesem grässlichen Tod berichteten. Von dieser von Pilzen und Schimmeln überwucherten Wohnung, und von dieser zwei Meter langen bewachsenen Erhebung, in der man eine Leiche fand. Leopold K.

Ingeborg

Schnell diesen Jahrhundertroman schreiben, mich nächstes Jahr für den Bachmannpreis bewerben, gewinnen, fünfundzwanzigtausend, beim Buffet nachher, den Verleger aufwarten der mir ein Glas Rotwein entegenreicht und beiläufig nach einem eventuellen Jahrhundertroman fragt, ich ganz zufällig mein Jahrhundertmanuskript aus der Jackeninnentasche ziehe. Ein Jahr später einen grossen Garten kaufen, eine Milchkuh, eine grössere Wohnung, ein Sommerhaus für den Herbst am Alpensüdrand, neue Schuhe, eine alte Fabrik in einer Grossstadt, dort baue ich Lesebühnen, lerne endlich Schweissen und kaufe mir einen Opel.

Soeben hellauf geklatscht für Kathrin Passig für den ersten Preis, mit ihrem Text beim Bachmannpreis.

proportionen

Vorhin, als ich dabei war das Büro zu verlassen, ich vor der automatischen Schiebetür plötzlich innehielt und es mich grauste, gleich von dieser Hitzewand erfasst zu werden, wie mir die Sonne gleich alle blossgestellten Teile der Haut verbrennt, da kamen mir alte Erinnerungen hoch, aus diesem furchtbaren Sommer ’03, nachdem ich mich vier Tage lang durch ein vierziggradiges Paris gequält hatte, ich am Vorabend von meiner Rückkehr nach Madrid in diesem stickigen Restaurant im 3ème Arrondissement mit der gebratenen truite um die Wette schwitzte und dieses dänische Ehepaar noch mehr jammerte als ich es tat, und mir schliesslich erzählte, Paris sei noch gar nicht schlimm, verglichen mit Madrid, wo es gerade 52 Grad Celsius mass, und mir dabei übel wurde, meine Armhaare sich aufstellten.
Als ich dann am nächsten Mittag in Madrid bepackt, beladen an der Oberfläche auftauchte, lag diese ausgestorbene Stadt vor mir, sie tänzelte regelrecht vor meinen Augen, die aufsteigende Hitze verbog die Häuser, alle Läden, Cafes, Fenster versperrt, dahinter mussten sich Leichenhäuser verbergen, verzweifelt kühl gehalten, als würde man sich fürchten. Meine Wohnung, dieses finstere Loch im Dachgeschoss, worin man die Hitze des scheinbar schmelzenden Dachteeres von oben, wirklich fühlen konnte, kühlte selbst in den Nächten den ganzen Sommer über nie aus, niemals unter fünfunddreissig Grad, meist mehr, als ich nackt auf dem Bett lag, Hände und Beine von mir gestreckt, ein Proportionsschema in pummelig, damit keine Falte Haut die andere berühre, der Körper aus jeder einzelnen Pore atmen könne, Wärmeeinheiten verdampfen liesse, alle Fenster offen, sperrangelweit, die Luft aber erstarrt war, dickflüssig geworden auf meiner Brust klebte, drückte, während draussen die Madrileños um die Wette hupten, Autos und rotgestreifte Seats, die ganze Nacht lang, als hälfe nur noch das offene Fenster des Autos, ein bisschen Frischwind ins Haar zu kriegen, und ich in nervösem, traumlosen Wachschlaf blökende Schafe riss, nur um beim Weckerklingeln wieder lauwarme Kleider über meine heisse Haut zu streifen und in den kochenden UBahnschacht zu steigen, Höhlen die direkt in des Teufels Kessel führen mussten, in diese alten, klapprigen Wagen der immer überfüllten Linie Nummer 1, die Hellblaue, der Metromadrid zu steigen, um acht Uhr von Tribunal bis Plaza Castilla, zwanzig Minuten lang, mich am Schweiss der anderen Sardinen reibend, um einen Platz für meine Hand an den Haltestangen kämpfen.

Die letzten 5000 Kilometer zum Büro, den rettenden Pol, nur noch die Buchstaben zu KLIMAANLAGE zählen, in verschiedenen Sprachen, vorwärts und Rückwärts und quer durch. Nach Ankunft, acht Stunden lang gebraucht mich abzukühlen, nach getaner Arbeit, und dazwischendurch, unter den Schreibtisch gekrochen und die Augen geschlossen. Alle Schafe laufen lassen, mich um Keines gekümmert.

Daran dachte ich vorhin, als ich kurz innehielt, bevor ich durch die automatischen Schiebetüren, hinaus in den Sommer schritt. Dieser Gedanke hat mir Mut gemacht. Und Spass.

wie das unter Freunden so war

Obwohl er nun schon zehn Jahre tot ist, habe ich ihn eigentlich noch nicht begraben, meinen Freund, den ich eigentlich nie als einen Freund angesehen hatte, wobei die anderen Leute um uns herum immer sagten wir seien beste Freunde, weil, wasweissich, wir beide vielleicht immer so viel tranken, oder wenigstens so taten, als sei das die einzige Erfüllung in unserem Leben, dieses andauernde Betrunkensein, dieses stets sich wiederholende „lass uns was zum Trinken besorgen“, am Nachmittag, auf Reisen, bei nächtlichem Rumsitzen in den dunklen und ausgestorbenen Gassen in Bozen, bei Häuserräumungen, und zuhause bei Freunden, immer dieser Pegel, der uns die ganzen Jahre begleitete, um alles um uns herum erträglicher zu machen, weil der Wein wie eine Geräuschkulisse wirkte, wie in einem Cafe, weil man sich dann auch viel besser unterhält, wenn um einen herum die Welt dieses entfernte Blabla von sich gibt und man dadurch in den eigenen Gesprächen schaukelt wie in einer Wiege. Nicht, dass wir viel miteinander sprachen, dafür waren wir viel zu kurzatmig, ständig musste was geschehen, immer dieses Gefühl man würde was verpassen, etwas verpassen das eh nie da war und wenn es einmal da war, das Glück, auf einer grossen Feier, in einer wunderbaren Runde Menschen, dann war man immer noch nicht glücklich genug, weil „lass uns was zum Trinken besorgen“, die Geräuschkulisse erhöhen, denn ganz nah dran am Glück war man erst wenn der Leib dann nicht mehr mitspielte, der Film unterbrochen war und man am nächsten Tag in einer Bierlache erwachte. Da war man nah dran am Glück und die ganzen Bekanntschaften die man kennengelallt hatte, womöglich geknutscht, oder sonstwie die ganze Freude daran abgelassen hatte, blieben übrig wie dicke Nebel, von denen nur hängenblieb was man noch aufbewahren wollte für die schönen Gedanken, die man mitnimmt, auf der Suche nach diesem Glück.

Als ich ihn kennenlernte, mochte ich ihn nicht, wie er daherkam, laut und dumm. Er war etwas jünger als ich, trug einen säuberlich gestylten und gefärbten Irokesenkamm, während mich damals schon die Sehnsucht plagte, der ich mit verwaschenem grünen Haar in Hauseingängen schlief und dabei Samuel Becket las, da wartete ich nicht auf so einen, statt Godot kam er daher, mit seinem OiOi und Exploited Punk, das nervte mich, blosse Mode, Muttersöhnchen, ich hob meine Nase, er stank nichtmal, und doch blieben wir irgendwie aneinander hängen, erst am Wein, dann am Weltschmerz, für ihn die Welt, für mich der Schmerz, und an anderen Tagen anders herum, oderso.

Als wir uns kennenlernten war er sozusagen direkt aus einer Entziehungskur in die Kneipe gekommen, in der wir uns das erste Mal trafen. Er hatte ein wenig zu viel Gefallen am Heroin gefunden und mit dem Zeug ganz fürchterlich übertrieben, sodass er sich in kürzester Zeit schon in eine kriminelle Laufbahn hineinmanövriert hatte. In Bozen, das damals dieses graue Loch voller ethnischer Konflikte zwischen verkappten Burschenschaftlern und italienischen Fascisti war, gab es damals nicht viel anderes zu tun als sich zu besaufen, oder sich im Bahnhofspark die Nadel zu geben. Manchmal schien mir das die einzige Wahl, wenn man wenigstens ansatzweise ein soziales Umfeld zu haben wünschte, ohne sich mit rechtem Gesindel herumzutreiben und Stellung zu beziehen zu müssen, ob nun die deutschen oder die italienischen Ortsnamen zuerst auf den Ortsschildern geschrieben werden sollten. Einige versuchten es mit der Kunst, oder mit der Literatur, die zogen alle nach Bologna oder nach Wien und kamen meistens nicht mehr wieder. Jürgen versuchte es halt mit Opiaten. Weil er damals noch minderjährig war, und selbst wohl auch einsah, dass sein Ausflug mit seiner Heldin völlig schief gegangen war, hatten ihn seine Eltern kurzerhand in eine Klinik gesteckt, in der er dann auch freiwillig verblieben war.

In den Kreisen in denen ich mich bewegte, war Heroin verpönt, das war die Droge der Nicht-Denker, der opportunistischen Gestalten die im Bahnhofspark herumhingen, die dich heute als Freund umarmten und morgen um Geld betrogen, kleine Sklaven von sichselbst, ein winziger kapitalistischer Mikrokosmos, den man so sehr verabscheute. In meinen Kreisen wollte man die Welt verbessern, da rief man Parolen, da kämpfte man gegen die Faschisten, da wollte man was tun. Hauptsächlich tat man jedoch lediglich saufen. Meist von morgens bis abends. Was wohl Jürgens Rettung war. So sagte er jedenfalls später.

