[…]

Meckpomm. Mein Kollege hat mich zu sich eingeladen, in seinen Bungalow im Norden, Resturlaub abbummeln, mal raus, ich wollte eh weg, bisschen schreiben, ich dachte an Templin, aber dann hat er mir seinen Bungalow angeboten, unter Männern, wir sitzen in der Frühlingssone, Abends, morgens, mittags, trinken Kaffee, trinken Bier, Abends schauen wir Fussball, reden von den Frauen, gehen mit dem Hund in den Wald, gehen runter zum Fluss, schauen ins Wasser, tote Fische treiben darin, die Vögel zwitschern.

[tagebuchbloggen: 2.12.]

Die Handschuhe sind super, das Fahrradfahren ist wieder angenehm, morgen muss ich früh raus, meine Schwester hat heute Nacht zwei Stunden geschlafen, zum Schlafen eignen sich diese neuartigen Pennstätten in den Hörsälen also doch nicht, sie liegt jetzt nebenan und schläft, K hat gerade Pasta gegessen und ich einen Salat, ich habe heute seit längerem wieder einmal Texte hervorgeholt, nur ein bisschen drübergeschaut, ab nächster Woche werde ich wieder mehr Zeit dafür haben, und gleich gehe ich ins Bett, nehme K mit und lese dann doch »Es« vor, so zum Schlafengehen und um ein paar böse Bilder mit in den Schlaf zu nehmen, natoll, warum mach ich das eigentlich.

der Aufstand der Pilze (I)

Leo war Hobbybotaniker und kam sich meistens ziemlich bescheuert vor. Aber dies war weiters nie besonders schlimm, da er im Allgemeinen eine grandiose Persönlichkeit war. Ich muss allerdings hinzufügen, dass die allerwenigsten Menschen seine Persönlichkeit zu schätzen wussten, um genau zu sein, kannte ich niemanden ausser mir, der diese Meinung teilte, vor allem jene Menschen nicht, die gezwungenermassen mit ihm zu tun hatten, seine Mutter beispielsweise, oder sein Vater, auch wenn Letzterer es erfolgreich geschafft hatte ihn zu ignorieren, oder seine Sorgen wenigstens ausschliesslich auf die Pflege seines Vorgartens zu lenken. Er war es, der Leo einige Jahre bevor wir uns kennenlernten aus dem elterlichen Haus geworfen hatte und nun Leos Miete bezahlte. Eine weitere Rechnung halt, neben Strom, Gas, Zeitung. Aber wohl allemal besser als tagtäglich seiner missratenem Hinterlassenschaft in die Augen sehen zu müssen.
Leo hatte zweifellos seine Schwächen, hauptsächlich sozialer Natur, er war halt ein wenig, wie soll ich sagen, eigenbrötlerisch. Zu stören schien ihn sein mangelndes soziales Leben jedoch nie, genauso wenig kümmerte ihn sein nicht vorhandenes Geld. Er lebte wie eine Sparflamme, wenn er ass, dann lustlos, wenn er trank, dann nur weil sein Körper alle möglichen Alarmglocken schlug, und reden, ach, das war immer ein bisschen schwierig. Und meist sowieso übeflüssig. Was nicht heisst, dass er nicht sprach, nein ganz im Gegenteil, wenn ihn die Materie interessierte, dann sprach pausenlos, aber es fiel ihm schwer sich für etwas anderes zu begeistern als seine grosse Leidenschaft: die etwas merkwürdige, aber meinetwegen wunderbare Welt der Pilze.
Pilze waren sein ganzes Leben, er konnte stundelang pelzigen Schimmelstrukturen auf Äpfeln beim Wachsen zusehen, als würde er jede einzelne Spore beim Namen kennen, im Laden steckte er verschimmelte Erdbeeren einfach in die Hosentasche und lief weiter, er hatte sogar ein kleines Beet zuhause in der Wohnung, in dem er Champignons züchtete.
Wären damals Computer schon so verbreitet gewesen wie sie es heute sind, dann wäre er ein gewöhnlicher Nerd gewesen, aber der Draht zum Silizium blieb ihm, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, schlichtweg verwehrt. Eine verpasste Chance. Und so nahm das Schicksal meines Freundes seinen dramatischen Lauf.