Ich hatte damals jemanden gefunden, der gleich mir, immer weg wollte, immer weg aus den Bergen, zu den besetzten Häusern nach Mailand, zum Trinken an die ligurische Steilküste, immer geradeaus, immer weiter, auch wo es nicht mehr weiter ging, wir gingen zu zweit, weil das wesentlich einfacher war, weil wir einen derartig miesen Eindruck gemacht haben mussten, dass uns die Schaffner oft gar nicht nach einer Fahrkarte zu fragen wagten und uns deshalb meistens weiterschlafen liessen oder hin und wieder mal in den Bahnhöfen mit zwei Carabinieris auftauchten, die dann die Drecksarbeit erledigten und uns aus dem Zug warfen, weil Fahrkarten zu kaufen uns irgendwie zu blöde war, es war ohnehin schon schwierig genug an Geld zu kommen, so dass wir alles lieber gleich in fünfliter Pullen Wein steckten, anstatt es der Italienischen Eisenbahn zu geben. Und Arbeitslosengeld gab es in Italien nie, überdies wäre uns das noch viel blöder gewesen, erst den Staat zu verachten, dann auch noch Unterhalt zu verlangen.

Mit der Zeit fing ich an ihn zu mögen, mit der Zeit fing seine Gradlinigkeit an mich zu amüsieren, seine Art rein gar nichts zu reflektieren, aber immer diese Aufbruchstimmung ohne irgendwas zu wollen, „komm lass uns für ein paar Wochen nach Rom fahren ein bisschen saufen und kiffen“ um dann in Firenze hängenzubleiben und an allen Sehenswürdigkeiten vorbeizulaufen ohne sie zu bemerken, womöglich gar dran zu pinkeln, weil es da nunmal immer so viele dunkle Ecken gab, und auf der anderen Seite immer diese Unzufriedenheit, dieses Rumgenöle und Gefluche, dioccane hier und dioccane da, wenn ihn etwas nervte, und es nervte ihn dauernd was.

Man traute es ihm nicht zu, aber ab und zu hatte er durchaus seine romantischen Momente, vor allem bei Sonnenuntergängen, da erfasste ihn manchmal ein verblüfftes Staunen, wie geil das doch dioccane sei, „da oben, diese ganzen roten Wattehaufen, mamma, mamma, wie auf Trip“, starrte in Richtung Horizont und fing gelegentlich an, von einigen wenigen Frauen zu schwärmen, dass er sie vielleicht doch einmal wieder besuchen sollte, vor allem die Deutsche, die mochte er eigentlich richtig gerne.
Manchmal liess er sich ohne zu protestieren seine Pickel ausdrücken, meistens musste ich ihn jedoch auf den Rücken schmeissen und mich auf seine Brust knien, weil er sich sträubte, konnte ich ja verstehen, äusserst zimperlich ging ich nie mit ihm um, obwohl es mir leid tut, dass ich ihn einmal mit einem Faustschlag fast die Nase gebrochen habe. Heute tut es mir erst leid, nicht damals. Damals hatte er es verdient, weil wir am Brenner auf den nächsten Zug warteten und die Kippen alle waren. Er hatte als einziger noch etwas Geld, nur zweitausend Lire zwar, aber das war genug für eine Schachtel Kippen. Jedoch nölte er herum, er wolle nun ein Eis, keine Kippen und ich drohte ihm ihn zu erwürgen wenn er sich so ein dämliches Eis kaufen würde, was er sich natürlich nicht zweimal sagen liess und fünf Minuten später grinsend und eisschleckend zu mir zurückkam. Die Nase blutete dann sehr stark, was man erst gar nicht sah, weil sein halbes Gesicht mit Eis verschmiert war. Vanille, und das Rote muss wohl Erdbeer gewesen sein, oder Himbeer, etwas anderes Rotes gibt es glaub ich nicht. Die Nase schwoll auch etwas an, ich hatte ihn bloss nicht richtig getroffen, aber wenigstens war das Eis auf den Boden gefallen und somit hatten wir beide nichts mehr, er kein Eis und ich keine Kippen. Nur schmerzte ihm dioccane die Nase. Ja, heute tut es mir leid. Auch wenn er es damals verdient hatte.

Wenn wir so weitermachen wie bisher, so sagte ich ihm einmal, dann seien wir beide in einigen Jahren tot. Kalt und steif unter der Erde, dort, wo uns die Maden zerfressen. „Hö hö“ lachte er und „Hö hö“ lachte ich. Er zog dann ein nachdenkliches Gesicht und sagte, dass das aber schon Scheisse sei, das mit den Maden, er möchte nicht, dass seine Tattoos eines Tages verlorengingen, er wünschte sogar, dass ich ihm seine Tattoos rausschneiden solle, falls er sterben sollte, worauf ich wissen wollte, was die Nachwelt mit seinen doofen Posertattoos dann anstellen sollte. Drauf zu pinkeln schien mir das einzig Vernünftige zu tun.
Was damit zu tun sei wusste er auch nicht, pinkeln jedenfalls nicht, es sei halt schade sie verfaulen zu lassen. Es war ein nachdenklicher Moment. Sein Tattoo der Band „Exploited“, der Totenkopf mit Irokesenkamm, war ihm heilig.

Was dann noch bleibt, sind die Fragmente der Erinnerungen, ich kann die Tage noch förmlich riechen, wie staubig sich unsere Tage immer anfühlten, stundenlang im Nirgendwo auf der Autobahn auf anhaltende Autos warten, wie wir uns nachts beim Schlafen umarmten wenn es kalt war, und das Ufo das er gesehen hatte, beim Pinkeln in den Dünen, wie er zurückkam und mich weckte und von der grossen, roten Scheibe erzählte, die über ihn hinweggeflogen war und dahinten irgendwo niedergegangen sein musste. Das war das zweite Mal, dass ich ihm die Nase hätte brechen wollen, vor allem weil er wollte, dass ich aufstand und mit ihm mitginge das Wrack aus dem Weltall zu suchen. Oder wie wir uns gegenseitig auf den Treppen der Bozner Herz-Jesu-Kirche tätowierten, mit Tinte und Nadel Wörter und Zeichen auf unsere Arme stachen, weil wir immer dafür stehen wollten, für das, was wir taten, und uns auch dementsprechend brandmarken. Oder als wir mitten in der Nacht auf der Staatsstrasse von Meran nach Bozen standen und in Hoffnung auf eine Mitfahrgelegenheit versuchten Autos anzuhalten, was bei unserem Anblick ein aussichtsloses Unternehmen war, hielten nur die Carabinieri, und Schweine wie die eben immer sind, zerschlugen sie damals unsere halbvolle Whiskeyflasche, einfach so, weil es eben Schweine sind und unsere Visage denen nicht passte und sie wohl frustriert waren, weil sie uns sonst nichts anhaben konnten, nachdem sie uns bis auf die Unterhosen auf andere berauschende Mittel durchsucht hatten. Und da lagen sie dann, die Scherben, in einer Lache Whiskey, der in alle Richtungen floss, das Gesöff das uns als einziges noch am Leben halten konnte, in jener langen Nacht auf der Staatsstrasse von Meran nach Bozen. Wie er damals fluchte, so viele Wörter in so vielen verschiedenen Tonarten und Lautstärken, länger als eine Viertelstunde, an einem Stück durch, eine Litanei an Beschimpfungen, dass ich erst genervt wurde und hoffte ihm mögen endlich mal die Worte ausgehen, so viele gab es doch gar nicht, und ich dann irgendwann einfach nur noch darüber lachen konnte, über ihn, über uns, über die verdammte ganze Welt.

Wären wir irgendwo auf unseren Reisen geblieben, in irgendeiner der Städte zu denen es uns immer hinzog, wäre vielleicht alles anders ausgegangen, vielleicht wären wir dort in eine WG, in eine der riesigen italienischen Stadtwohnungen eingezogen, hätten uns verliebt und wären irgendwann abgekühlt und alles wäre gut geworden, man glaubt ja gerne daran, dass der Verlauf der Zeit ein blosser Irrtum gewesen ist. Stattdessen verschwand einfach die Lust am Herumstreunen, dieses ewige Herumirren als gäbe es wirklich nie einen Plan oder ein Ziel, weil jedes grossartige Erlebnis musste einem in den Schoss fallen, nichts sei vorauszusehen, was ja auch so war, aber ich war der ganzen Leute, die wir trafen, müde, ein Gesicht nach dem anderen, die ganze Aufregung und all die Abenteuer wurden vorhersehbar, wiederholten sich, letztendlich war man immer bloss betrunken, oder wieder verliebt in irgendjemanden in weiter Ferne, das ganze wilde Leben war spiessig geworden, weil wir in Muster verfielen, und letztendlich einer Routine hinterherliefen.
Wir zerstritten uns in Rovereto, nachdem wir zwei oder drei Tage mit ein paar Mailänder Gesinnungsgenossen am Gardasee, na was schon, getrunken hatten, und auf Pilzen einander zugeredet hatten, von Abenteuern erzählten und ich war schon des Erzählens müde, schonwieder diese gleiche Geschichte, ich wollte nicht mehr, mich nicht fühlen wie ein Abenteurer der sichselbst wiederkäut, weil alles, was er macht, darin besteht, das selbe Abenteuer Tag für Tag wieder zu erleben. Wir konnten noch einige Jahre in diesem Zweivierteltakt weiterhin Pillen schlucken und diesen Hunger, der uns trieb, mit Traubenschnaps ertränken, wir würden dann irgendwo im Viervierteltakt verenden, ohne jemals etwas dazugelernt zu haben. So sagte ich ihm das und er schien mich nicht ganz zu verstehen. Was denn los sei mit mir, ob ich nun abgehoben werde. Ach was Streit, das war es gar nicht, es war eher völliges Unverständnis füreinander, alsob sich plötzlich ein riesiger Graben auftut, nach all den Jahren der Selbstverständlichkeit, nach all den Jahren des Gefühles, immer alles richtig gemacht zu haben, weil wir eben taten, was wir wollten ohne uns um irgendwelche Konsequenzen zu kümmern oder an die Zukunft zu denken, weil das Leben eben geradeaus ging.

So fuhr ich wieder nach Bozen und er fuhr in den Appennin.

Erst drei Monate später trafen wir einander wieder und mir kam es vor als wären es Jahre gewesen, viele Jahre, wir standen voreinander wie Fremde, ich sagte ihm, ich würde erstmal nach Wien ziehen und dann weitersehen, ich sei das Nichtstun satt, ich wolle Theaterstücke schreiben, oder meinetwegen zum Zirkus und Feuer spucken. Es lag diese Erkenntnis zwischen uns, dass sich unsere Wege ab nun trennen würden, dass wir plötzlich realisierten, dass dieser Schritt vorauszusehen gewesen ist und unweigerlich irgendwann passieren musste, nur, dass wir es nie gemerkt hatten, alle Worte, die wir tauschten, klangen nach Abschied, eine hingenommene Trennung, und dann die dauernden Fragen „wirst du…?“ und „glaubst du…?“, als gäbe es noch diese Hoffnung, sich irgendwann wiedermal zu treffen. Als Freunde.
Dann verschwand er für einige Wochen, und als er zurückkam, ergatterte er eine Stelle in einem Obstmagazin – zum Schleppen. Das erste Mal, dass ich ihn arbeiten sah. „Ein bisschen Geld verdienen und im Sommer für ein paar Wochen weg“. Abends sass er in der Kneipe, mit Freunden und trank. Dann zog ich nach Wien.

Er war schon seit etwa zwei Wochen tot, als ich ein halbes Jahr später von der Nachricht erfuhr. Ich war in Brüssel und telefonierte mit einem Freund, der sich aufregte, dass man mich nie erreichen könne, und er hatte mich vorher gewarnt, er habe eine schlechte Nachricht, ich solle mich hinsetzen, oder mich wenigstens darauf gefasst machen, dass ich nachher noch ein Bier trinken müsse um das Ganze besser schlucken zu können. Jürgen sei gestorben, vor zwei Wochen, auf dem Parkplatz des Ex-Monopolio, man habe ihn da mitten auf dem Weg gefunden, er habe im Todeskampf wohl gemerkt, dass es ihm nicht gut ging und noch versucht raus auf die Strasse zu kriechen, da im Licht, wo man ihn eventuell sehen konnte um einen Krankenwagen zu rufen. Als man ihn fand, war er jedoch schon tot gewesen.
Ich wusste erstmal gar nicht was ich sagen sollte, wiederholte mehrere Male ein mmh, und sagte, dass das grosse Scheisse sei, auch dass ich nun ein Bier bräuchte, oder nein, besser einen Whiskey, oder zwei, drei. Auf meine Nachfrage hin, woran er denn überhaupt gestorben sei, sagte der Freund „Überdosis“, was mich sehr wunderte, weil er, das letzte Mal als ich ihn gesehen hatte, nicht den Eindruck machte, dass er wieder mit Junkies rumhängen würde. Aber dem war anscheinend auch nicht so, es schien sein erster Schuss gewesen zu sein, seit damals, und ich müsse ja wissen, seine Leber seit der Hepatitis… die hatte es wohl nicht mehr ausgehalten, ein anderer würde bestimmt überlebt haben, aber er halt nicht. War er schon begraben? Ja klar, draussen Überetsch, das Begräbnis war natürlich die Reinste Heulerei gewesen, die ganze Meute versammelt, auch F., mit der er gerade was angefangen hatte. Was die F.? Ja genau. Wie gehts ihr? Dreckig. Ja, klar, du ich muss jetzt unbedingt was trinken, ich ruf dich in ein paar Tagen wieder an. Ja, ciao.
Ich konnte nicht trauern. Es schien mir fast, als sei das für ihn noch der einzige stilvolle Ausweg gewesen, mit der Alternative in Aussicht, in der Obstfabrik plötzlich auf Sparflamme getaktet, Stück für Stück zu verkümmern.
Vielleicht sagte ich mir das aber auch bloss, um nicht trauern zu müssen, oder einzusehen, dass die Freundschaft zwischen uns vollkommen am Ende gewesen ist, oder gar weil mich manchmal das Gefühl nicht loslässt, dass ich ihn wenigstens nach Wien hätte holen sollen und dann alles anders abgelaufen wäre.

Wahrscheinlich würde er jetzt aber ohnehin nur sagen „dioccane so Scheisse, dass die Tattoos jetzt verfaulen“ – und sich über diesen pathetischen Text furchtbar aufregen.

mein Freund der Priester

Vor drei Monaten in Rom, habe ich neben singen und trinken, einen Priester kennengelernt, der trinken konnte wie ein Walfisch in süffiger Laune und fluchen wie ein sizilianischer Mafioso, bei dem jegliche Hoffnung auf ein Weiterleben im Himmel verschwunden war. Nun mag man sagen, dass wir Katholen ohnehin nicht vor Fluchwörtern zurückschrecken und dabei am liebsten mit Wörtern, die heilige Sakramente und allerheiligste Fäkalien enthalten, um uns schmeissen, aber doch bleibt es fragwürdig in meinen Augen, auch wenn man sich nicht weiter darüber den Kopf zerbrechen soll. Und das mit dem Saufen ist nun mal so, dass Mönche und Priester und andere Kuttenträger eben viel Zeit zwischen ora und labora totzuschlagen haben, dass oft nicht viel anderes übrigbleibt als den Wein und das Bier, das aus dem labora gewonnen wird, zu trinken.
Der Priester den ich kennenlernte war ein Südtiroler, was das ganze vielleicht noch um einige Grade verschlimmert. Er war ein Freund meiner Schwester. Als ich sie am Bahnhof Termini abholte, erzählte sie mir, dass wir von dem Priester in ihrer Bleibe ageholt werden würden. Er ginge mit uns essen, in einer Trattoria im Trastevere, auf der anderen Seite des Tibers.
In ihrer Bleibe, ein Kloster, oder bessergesagt, ein Schwesternhaus, das zum Hotel umgebaut wurde, erwartete er uns schon. Er war jung, etwa um die Dreissig. Die Freude war gross, er begrüsste uns mit einem kräftigen Handdruck und einer herzlichen Umarmung und zeigte uns schliesslich das Zimmer. Während ich meiner Schwester mit dem Auspacken des Gepäckes half ging er nach unten um mit einer der Nonnen weiterzuquatschen.
Danach gingen wir los, ach, es sei nicht weit, nur den Hügel hinunter, an der Tiberinsel vorbei, dann über den Fluss ins Viertel hinein. Er zeigte uns die kleinen Geheimnisse Roms, viele Steinhaufen an bedeutungslosen Ecken die Weltgeschichte zu schreiben schienen, verwildete Katzensiedlungen, er wies uns gute Kneipe an und Trattorie die furchtbaren Wein auftischten. Es musste Stunden gedauert haben, es war schon dunkel geworden, vonwegen den Hügel runter, ganze sieben solcher Hügel müssen wir gelaufen sein, als endlich der rettende Tiber hinter einer dunklen Gasse auftauchte, und tatsächlich, ab dem Tiber war es nicht mehr weit. Wir sassen uns hin, bestellten erstmal grosse Biere um den Schweisspegel wieder auf eine akzeptable Höhe zu bringen, und als wir wieder halbwegs schwitzen konnten, machten wir uns über die Menükarte her.
Dann meldete sich die allerkleinste Schwester auf dem Handy, dass der Zug aus Napoli ungefähr zwei Stunden Verspätung haben würde, es würde sehr spät bis sie in Rom sei, ob wir sie trotzdem abholen können. Ja natürlich Schwesterchen, melde dich eine halbe Stunde vor Rom, dann holen wir dich alle ab.
Der Priester war ein grosser Trinker. Das Wort bodenlose Fass will ich mir hier mal verkneifen. Allerdings war er auch ein weiser Denker. Aus hitzigen Diskussionen, in denen ich meine katholischen Kritikpunkte an einen Verteter der Kirche vor den Boden warf, kamen wir zum Ergebnis, dass wir das gleiche dachten, und je betrunkener ich wurde, desto mehr kam mir in den Sinn, mich zum Priester weihen zu lassen, immerhin ist ein Leben zwischen Weintrinken und dem Nachdenken über Gott und die Welt, gar kein schlechtes Leben, die Kutten sind auch schick, und an das frühe Aufstehen würde ich mich mit der Zeit schon gewöhnen. Nur mit dem Zölibat ist das halt so ne Sache, meinte ich. Achja, sagte er und zuckte mit den Schultern, das ist nicht so schwierig, man vögelt halt nicht. Ah genau, man vögelt halt nicht. Ich guckte in die Menge leichtbekleideter Römerinnen auf der Piazza, seufzte kurz und der Priester und ich hoben gleichzeitig das Bierglas.
Eine Viertelstunde später rief die kleinste Schwester wieder an, sie führe gerade am Bahnhof Termini ein, sie habe da was falsch verstanden mit der Verspätung, ob wir sie nicht abholen können. Nein, können wir nicht, das Essen käme jeden Moment, sie solle ein Taxi nehmen und ich würde es bezahlen. Eine halbe Stunde später hielt ein Taxi mit quietschenden Reifen neben unserem Tisch und meine kleine Schwester fiel mir beim Aussteigen fast in mein Teller hinein. Ein teurer Spass so ein Taxi in Rom, was der eine ganze halbe Stunde lang zwischen Termini und Trastevere gemacht hat und wieviele dutzende Hügel der umfahren hat, wollte ich gar nicht mehr wissen. Die Schwester war angekommen und das war das wichtigste. Wir wollten noch ein wenig weiterziehen nach dem Essen, ein paar Gläser Rotwein trinken in ein paar Cafes, aber das gestaltete sich nun etwas schwierig, da die kleine Schwester eine halbe Pferdekutsche voller Gepäck bei sich hatte. Zurückzukehren in das Schwesternhaus war keine Option, wenn wir da wären, war es schon wieder Zeit ins Bett zu kriechen. Aber der Priester wusste Rat, alles sei kein Problem, wir würden an einer Kneipe vorbeilaufen, bei der wir die Koffer und Rucksäcke liegenlassen können und auf dem Nachhauseweg wieder abholen.
Wir machten uns bald auf den Weg. Die Kneipe befand sich gleich um die Ecke. Eine laute, sehr laute Spelunke, aus der mir The Clash draussen schon die Ohren zudröhnten und mich trotz generellen Rauchverbots in Italien, beim ersten Schritt durch die Tür, eine giftige Haschischwolke einräucherte, bei der ich beim blossen hingucken schon stoned wurde. Der Priester trat in die Kneipe ein, grüsste hier ein paar Leute mit Dreadlocks, da ein paar Leute in Lederkleidung die ihm aus der Ferne zuprosteten und erreichte die Theke, wo er erstmal den Kellner, einen etwas verwegenen Punk, begrüsste und dann mit ihm die Sache mit dem Gepäck besprach. Nach kurzem Wortwechsel winkte der Punk uns heran, stellte vier Biere auf die Theke und nahm das Gepäck meiner Schwester an, das er in einem Hinterzimmer verstaute. Alles geregelt.