Er erzählte mir, dass alles mit einem Kombuchapilz angefangen hatte. Kombucha sind die Dinger die aus Thee mit Zucker gesunden Apfelessig ausscheiden. Er nannten ihn Peter, ein mittlerweile mehrere Zentimeter dicker, ledergleicher Lappen, der in süssem Theewasser ab und zu fröhlich vor sich hin blubberte. Mit den Kindern die Peter abwarf, experimentierte er, versuchte es mit grünem Thee, mit Salz, mit Cola, Bier, Schnaps. Die allermeisten starben, aber es gelang ihm, ziemlich genau die Schmerzgrenzen des Pilzes zu erkunden. Später war ihm alles egal, er liess den Pilz mit schädlichen Schimmeln befallen, wagte bizarre Kreuzungen mit Holzpilzsporen, oder schnitt ihn in Stücke. Jedenfalls schien es mir als sei es ihm egal. Später stellte sich allerdings heraus, dass alles zu einem grösseren Plan zu gehören schien, an dem er schon seit Langem arbeitete.

Seine Mutter bekam irgendwann Wind von meiner Freundschaft zu Leo und hatte mich ausfindig gemacht. Ohne Ankündigung stand sie plötzlich an meiner Wohnungstür und wollte mit mir reden. Über ihren Sohn. Ich sei ja sein erster Freund, ob mir nicht etwas einfallen könne, wie aus Leo doch noch etwas werden würde, ob ich nicht vielleicht jemanden kenne, der ihn einstellen würde, sei es auch nur in einer Fabrik, zum Käseschneiden, vielleicht würde er dadurch aufblühen, den Sinn für ein geregeltes Leben entwickeln, Verantwortung lernen und zu schätzen wissen, ach er sei ja so schwierig und sträube sich gegen alles, vielleicht würde er ja auf mich hören, wäre das nicht was? Ich weiss noch, dass ich lange einfach so dasass und tat, als würde ich angestrengt über Leos Lebenslplanung nachdenken, aber ich wusste, dass das unmöglich war, ich kannte ihn damals schon lange und gut genug, überdies lag halb unter dem Sofa, neben ihrem rechten Schuh, ein gebrauchtes Kondom, das mich völlig nervös machte. Leo sei ja so intelligent, sagte sie, und ganz drin in seinem Herzen auch noch ein wirklich guter Junge. Sie habe ihn ja geboren, sie müssen das ja wissen.

„Pilze sind revolutionäre Gewächse“ sagte Leo hingegen immer, wenn man seine Leidenschaft erwähnte. Egal ob man nun abfällig über den Geruch aus seinem Kühlschrank klagte oder den neuen Grünstich seines Joghurtschimmels bestaunte. Pilze waren jederzeit revolutionär. Und kein Anlass war ihm zu schade, dies zu erwähnen. Wenn er über seine Pilze sprach, blühte er richtig auf. Seine Augen bekamen einen hellen, fröhlichen Glanz, wobei immer ein leichter Schimmer Wahnsinn aufflackerte.
Der geneigte Leser wird sich natürlich fragen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass zwischen Leo und mir eine Freundschaft entstanden war, oder noch verwunderlicher mag gar sein, wie es dazu kam, mit Leo ins Gespräch zu kommen. Nichts war leichter als das, wenn man das richtige Thema als Anlass hat.
Ich hatte giftige Pilze zu mir genommen. Nicht die giftigen von denen man Atem- oder Herzstillstand bekommt, sondern die Pilze die im Kopf ungeahnte Pforten zu Paradiesen und finsteren Kellerverliesen öffnen. In meinen jungen Jahren dachte immer, mich reichlich damit auszukennen, dass ich immer die mit dem breitesten Farbenspektrum erwischte, doch auch bei mir kam es vor, dass ich ab und zu einfach Mist pflückte. Und so geschah es, dass ich an jenem Abend, statt fröhlich vor mich hin zu virbrieren mit einem grausigen und hämmernden Schädel auf einer PKK Solidaritätsparty, mit Schnaps, den Presslufthammer in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen versuchte. Wie ich auf jene Party gelangen war, weiss ich nicht mehr, aber Leo hatte diffuse revolutionäre Neigungen, und bei einem seiner seltenen Rundgänge ausserhalb seiner Wohnung, hatte ihn das Interesse für einen gewissen Vortrag über die PKK, der vor der Party stattgefunden hatte, dorthin gezogen. Er stand an der Bar, mit seinem typischen, verwirrten Blick und sah mich an, während ich ausser Atem, mit verdrehten Augen mich an den Tresen schmiss und meinen Focus auf den Schnapsbestand richtete. Die Dame hinter der Bar beachtete mich erst nicht und so sprach ich Leo an, er solle mir verdammtnochmal ein Mittel gegen Pilzkater empfehlen.
Das Stichwort „Pilze“ war gefallen – und wir wurden Freunde.