Im Laufe der Nacht stiegen wir auf Wein um und stiegen anschliessend in das düsterste Rom ab. Als ich mitten in der Nacht, ganz alleine auf dem Fusse einer Säule sitzend, auf den Nachtbus wartete, da ich in einem anderen Hotel übernachtete, fühlte ich mich wie ein Spiesser, der zwar vögelte, aber sonst nicht viel vom Leben vor dem Tod verstand.
Die restlichen Tage war ich zu sehr beschäftigt, um mich nochmal mit ihm treffen zu können, aber bei meinem nächsten Rombesuch lasse ich mich gerne wieder, und dann am liebsten noch viel ausführlicher, von der katholischen LebensTrinkweise belehren.

Berlin

(Erschienen in der Anthologie „Berlin. Oder so.“ Thomsen Verlag, Berlin.)

Als ich ‘93 nach Berlin zog, war ich achtzehn und hatte einige Monate vorher im Streit das elterliche Haus verlassen, weil ich nun eben achtzehn war und endlich dieses magische Alter erreicht hatte, das mich auch gesetzlich für mich selbst verantwortlich machte. Gesetzlich für mich selbst verantwortlich, das klang ähnlich wie Freiheit, nur besser. Und so entledigte ich mich aller Unfreiheiten, brach die Lehre ab, brach alles ab, das Band zu den Eltern, und nahm in jenem Sog auch gleich die Freundschaften mit, die schon länger keine Freundschaften mehr waren.
Ich wohnte mit einem Freund in seinem rostigen Ford Fiesta auf einem Parkplatz in Bozen, wo früher mal ein besetztes Haus gestanden hatte, das einzige das Südtirol jemals zu Gesicht bekam, das Ex-Monopolio. In den frühen Achtzigern als Terroristenhochburg verschrien, wobei es eigentlich bloß eine kurzlebige, kreative Aktion eines kulturellen Dachverband ohne Dach war, ein Projekt, das sich selbst innerhalb eines Jahres ausverkauft hätte, wenn es nach zwei Monaten nicht geräumt worden wäre, weil in den Bergen damals, und vielleicht auch heute noch, die Zeit für einen kulturellen Umsturz einfach nicht gegeben war. Aber seit der Räumung und anschließenden unmittelbaren Abriss, klaffte da diese Baulücke seit Jahrzehnten so vor sich hin, während die Landeshauptstädtler ihre Autos dort parkten, weil sonst ja nur Unkraut wuchern würde. Dieser neue Parkplatz war schließlich mitten in der Altstadt. Nur nachts, ließ man das Auto da besser nicht stehen, weil dort die Junkies in den ausgebrannten Wagen schliefen und die Ratten dort hausten, weil es keinen Asphalt gab, sondern nur die Erde, und den plattgefahrenen Schutt des früheren Gebäudes, so dass es immerfort staubte, und wenn es regnete war der Ort eine einzige Pfütze.

Ich ließ mich treiben, meine Lehre hatte ich abgebrochen, weil, was wollte ich schon in der Druckerei, wenn die Revolution da draußen irgendwo lauerte. Nicht in Bozen natürlich, sondern da draußen hinter den Bergen, im fernen Deutschland, wohl in Berlin, da wo die Bilder von den brennenden Barrikaden herkamen. Meine Lehrer hatten meinen Eltern früher immer nahegelegt ich solle doch studieren, erstmal in die Oberschule, die Matura absolvieren, und dann würde mich die Lust am Lernen schon ergreifen. Ich hätte ja viele Fähigkeiten und zeige überaus großes Interesse an Erdkunde, Geschichte und Sprachen. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, mich mit einem großen “Genügend” auf dem Zeugnis von der Pflichtschule zu schicken, mit dem verblümten, schriftlichen Verweis, ich tauge nur für die Arbeitswelt.
Vielleicht hatten sie bloß die Schnauze voll von mir, weil ich ihren Motivationsreden nicht zu folgen gedachte. Mag sein.
Aber auch in der Arbeitswelt wurde ich nicht glücklich. Als sich meine Haare erst weiß, dann grün verfärbten, rief mich schließlich der Geschäftsführer meiner Lehrstelle ins Büro und legte mir nahe, dass er etwas gegen meine Haarfarben unternehmen müsse, dass das so einfach nicht ginge, dass er mich vor den Kunden verstecken müsse, falls mal einer durch die Fabrik lief. Zwei Stunden später reichte ich meine Kündigung ein.
Und so verbrachte ich meine Tage im Ford Fiesta, las Baader-Meinhof-Komplex und Nietzsche, betrank mich abends auf dem Walterplatz, oder wir machten Wohnungsparty mit ein paar Freunden im Ford Fiesta, zu Ton Steine Scherben und Slime.

Bis der Freund und ich beschlossen nach Berlin zu fahren. Er hatte ein Jahr vorher, beim Äpfelpflücken ein paar Berliner kennengelernt und seitdem waren diese Bekannten aus dem hohen Norden immer wieder ein Thema gewesen, als ob man etwas Gutes in Aussicht hätte, woran man sich in schlechten Zeiten festhalten kann. Man hatte Bekannte in Berlin, das war etwas Wertvolles, das war mir mehr Wert als verliebt zu sein.

An einem Mittwochmorgen, oderso, nach dem letzten Tag seines Zivildienstes, drehte er nach dem Aufwachen, anders als sonst den Schlüssel um und wir gingen eine zwölfstündige Autofahrt an. Wir hörten deutschen Punkrock, tranken ausnahmsweise mal keinen Rotwein aus der Flasche, sondern Wasser, oder Cola, weil es sich bei solch großen Abständen nicht empfiehlt betrunken am Steuer zu sitzen, weil man schließlich nicht bloß auf einer Landstraße von einem Berg herunter auf den nächsten hinauf fuhr, sondern auf der Autobahn, auf der Autobahn nach Berlin, und das war eben wie aufregend, wie früher Urlaub ans Meer, oder halt hinüberfahren in eine andere Welt, Aufbruch in eine bessere und schlechtere Welt. Schon ab dem Brenner schien die Welt sich zu verändern, wenn man Berlin in Aussicht hatte. Die Berge wurden immer kleiner. Irgendwann waren wir in Deutschland und bloß noch Hügel um uns herum, bis dann auch das lang ersehnte Flachland kam. Und Rio Reiser sang aus den blechigen Lautsprecherboxen des schwarzen Ford Fiestas.
Mein Freund wollte bloß eine Woche bleiben, deshalb legte ich ihm gleich schon nahe, dass ich nicht daran dachte, mit ihm zurückzufahren, sondern erstmal in Berlin zu bleiben. Weil ich weg musste, weil ich in den Bergen gerade nichts verloren hatte, weil ich mich eingeschränkt fühlte, weil ich andere Ideen darüber hatte wie ich mir die Welt und die Welt um mich herum gestalten wollte. Ich wollte keinen vorhersehbaren Lebenspfad durchlaufen, ich wollte mich auf kreativer Art und Weise durch das Leben schlagen.

Dann tauchte irgendwann, schon spät in der Nacht, diese riesige Stadt auf. Erst viele Autobahnkreuzungen, mit Schildern nach links und nach rechts, nach Berlin-Wannsee, nach Berlin-Neukölln, Berlin-Pankow, Berlin-Moabit, Berlin-Mitte, Berlin-Lichtenberg, dieses Berlin hatte viele Herzen die schlugen, und viele Adern, durch denen wir uns bald treiben liessen, ja schon auf der Autobahn, wo ich nur die Schilder gesehen hatte, trieb ich schon durch einer dieser Adern. Dahinter pulsierte irgendwo dieses Berlin mit seinen vielen Herzen, das mich gerade aufzusaugen schien, weil ich seinem Gravitationsfeld schon ausgeliefert war, und die Lichter der vorbeiziehenden Häuser mich schweigend begleiteten auf den Weg in das immer lauter schlagende Mittelherz. Mein Freund und ich wir schwiegen. Andächtig beobachteten wir wie die Stadt uns aufnahm und uns den Weg zum Ziel wies.

Ich hatte nie das Gefühl, wirklich angekommen zu sein, auch nicht, als wir tatsächlich am Ziel waren, in der Dunckerstraße ausstiegen und mein Freund mir sagte, dass er die Hausnummer gar nicht genau wisse, irgendwas mit siebzig, in einem Hinterhof. Ich wollte gar nicht ankommen sein, ich suchte einfach nach dem richtigen Haus, als ob es der nächste Schritt auf der langen Reise wäre. Ich mochte die spärlich beleuchtete Straße, die verlotterten Häuser, die offenen Tore durch die man in dunkle, verwilderte Hinterhöfe kam, wo dann noch ein weiteres Haus stand, das in der Nacht noch viel verwahrloster aussah, wir liefen durch die schlecht beleuchteten Treppenhäuser, auf der Suche nach einer Klingel mit dem Namen des Bekannten, von Stockwerk zu Stockwerk, jede Tür war anders, die eine beklebt mit hunderten Aufklebern, die andere schwarz angemalt, eine zugenagelt, eine andere Rot, AntiFa-Sticker, Parolen, aufgesprühte Sprüche, dann ein weiterer, noch weiter dahintergelegener Hinterhof, meistens hörte man irgendwo Musik, ohne genau zu wissen woher sie kam, die Stadt war wie ein riesiger und geheimnisvoller Organismus, voller Details und Bilder.
Schließlich fanden wir ein paar Häuser weiter die richtige Tür, wurden herzlos, jedoch freundlich empfangen als ob wir die Nachbarn von nebenan wären, eine Wasserpfeife mit Haschisch wurde uns vor die Nase gestellt und die anwesenden Leute sprachen mit uns und alles ging in Nebel auf.

Und der Nebel blieb, die ganzen nächsten Tage, Wochen, Monate. Wir wurden gleich in den Freundeskreis aufgenommen, ich konnte manchmal gar nicht wirklich sprechen, so sehr war ich immer noch auf Reisen. Und die Menschen kamen mir alle so weise vor und hatten alle so viel erlebt, sprachen eine Sprache die zwar dieselbe war wie meine, die aber so viel schöner und bestimmter floss, als meine Sprache die nach Bergen klang und sich anhörte wie ein verkrampfter Versuch, ebenso eine selbstverständliche Gelassenheit anklingen zu lassen. Ich habe diese warme Arroganz, wie ich sie damals empfand, nie imitieren können, so sehr ich mich auch angestrengt habe. Ich hörte einfach nur zu, auch wenn sie von Kalle und Motze sprachen, die ich alle nicht kannte, und ich dem Erzählten eigentlich gar keine Beachtung schenkte, sondern bloß den Klängen horchte und dem Nebel nachschaute. Das waren keine Hippies, wie sie bei uns in den Bergen waren, die sich herrichteten um so auszusehen wie sie eben aussahen, nein, das waren Leute die schmutzige Kleider hatten, weil sie keine Waschmaschinen besaßen und nur einmal alle heilige Zeiten die ganze dreckige Wäsche packten und zum Waschen brachten. Das Leben klebte ihnen regelrecht an der Haut, und die Wohnungen waren nicht geschmackvoll eingerichtet, sondern hatten sich im Laufe der Zeit von alleine geformt, zu dem was sie geworden waren, eine wilde Ansammlung von ungebrauchten Gebrauchsgegenständen die sich weiterformten mit der Zeit, ohne dass dem jemand wirkliche Aufmerksamkeit schenkte, wie ein Wald meinetwegen, der auch nur eine Symbiose von wachsen und absterben ist.

Mein Freund verließ die Stadt nach einer Woche und ich übernahm die Wohnung eines verwahrlosten Punks in der Marienburgerstrasse, der die Stadt oder das Land verlassen musste, da er irgendwas angestellt hatte, ich weiß nicht mehr was, und wohin er gehen würde, das wusste auch niemand. Ich habe ihn seitdem auch nie mehr gesehen. Einen Schlüssel hatte ich nie bekommen, die Tür hatte gar kein Schloss, weder die Haustür, noch die Wohnungstür. Die Wohnung wurde mir schlichtweg mündlich übergeben. Jeder schien diese Art von verlotterten Wohnungen zu haben. Ein großes Zimmer, eine Küche, und ein Gemeinschaftsklo im Zwischengeschoss. Ich habe nie nachgefragt wem die nun gehörten, oder wieviel man dafür Miete bezahlte. Sie waren einfach da und die Wohnungen boten Platz.

Auch wenn ich nun eine Bleibe hatte, die ich etliche Monate benutzen konnte, hielt ich mich kaum darin auf. Höchstens zum Schlafen, wenn ich Nachts noch genug Kräfte hatte, mich nach Hause zu schleppen, sonst blieb ich einfach dort liegen, wo ich hingefallen war, auf einer Party, bei einem Bekannten, oder sonstwo. Das machte jeder. Die Wohnung war eine regelrechte Müllhalde gewesen als ich sie übernommen hatte. Natürlich kam ich nicht auf die Idee sauberzumachen. Ich dachte einfach das wäre gut so, Chaos war ja überall und, dass der Vormieter einen Eimer voll Fäkalien in der Küche stehen hatte, war bestimmt in Ordnung. Zwar fand ich es etwas ärmlich von ihm, dass er nachts nicht in die geteilte Toilette ins Zwischengeschoss laufen könne um seine Ausscheidungen loszuwerden -das waren schließlich nur ein knappes Dutzend Stufen- aber ich fand es auch nicht schlimm, so war das halt, man ließ jeden tun was er tun wollte, und weil die Küche sowieso ein ekliger Ort war, von faulenden Speisen und generellem Abfall übersäht, mit Insekten und komischen Verfärbungen die sich über Herd, Schrank und Boden hinzogen, deshalb also ließ ich die Küche eben Küche sein. Ich glaube ich habe bloß zweimal die Küche betreten, einmal zur ersten Begutachtung und das zweite Mal, als ich ein Messer suchte um mir ein Brötchen zu schmieren. Was ich jedoch in der Schublade vorfand, verdarb mir jeden Appetit, worauf ich einfach die Tür hinter mir zuzog und mich dem Besuch im Schlafzimmer zuwandte.

Das Brandenburger Tor habe ich nie zu Gesicht bekommen, ich wusste gar nicht was das war. Jetzt im Nachhinein betrachtet, kannte ich es natürlich schon, das steinerne Gebäude mit den vielen Säulen und irgendwas mit Engeln oder anderem Geflügel obendrauf, da wo ein großer Bogen Mauer drumherum gebaut war, was man manchmal auf Fotos oder Postkarten sah. Nur, wo das stand, das hätte ich nicht sagen können. Berlin war für mich die Stadt der Feuer und der angemalten Fassaden, nicht des Brandenburger Tores. Ebensowenig hatte ich eine Ahnung vom Reichstag. Allerdings hatte ich die Gedächtniskirche am Kurfürstendamm zu Gesicht bekommen. Nicht dass ich gewusst hätte was das war, aber sie gefiel mir ganz gut, nachdem mir meine Begleitung im Vorbeigehen erklärte, dass diese Kirche den Krieg gedenken sollte. Ich mochte die Tragik die von der Kirche ausging, wie sie da stand, ganz verrußt und der feinen Schnörkeln entledigt. Aber der Großteil des Westens der Stadt, vor allem um den Kudamm herum, erregte bei mir Widerwillen, und wir liefen dort nur vorbei, weil wir da irgendetwas, das ich schonwieder vergessen habe, zu erledigen hatten.

Bis auf diesen einmaligen Besuch des Kudamm, der umliegenden Gegend, und einige Ausrutscher nach Kreuzberg („Ihr kriegt und hier nicht raus! Das ist unsa Haus!“), habe ich den Osten der Stadt -also Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain- gar nie verlassen. Vielleicht weil der Osten der Stadt in den ersten Jahren nach der Wende viel aufregender war, oder jedenfalls kam es mir so vor, ich weiß es nicht sicher, ich habe den Vergleich nicht, aber es gab keinen Grund in den Westen zu verreisen, wenn ich ganze Nächte auf dem Helmholtzplatz in Gesellschaft und mit ein paar Schultheiss verbringen konnte, während oben, im niemals dunkel werdenden Himmel über Berlin, die paar Sterne, die hell genug waren, um die Dunstglocke und Lichter der Stadt zu überstrahlen, vor lauter Hasch und LSD, hin und her tänzelten. Wenn es regnete oder kalt war, dann ging man mit dem tagsüber erlotterten Geld in die Schliemannkneipe in der Schliemannstrasse —die heute, dem Zeitgeist gemäß Schliemanncafe heißt— und kaufte sich einen doppelten Whiskey für 2,50 Mark. Da gab es auch eine Kellnerin, die immer den Eindruck machte, als ob sie sich jedesmal über meinen Besuch freuen würde, und mir oft ungefragt einen Whiskey einschenkte, vor allem wenn ich verdattert dreinguckte. Jedoch, sobald ich mir ein paarmal meine Schüchternheit vom Leibe getrunken, und versucht hatte, ihr in einem Gespräch etwas näher zu kommen, entgegnete sie mir immer mit einer so abweisenden Kälte, dass ich gleich einen Schnaps nachgiessen musste, um sämtliche schockgefrorene Organe in meiner Brust wieder zum Auftauen zu bringen.