Die Freundschaft beruhte anfänglich natürlich nur darauf, dass er in mir einen Kenner gefunden zu haben glaubte, jemand der ihm Psilocybinpilze besorgen konnte. Narrische Schwammerln, nannte er sie. Doch alsbald entwickelte sich eine Art Zuneigung zwischen uns, die lediglich darauf beruhte, dass wir uns über Pilze unterhielten. Das Thema gibt ja durchaus was her, und für mich war das alles neu. Dass Psilos mit Obstschimmel verwandt waren, konnte mich wirklich begeistern. Er entwickelte sogar eine gewisse Empathie, die sich dadurch äusserte, dass er immer zwei oder drei Flaschen Bier für mich im Kühlschrank stehen hatte. Alkohol trank er nie. Diese Aufmerksamkeit war auch die Einzige, aber es rührte mich, vor allem in der späteren Phase unserer Freundschaft, als ich merkte, dass diese kleine Aufmerksamkeit wirklich ungewöhnlich für ihn war.

Seine Wohnung war ein feuchter und ungesunder Ort. Dreissig morsche Quadratmeter in einem schattigen Hinterhof. Er züchtete dort hauptsächlich Speiseschimmel, da er mit diesen die schnellsten Resultate erzielte. Das läge jedoch hauptsächlich am sich leicht zersetzenden Nährboden, nicht am Schimmel selbst, klärte er mich auf. Schimmel auf Speisen sei auch die unwählerischste Sorte. So habe er in relativ kurzer Zeit fertiggebracht, gemeinen Brotschimmel mit Lacto-Schimmel, der Milchprodukte bevorzugt, zu kreuzen. Er sei verwundert gewesen, wie einfach der Brotschimmel sich an die neue Umgebung angepasst hatte, durch schlichtes Kreieren eines konstant temperiertes Miniatur-Biotopes – im Joghurtbecher! Er unterstrich die Wichtigkeit dieses Versuches mit der Begründung, dass beide Schimmelsorten vollkommen unterschiedliche klimatische Vorzüge besässen. Mit anderen, langsamer wachsenden Pilzsorten wäre ihm das freilich nicht so einfach geglückt, da die Generationen der Sporen sich nicht schnell genug an die Nahrungsbedingungen anpassen wollten, aber er arbeitete zur Zeit unseres Kennenlernens an einer Methode diese sogenannte Bestäubung zu beschleunigen. Erst später entwickelte er die eigentlich simplere Methode, die Nährböden erst zu mischen, und nach und nach den Einen der beiden Komponenten verringern.

Das war alles gut und recht, und auch sehr interessant. Das Besondere, oder gar revolutionäre an Pilzen wollte mir nie so recht einleuchten. Zumal die Zuchtmethoden mir nicht sonderlich raffiniert vorkamen, sondern eher der ganz gewöhnlichen Zucht von Früchten glich, wenn auch unter anderen Umständen. Immer wenn ich meine Bedenken, oder nennen wir es besser mein Unverständnis, dazu äusserte, hüllte er sich in geheimnisvolles Schweigen. Meistens nahm er dabei einen seiner kleinen Zuchtbehälter zur Hand, schaute vertieft in die sich darin befindende Flora (Leo hätte sich an dieser Stelle geärgert, und gesagt, dass Pilze keine Pflanzen seien, sondern den Tieren viel näher stünden), und brummte mantraartig Sätze wie: „Mein Freund, mein Freund, Grosses steht uns noch bevor, mein Freund.“

Hätte ich damals gewusst, was uns, oder ihm, bevorstand, dann hätte ich ihn womöglich am Kragen gepackt und ihn mit dem Kopf ins Wasser gesteckt, aber was sollte das bisschen Pilz da schon bedeuten, gab es bei mir zuhause ja auch, und doch, hatte er zu jener Zeit schon das Ziel klar vor Augen, es war lediglich eine Frage der Zeit, bis er die erforderliche Technik dazu entwickelt hatte. Aber ich greife vor.