Meine zwanzig Mark, die ich bei meiner Ankunft in Berlin bei mir hatte, waren natürlich schnell aufgebraucht, auch wenn das Bier und das Leben billig war. Aber Geld spielte damals keine Rolle. Das war bloß ein Mittel, sich ein Getränk in der Kneipe zu leisten, oder sich was warmes zum Essen zu beschaffen. Das kalte Essen ließen wir im Supermarkt in tiefe Innentaschen der Jacke verschwinden. Ich hatte mir vorgenommen, kreativ zu sein beim Anschaffen von Geld, ich wollte auf dem Alexanderplatz Musik spielen, oder mit ein paar Freunden irgendetwas ausdenken, ein Theaterstück, oder sonst etwas mit Kunst. Aber mein Leben in Berlin ging in einer steilen Linie sehr schnell bergabwärts, und so fand ich mich schon nach wenigen Wochen, nachts auf dem Rosa-Luxemburg-Platz zurück, wir einen einsamen, betrunkenen Naziskinhead, der an der Straßenbahnhaltestelle sitzend auf seine Bahn gewartet hatte, die Brieftasche aus der Bomberjacke prügelten. Mit Schlägen wurde nicht gespart, man wusste genau, dass er das in der umgekehrten Situation auch machen würde. Jedenfalls redete man sich das ein. Dass wir dadurch nur zu noch mehr Hass und Verfeindung ankurbelten war uns egal, falls wir überhaupt daran dachten. Das Glatzenklatschen wurde zum regelrechten Sport. Ich befreundete mich mit einigen Hausbesetzern aus dem Friedrichshain, die gewisse Strassen kannten, wo sich die Nazis sicher wähnten und daher auch vereinzelt bewegten. Dort lauerten wir ihnen auf. So ähnlich muss sich wohl das Jagen auf wilde Tiere anfühlen, wie wir da springgestiefelte Bomberjacken durch Seitenstraßen, Hinterhöfe und Treppenhäuser hetzten. Ich muss heute noch an das Bild dieses einen Naziskins denken, dieses Bild, das mich noch lange verfolgte, wie er zusammengekauert in einer Ecke unter der Treppe saß, seinen Hände zitternd über den Kopf gelegt und wimmerte, dass er kein Nazi sei, sondern bloß ein Fußballfan, wir sollen ihm doch nichts tun. Aber wieso sollten wir ihm auch glauben, wenn wir gar nicht glauben wollten. Überdies begleitete uns zweifellos das Gefühl, etwas Gutes für die Welt zu tun. Vor allem sah ich mich in meinen Taten regelmäßig bestätigt, in einer Nacht beispielsweise, als ich nichtsahnend die Prenzlauer Allee überquerte, auf der anderen Straßenseite eine Gruppe Bomberjacken mit Hunden stehen sah, und ich dann hinter mir, laute, unverständliche Rufe hörte. Ich drehte mich daraufhin um, und sah an der Currywurstbude weitere Bomberjacken in meine Richtung blicken. Die Gruppe auf der anderen Straßenseite kam auf mich zu und die anderen legten ihre Currywurst beiseite und taten dasselbe. Von dem Moment an kann ich mich nur noch erinnern, dass ich lief und lief, und jedesmal wenn ich mich umdrehte, sah ich Hunde und große, glatzköpfige Männer mit schwingenden Knüppeln. Das Patrouillieren solcher Schlägertrupps in voller Ausrüstung war damals keine Seltenheit, aber es geschah nicht oft, dass sie bis zum Prenzlauer Berg vordrangen. Ich hatte Glück, dass es damals eine verlassene Tankstelle an der Ecke Wisbyer Str. / Prenzlauer Promenade gab, die völlig mit Gebüsch und hohem Unkraut zugewachsen war. Ich schmiss ich mich ins Gebüsch und blieb selbst von den Hunden unentdeckt, obwohl ich vor lauter Angst und Dreck am Leib, aus hundert Metern Entfernung gestunken haben musste.

Des Geldes wegen waren Nazis eine schlechte Beute. Höchstens auf deren Bankkarten gab es vielleicht Geld, aber das fanden wir nie heraus, obwohl wir so naiv waren und immer die Karten in den Automaten schoben und anhand von Vermerken auf Notizzetteln in der Brieftasche, glaubten, den Code entschlüsseln zu können. Alles was blieb, war, dass wir sabbernd vor dem Bankomatenbildschirm verschiedene Nummern eingaben, bis nach dem dritten Versuch die Karte gesperrt blieb.
Es war ein Hin und Her von jagen und gejagt werden, bis auf ein einziges Mal, bei dem es nach regelrechter Razzia aussah. Ich betrat ohne böse Vorahnung einen Dönerladen in der Dunckerstraße, und trippte völlig auf LSD vor mir her, setzte mich in eine Ecke und wartete auf das Essen, als ich plötzlich durch eine einfallende Fensterscheibe aus meinen Träumen gerissen wurde. Als ich meine Augen soweit hinbekommen hatte, dass sie halbwegs naturgetreue Farben und Formen widergeben konnten, sah ich, wie fünf Nazis mit langen Baseballkeulen das Lokal erstürmten.
Einer davon drosch gleich auf den Türken ein, der ganz vorne beim Fleischspieß mir mein Essen zubereitete und —obwohl er ein langes Messer in der Hand hielt— sich bloß duckte, und seine Arme, samt Messer zum Schutze über sich hielt. Trotz Drogen begriff ich sofort, was geschah, vielleicht war es eine Art Instinkt, den ich mir mit der Zeit angeeignet hatte und der bei Glatzköpfen sofort auf Automatismus schaltet (später als ich nach Holland zog und dort die Mode des glatzköpfigen Techno-Gabbers aufkam, brauchte ich Jahre, um nicht jedesmal einen Herzstillstand zu bekommen, wenn ich nachts auf Gruppen von denen stieß) mein Herz schien jedenfalls für einen Moment stillgestanden zu haben, ich glaube, ich schlotterte von oben bis unten und nahm schließlich die Beine in die Hand. Wie ich aus dem Laden herauskam — ich weiß es bis heute nicht. Ich lief einfach los, auf den Eingang zu, vor dem sich die glatzköpfigen Schränke aufgebaut hatten, und stand plötzlich unversehrt draußen vor dem Lokal. Ich rannte weiter in eine Kneipe in der Stargarder Straße, die ich manchmal besuchte, weil dort ein oft ein Mann saß, der mich für wenig Geld tätowieren wollte, und wo ich wusste, dass es dort Leute gab, denen die Nachricht von schlägernden Nazis in der Dunckerstraße sehr zu Herzen gehen würde. Viele der Anwesenden eilten daraufhin sofort zu Hilfe. Aber es waren schon weitaus mehr Leute alarmiert gewesen: ich konnte mehrere Gruppen an der Kreuzung mit der Dunckerstraße sehen, die sich in Richtung Süden bewegten. Wahrscheinlich war die Schlägerbande schon seit einiger Zeit unterwegs gewesen. Ich war mit mir selbst völlig überfordert nach diesem Zwischenfall. Das LSD spielte den ganzen Rest der Nacht grausame Spielchen mit mir, Verfolgungswahn, jeder Mensch den ich begegnete schien glatzköpfig zu sein, und selbst zurückgezogen in der Wohnung eines Freundes, bei dem ich angeklopft hatte weil ich mich nicht alleine nach Hause traute, erschien mir jedes Geräusch außerhalb des Hauses in Verbindung mit unmittelbar angreifenden Rechtsradikalen zu stehen.
Ich weiß nicht mehr was mit den Nazis in jener Nacht noch weiter geschehen ist. Ich hatte nie mehr nachgefragt weil es mich eine ganze Zeit lang nicht interessierte. Mein Horrortrip in jener Nacht hallte noch lange nach.
Es war das letzte Mal, dass ich LSD genommen habe.

Tagsüber saßen wir auf dem Brunnen vor dem Kaufhof am Alexanderplatz herum -dort wo ich ursprünglich eigentlich Musik machen wollte, wozu aber inzwischen jegliche Motivation fehlte- und schnorrten die Leute um Geld an. Der Plan, mich kreativ durchs Leben zu schlagen, war schon lange missglückt, bevor ich es überhaupt ahnte, wie das halt so ist, wenn man sich treiben lässt und keinerlei Antrieb hat.
Inzwischen war ich zusammen mit einem Freund, der sich bei mir in der Marienburger Straße einquartiert hatte, in eine andere Wohnung an der Prenzlauer Promenade umgezogen, das Haus neben der rettenden Tankstelle damals, eine Einzimmerwohnung die wieder von einem Bekannten, der für unbestimmte Zeit verreist war, hinterlassen wurde. In kurzer Zeit wohnten wir in jener Wohnung zu siebt oder acht, zusätzlich einiger Hunde. Das waren keine Freunde, sondern bloß irgendwelche Bekannte, die bei uns hängengeblieben waren, weil wir uns wenigstens darum kümmerten, dass wir Trinken, Kippen und Hasch in Hause hatten. Das macht Freunde. Der Eimer am Morgen ließ sie für den Rest des Tages schweigen und deshalb bemerkte ich sie auch nicht weiter, wodurch es mir auch nicht auffiel, dass ich mich daran hätte stören können. Bei mir vernebelte der Eimer am Morgen und der Eimer zu Mittag und alle Joints dazwischen lediglich meinen Tatendrang. Der Tag fing immer später an, und im Herbst wurden die Tage, sodass es plötzlich auch keine Möglichkeit mehr gab, sich beim Supermarkt ein paar Marken zu erschnorren, weil alles schon geschlossen war.

Im Friedrichshain holte ich mir dann die Schleppscheiße. Eine Krankheit von der ich bis heute noch nicht ganz genau weiß woher sie kommt und was sie nun genau verursacht. Es hat irgendwas mit Vitaminmangel zu tun, scheint aber auch ansteckend zu sein. Weil Mädchen mit Schleppscheiße, die küsste man nicht. Dass es auch ohne küssen ging, merkte ich, nachdem ich in einer wüsten Bruchbude die Nacht neben einer jungen Frau verbrachte, die mich zwar nicht weiter interessierte, mich aber vor einer Nacht, auf der mittlerweile kalt gewordenen Straße, verschonte und mich mit ins Bett nahm. Einige Tage darauf bekam ich an meinen Handgelenken Eiterflecken. Ich hatte da sowieso schon kleine Wunden, die ich von Mercedessternen bekam, die wir abbrachen, den inneren Stern herausschlugen und den übriggeblienen Kreis als Armreifen trugen. Meine Haut reagiert allergisch auf Mercedessterne, eine Reaktion auf die ich damals mächtig stolz war. Heute nennt sich das ganz langweilig: Nickelallergie. Und da müssen sich wohl die Schleppscheißviren oder -Bakterien oder welche Monster auch immer, sich eingenistet haben. Die Wunden wurden schnell größer, bald waren auch meine anderen Mitbewohner davon befallen.
Im Friedrichshain gab es damals eine Art religiöses Jugendhaus, in dem man Kickern konnte und wo sie einen auch wegen Schleppscheiße versorgten.
Man behandelte mich und ich nahm dort auch meine erste Berliner Dusche. Und auch die Letzte.

Immerhin gab es in diesem abwärtsführenden Schacht einen kurzen Lichtblick. Das war auf dem Rückweg aus dem Friedrichshain, als ich von einer Hardcoreparty in einem militanten, besetzten Haus in der Kinzigerstraße, die K9, in das ich vielleicht bald einziehen konnte, zurückkehrte, und ich mich mit zwei jungen Punketten und einem verwilderten Kerl von der Party in der S-Bahn vorfand. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, warum wir zusammen in der Bahn saßen. Vielleicht weil ich das eine Mädchen hübsch fand und ich mich in irgendetwas reingeredet hatte. Es geschah dann etwas, mit Polizei oderso, und wenn ich versuche die Geschichte zu rekonstruieren, dann waren es vielleicht auch bloß uniformierte Kontrolleure der BVG. Es entstand jedenfalls verbaler Streit, dann hielt die Bahn überraschend schnell im nächsten Bahnhof, und wir stürmten Hals über Kopf aus der Bahn heraus. Der verwilderte Kerl wurde festgenommen und wie sich in Nachhinein herausstellte, saß er anschließend 48 Stunden in Untersuchungshaft. Außerhalb des Bahnhofes, in Sicherheit, lieferten sich die beiden Punketten eine aufgeregte Diskussion, eine davon schien mit dem Kerl liiert zu sein und machte sich große Sorgen, vor allem weil sie jetzt keinen Schlafplatz hatten, sie kamen ja aus Bayern und Hessen und wussten deshalb nicht wohin. Ich bot ihnen einen Schlafplatz an, aber die Liierte wollte davon nichts wissen. Die andere hingegen, glücklicherweise jene die ich hübsch fand, schien einem Bett sehr zugeneigt zu sein. Die Diskussion der beiden artete bald zum Streit aus und schließlich ging die Hübsche mit mir mit. Das war der Lichtblick. Dass sie die restlichen Wochen noch bei mir blieb, hätte eigentlich auch ein Lichtblick bleiben sollen, wurde aber bloß ein trüber Abschnitt meines abwärtsfließenden Flusses. Sie war faul, saß den ganzen Tag mit den anderen bei mir im Zimmer herum, und langsam assimilierte auch ich mich, rauchte den Eimer um zu schweigen, raffte mich aber wenigstens dazu auf, fast jeden Dienstag und Donnerstag zur Suppenküche für Obdachlose in der Wollankstraße zu fahren, damit ich wenigstens noch was warmes zwischen die Kiefer bekam. Aus welchem Grund auch immer, es war immer noch genügend Bier zuhause, damit man einen betäubenden Rauschpegel aufrecht erhalten konnte, weil das ganze Kiffen nur die Nerven aufrauhte und zu lästigen Streitereien führte, bei denen sich jeder im Recht fühlte, jedoch nie richtig etwas ausgeredet wurde, sondern sich bloß tagelang anknurrte, weil man für tiefere Versöhnungsgespräche einfach zu abgestorben war. Mit der Zeit verschwanden die meisten der einquartierten Leute bei mir, weil sich niemand mehr um das Trinken der anderen kümmerte, sondern alles eine trübe Gesellschaft geworden war.

Irgendwann wurde tiefer Herbst, die Wohnung kalt und mir fiel auf Grund der fehlenden Heizung nichts ein, was ich dagegen unternehmen konnte. Auch konnte ich mich nicht dazu aufraffen, in eine andere Wohnung zu ziehen. Wirkliche soziale Kontakte pflegte ich schon lange keine mehr, die Leute um mir herum kamen mir vor wie Pflanzen mit denen man sich dauernd streitet, weil Streit vielleicht noch das einzige Zeichen war, das einem das Gefühl gab, noch am Leben zu sein. Schließlich, wurde ich nach mehrmaligem Frieren und mangelnder Nahrungsaufnahme derart Krank, dass ich mich ein letztes Mal aufraffte und ohne mich von jemanden zu verabschieden in die S-Bahn stieg, bis Wannsee fuhr, und mich dort an die Autobahn stellte.
Keinen von denen habe ich jemals wiedergesehen und auch sonst ist mir niemand geblieben in jener Stadt.

Mit diesem kurzen Vorwort wollte ich eigentlich nur sagen, dass ich am nächsten Samstag in der früh, nach Berlin fahre, wo ich meine Schwester treffen werde, die extra aus Wien anreist um ein paar Biere zu trinken, wie ich schon vor einigen Wochen berichtete. Und ich werde diesmal das Brandenburger Tor besichtigen. Ich freue mich sehr.

in venedig.

Es ist schon lange her. Ich war noch nicht einmal achtzehn glaube ich. Oder ich war es gerade geworden. Schon damals zog es mich jedes Jahr wieder nach Venedig. Zum Fasching. Bloeder haette es natuerlich nicht sein koennen. Alsob ich jedes Jahr nach Muenchen zum Oktoberfest gefahren waere. Aber damals faszinierte mich Venedig zu Fasching immer wieder. Ich war zwei oder drei Jahre vorher zum ersten Mal da gewesen, irgendeine Saufgeschichte, weil ich jemanden aus Venedig kennengelernt hatte, und ich mir die Stadt mal angucken wollte. Man muss ja was von der Welt gesehen haben, um mitreden zu koennen, und von Bozen aus, war das ja nur eine 4 stuendige Zugfahrt. Aus purem Zufall war ich in der Woche vor Fasching da, hing einige Tage herum, das heisst, ich irrte eigentlich mehr, als dass ich hing, und ploetzlich merkte ich, dass die Stadt innerhalb kuerzester Zeit, eine wahre Metamorphose durchgelaufen war. Ich war ja schon immer etwas langsam und merkte daher nur, dass ploetzlich, zwischen einem Augenschlag und dem anderen, aus der ausgestorbenen Lagunenstadt eine richtig ueberfuellte Metropole mit tausenden und tausenden Menschen, aus allen Laendern, geworden war. Und nach dieser Woche besuchte ich Venedig jedes Jahr zu dieser Zeit. Ich blieb meistens drei Wochen, schaute zu wie die Stadt sich fuellte, und sich nachher wieder entleerte. Waehrend ich durch die Stadt irrte.

Ich war in jenem dritten Jahr mit Juergen dort. Fuer unsere rebellierenden Punkerherzen gab es den carnevALtro, den „anderen Fasching“, ein Faschingsfestival in einem kleinen Arbeiterviertel, noerdlich der Piazza San Marco. Wir schnorrten uns durch die Tage, klauten Wein aus dem Supermarkt und tranken eben, weil das zum gluecklichsein dazugehoerte. Die Nacht verbrachten wir meistens in einer verlassenen Druckerei im selbigen Viertel, die uns ein Junkie mal gezeigt hatte. Er meinte, da gaebe es zuviele Chemikalien im Boden, da blieben die Ratten fern. Scheinbar schliefen dort oefters Leute. Es gab Matratzen und Decken. Spaeter wurden wir mehrere Male von einer amerikanischen Austauschstudentin in deren Schlafsaal geschmuggelt. Inmitten einem dutzend anderer jungen Frauen. Ich wundere mich heute noch, dass das alles so ging wie es ging.

Alessandra lernte ich am Rosenmontag kennen. Eigentlich war ich schon viel zu betrunken und weggetreten von allen berauschenden Mitteln, die mir ueber den Weg gelaufen waren, oder mir in den Mund geflogen kamen, um einer Frau die Liebe zu erklaeren, oder wenigstens um einen lieblichen Blick erwidern zu koennen. Und trotzdem gab es einen kleinen, hellen Moment in dieser sumpfigen Nacht. Ich brauchte tausend Lire, fuer einen grossen Becher Rotwein, und lief quer ueber den Platz, da liefen wir uns genau entgegen und blieben voreinander stehen. Um ehrlich zu sein kann ich mich gar nicht mal erinnern wie sie aussah. Ich glaube sie war sehr huebsch. Was mich aber in dem Moment wohl am meisten beruehrte, war dass sie mich bloss anlaechelte und einfach stehenblieb. Sie machte gar keine Anstalten auszuweichen und ihren Weg zu verfolgen, sondern sie blieb einfach stehen. Und laechelte. Ich will von Glueck reden, wenn ich sage dass ich mich auch in betrunkenem Zustand ziemlich gut halten kann, was meine Koerperhaltung und meine schwere Zunge betrifft. Ich machte deshalb wohl einen besseren Eindruck als mir tatsaechlich war. Ueberdies bemuehte ich mich sehr, klar dreinzuschauen. Es vergingen zehn Sekunden waehrend wir da einander so gegenueber standen. Der Dramaturgie wegen haette ich da noch gerne fuenf Minuten draufgelegt, waehrend irgendein seifiger Soundtrack im Hintergrund liefe, aber ich war mir bewusst davon, dass dies kein Film war, und es auch niemanden gab, der uns mit traenenden Augen zusah, sodass ich etwas machen musste, weil sie mir sonst entgleiten wuerde. Ueberdies ist es mir aeusserst zuwider als Apathe angesehen zu werden.
„Rauchst du?“ fragte ich, ohne den Schwerpunkt auf Haschisch festzulegen. Sie bejate. So nahm ich sie bei der Hand und fuehrte sie zu meinem Freund Juergen, der ebenso betrunken und weggetreten auf einer Art Brunnen sass und die Umgebung in seinem Inneren betrachtete.
„Juergen, raus mit dem Zeug. Jetzt rauchen wir“. Juergen guckte Alessandra an und erkannte gleich den Ernst der Lage, zog deshalb sein Rauschgift hervor und fing sofort mit der Arbeit an.
Sie hatte lange, gewellte Haare. Ihre Augen strahlten dauernd. Ob das von Drogen kam, oder ob das bloss ihre Froehlichkeit war, weiss ich nicht. Sie verdiente in Venedig etwas Geld, indem sie, zusammen mit ihrer Schwester, uebers Wochenende, Touristen auf dem Markusplatz, deren Geischter bemalte. Zu Fasching wollte jeder angemalt sein. Und vor allem die Leute aus den fernen Laendern. Sie stoerte Juergen beim drehen des Joints, und strich ihm Rot und Gruen und Gelb ins Gesicht. Er liess es ueber sich ergehen.

Ich wuerde noch gerne ueber den Rest des Abends erzaehlen. Wie wir suedtiroler Freunde trafen, durch die Gassen irrten, noch mehr tranken und uns beim Tanzen versuchten vor der eisigen Kaelte zu schuetzen, jedoch muss ich gestehen, dass ich nicht viel mehr darueber zu berichten weiss, als ich hier in dieser Zeile geschrieben habe. Alles liegt in einer nebligen Alkoholwolke irgendwo in meinem Gedaechtnis verborgen. Ich weiss nur noch, dass sie irgendwann abgeholt wurde und gehen musste, zurueck nach Padova, wo sie wohnte. Wir hatten uns nicht gekuesst, nicht einmal zum Abschied, das waere zuviel koerperliche Naehe auf einmal gewesen. Ueberdies glaube ich, waere ich vom Knutschen schwindelig geworden, und haette mich uebergeben muessen. Nein, es war bloss eine liebevolle Umarmung. Und dann ging sie.

Ich hatte noch genuegend Verstand zu wissen, dass ich am naechsten Tag nach Trient, zur Militaermusterung musste. Ein Fernbleiben von der Musterung kam Desertation gleich. Ich war auf dem Platz, bei offenem Feuer, in Gesellschaft meiner Freunde eingeschlafen, wachte nach zwei oderso Stunden Schlaf auf und marschierte voellig automatisiert zum Bahnhof, stieg in den Zug Richtung Brenner, verschanzte mich auf der Toilette, und wachte rechtzeitig in Trient auf. Die Militaermusterung ist eine eigene Geschichte, die ich, wenn ueberhaupt, ein ander Mal erzaehlen sollte, und nicht hier, wo es letztendlich ja um die Liebe geht. Ich brachte den muehsamen Tag auf der Kaserne, mit meiner restlichen Vodkaflasche um. Trotz der Betaeubung und des Schlafentzuges war ich ueber alle Wolken hin verliebt. Ich wusste zwar nur dass sie Alessandra hiess, und so ungefaehr wie sie aussah, aber die paar kurzen Stunden die wir miteinander verbracht hatten, hatten mein Gemuet voellig im Griff. So ging der Tag vorbei, bis uns der Soldat am Ende des Nachmittags verkuendete, dass wir am morgigen Mittwoch nicht kommen braeuchten, da Aschermittwoch ein Feiertag war. Gleich realisierte ich, dass ich den letzten Faschingsabend also wieder in Venedig verbringen konnte. Ich musste Alessandra einfach wieder sehen. Auch wenn es bisher nur eine spontante verliebtheit gewesen ist, eine verliebtheit die dich im Prinzip auf jeder Party ueberfallen kann, so kam es mir doch sehr wichtig vor. Vielleicht nur, weil ich verliebt war, mag sein, da dreht einem der Kopf nur noch um diese eine Person, aber trotzdem sehnte ich mich danach sie schnell wieder zu sehen. Und darin konnte mich niemand aufhalten, Ich lief eine halbe Stunde zum Bahnhof, kehrte unterwegs in einen Supermarkt ein, steckte mir eine Whiskeyflasche in die Innentasche meiner Jacke, und setzte mich im Zug ins Klo.
Mit etwas Verspaetung, weil ich in Verona ohne Fahrkarte erwischt wurde und man mich aus dem Zug schmiss, kam ich am Bahnhof Santa Lucia in Venedig an. Ich lief ziemlich zielsicher (nur zweimal verlaufen) zum campo Santa Maria Formosa, dem Platz wo der carnevALtro vor sich hin tobte. Es tummelten sich da tausende Leute herum, und ich hielt alle Augen und Poren offen. Wir mussten uns irgendwie gerochen haben. Zwei Minuten nach meiner Ankunft, standen Alessandra und ich einander gegenueber. Auch sie hatte mich gesucht.
Die Freude war gross. Sie sprang mir in die Arme, dabei schlug meine versteckte Whikeyflasche ganz ungluecklich gegen meine Rippen. Aber was ist das bisschen Schmerz schon gegen ein unendliches Gluecksgefuehl. Ich war geruehrt. Im Nachhinein finde ich es witzig, mit welcher Selbstverstaendlichkeit wir uns ploetzlich an den Haenden hielten und herumtaenzelten wie zwei kleine Kinder, waehrend wir uns in der vorigen Nacht kaum beruehrt hatten, ja nichtmal zum Abschied einander auf die Lippen gekuesst. Wir tranken den Whiskey, der uns in der eisigen Nacht waermte, liefen zur Buehne und tanzten zur Band. Sie war unbeschwert, sagte eigentlich nicht viel. Sie schien die ganze Zeit bloss gluecklich. Vielleicht wegen mir, vielleicht aber auch bloss in sich drin. Sie zog mich hinter sich her, brachte mich zu ihren Freunden und stellte mich ihnen vor. Ich war voellig ueberfordert mit sovielen Leuten, deren Namen ich mir niemals merken konnte. Nur ihre aeltere Schwester blieb mir im Gedaechtnis verankert, weil die mich ein wenig genervt anguckte und spaeter am Abend, Sachen sagte, wie „Und wegen sowas wie dich hat sie uns alle nach Venedig gebracht“. Irgendwie als Witz ruebergebracht, aber der Ernst des Satzes war mir keineswegs entgangen. Erst spaeter kam ich drauf, dass Alessandra viel zu jung war um die Erlaubnis ihrer Eltern zu bekommen, alleine nach Venedig zu fahren, und deshalb die Schwester mitkommen musste, die wiederum ihren Freund mitnahm, der dann gleich seine ganze Clique hinter sich hergezogen hatte. Die Schwester mochte mich nicht wirklich. Ich war nun auch bestimmt kein Vorzeigeliebhaber. Ungebildet, schmutzig, geldlos, und auch nicht beabsichtigt irgendwer zu werden. Die paar Gespraeche die ich mit der Schwester fuehrte, drehten sich auch nur um diese paar Themen, und wie das so manchmal passiert, gibt man plotzlich ausschliesslich falsche Antworten.
Alessandra kuemmerte das alles nicht. Und mich daher auch nicht. Wir geisterten zugeraucht und zugetrunken durch eine filmreife Kulisse. Durch ausgestorbene Viertel wo niemals ein Tourist hinfinden wuerde, ueber kleine Bruecken und Treppen. In einer dunklen Gasse die im Wasser endete, sassen wir am Bordstein und liessen unsere Fuesse ueber den Kanal baumeln. Ueberall nur leises plaetschern der kleinen Wellen an den Haeuserfassaden. Sterne, die sich ueberraschend klar im dreckigen Lagunenwasser spiegelten und der Mond der sich ab und zu in den engen Gassen blicken liess. Sie erzaehlte von sich, dass sie studieren wollte, die Welt kennenlernen. Frei sein, und all die Dinge von denen man traeumt. Eine Ratte schwamm durch das Wasser und schlug kleine Wellen. Wir froren und deshalb rannten wir weiter. Wir hatten uns verirrt, und das war gut so. Also rannten wir weiter.

Ganz unerwartet fanden wir auch wieder zurueck zu ihren Freunden. Es war schon sehr spaet geworden und dementsprechend genervt war auch ihre Schwester. Sie hatte einen Schlafplatz fuer uns geregelt. Daran hatten wir gar nicht gedacht. Wir fuhren mit einer Faehre zu einer kleineren Insel, die zu entfernt war um mit Bruecken verbunden zu sein. Es war eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern. Alessandras Schwester und ihr Freund gingen in das kleine Zimmer und wir beide wurden in ein anderes Zimmer verwiesen, wo ein Mann und eine Frau im Bett lagen, die kurz aufstanden und das Gaestebett auseinander nahmen. Ich war sehr dankbar fuer die Schlafgelegenheit, wir waren bis auf die Zehen durchgefroren, glaube ich. Alessandra hatte sich innerhalb weniger Augenblicke ins Bett verkrochen, waehrend ich wohl fuenf Minuten brauchte, mich aus meinen Kleidern zu schaelen. Wie lange hatte ich wohl nicht mehr meine Socken ausgezogen, wuerde ich heutzutage denken. Komischerweise zaehlte das frueher alles nicht. Ich stieg, ganz pruede, mit Unterhose bekleidet, ins Bett und wurde unmittelbar von ihren Armen umschlungen. Sie hingegen war splitternackt. In meinem Kopf spielte ein wilder Halbtraum. Ich war muede, betrunken, hatte Unmengen Grass geraucht, und war durch und durch in Liebe ertrunken. Mit geschlossenen Augen sah ich sie vor mir, ein Kriegsfilm lief im Hintergrund meines Kopfes ab, wie sie extatisch die Beine um mich klammerte. Ich konnte sie nur noch fuehlen. Es kam mir vor wie eine Unendlichkeit, da auf dem Schlachtfeld, wir beide, im Schutz eines umgefallenen Zeltes. Irgendwann kamen wir beide, inmitten des Kriegsschauplatzes, und starben gemeinsam in einen tiefen, langen Schlaf hinein.
Am naechsten Morgen wurden wir von der Schwester geweckt. Alle anderen hatten schon gefruehstueckt, und ploetzlich herrschte Aufbruchsstimmung. Die Schwester musste nach Padova und Alessandra musste auf alle Faelle mit. Alles ging schnell. Schlaftrunken nahmen wir die Faehre, direkt zum Bahnhof. Ich kam mit. Padova lag auf meinen Weg nach Bozen und meine Zeit in Venedig war jetzt vorueber. Wir redeten nicht viel, sondern sassen uns im Zug gegenueber und waren einfach gluecklich, wie man das halt so ist. Sie sagte, sie wolle mich wiedersehen, und das wollte ich auf jeden Fall auch. Ich hatte bloss keine Adresse die ich ihr geben konnte, deshalb gab sie mir ein Passfoto von sichselbst und schrieb mir auf die Hinterseite ihre Anschrift auf. Padova kam viel zu schnell, und zum Abschied sagte sie noch, dass sie sich auf Briefe freuen wuerde.

Am naechsten Tag sass ich wieder bei der Musterung in Trient. Den ganzen Tag hielt ich ihr Foto in der Hand. Und damit wollte ich mir auch die oeden Stunden in der Kaserne verschoenern. Aber ich fand das Foto ploetzlich nicht wieder.