Leo besass durchaus eine künstlerische Ader, der er jedoch weiter keine Achtung schenkte. Talent will ich es nicht nennen, aber durchaus Verständnis, für die Kunst. Einmal traf ich ihn bei eifrigem Gepinsel in seinem Badezimmer vor. Für den Schimmel in seiner Dusche hatte er einen optimierten Nährboden entwickelt, mit dem er jetzt sozusagen Wege von der verschimmelten Ecke, in geschwungenen Bögen über die rechte Badezimmerwand malte. Dieser Nährboden war lediglich eine etwas klebrige, durchsichtige Flüssigkeit, sie liess mich an Kleisterwasser denken, und roch ein wenig nach faulen Äpfeln. Die Zutaten interessierten mich nicht, ich war eher begeistert von der hingerissenen Art, in der er mit durchsichtiger Matsche die Wand verzierte. Das war ein Moment, bei dem ich an seine Mutter denken musste, wie gerne hätte sie vielleicht gesehen, wie ihr Sohn sich musisch betätigte, vielleicht war er bloss ein verkanntes Genie, ein Wunderkind dem man früher den Pinsel aus der Hand genommen habe.
Ich überlegte an jenem Abend ihn über seine Mutter anzusprechen, ihrem Wunsch etwas aus ihrem Sohn zu machen. Beschloss dann aber ein Bier zu öffnen und den neuen Grünton in einem Joghurtbecher zu bewundern.
Zwei Tage später, als ich ihm eine neue Ladung Narrische Schwammerln brachte, erschrak ich während dem Pinkeln zu tode, als mich Che Guevara von der rechten Badezimmerwand anstarrte. Kein Wunder also, dass ich ihm kein künstlerisches Talent sondern lediglich künstlerisches Verständnis zudichtete. Prangte jetzt doch tatsächlich dieser schimmelige Kommunist aus Bolivien an der Wand und schaute mir beim urinieren zu.

Mich zu sorgen, fing ich erst an, als ich dahinterkam, dass er den Badezimmerschimmel bis in sein Schlafzimmer hatte weiterwuchern machen. In sein winziges Schlafgemach kam ich eigentlich nie, irgendwie widerte mich Leo in Zusammenhang mit Körperlichkeit und Intimsphäre, an. Er war kein besonders gepflegter Mensch. Anders hätte er sich wohl kaum mit dieser Fülle an Schimmeln umgeben können.
Ich entdeckte erst eine grauschwarze Spur, in der selben Farbe des kubanischen Revolutionärs im Badezimmer, die vom Badezimmer aus über die Decke des Flurs in der geschlossenen Schlafzimmertür endete. Leo war im Wohnzimmer mit Pilzen beschäftigt und so öffnete ich vorsichtig und leise die Tür, die jedoch verschlossen war.
Zurück im Wohnzimmer sprach ich ihn sofort darauf an, wobei er ausweichend zugab, eine Schlafzimmerwand vom Schimmel befallen zu lassen wollen. Er wolle andere klimatische Bedingungen prüfen, sagte er erst, wurde dann aber, als ich ihn verägert über die gesundheitlichen Risiken hinwies, richtig böse, und verbot mir zu versuchen in sein Schlafzimmer einzudringen.
Er verschwieg mir etwas.
Es hätte mir damals sofort einleuchten müssen, dass ich es mit einem kranken, jungen Mann zu tun hatte.

Doch meine Zweifel, wurden eine Woche später sogleich über den Haufen geworfen, als er einen spektakulären Erfolg zu verbuchen hatte. Er rief mich hellauf begeistert an, ich müsse un-be-dingt vorbeikommen, er sei der erste Mensch dem es je gelungen sei, einen Steinpilz zu züchten. Eine Untertreibung. Als ich seine Wohnung betrat war ein neues, kleines quadratmeter Beet übersät mit dutzenden, achwas, hunderten kleinen Steinpilzen. Einfach so hochgeschossen, sagte er, er sei gerade dabei gewesen eine Symbiose aus gutartigen Edelschimmeln mit bösartigen Lederpilzen herzustellen, als er es aus der Ecke des Beetes seltsam habe rascheln hören.
Das war eine wirkliche Sensation, dessen Bekanntmachung einen gewöhnlichen Wissenschaftler zu Reichtum und Ruhm bis am Ende seiner Tage hätte verhelfen können.
Doch nicht für Leo. Er hatte Anderes vor.

Er fing dann an immer merkwürdigere Fragen zu stellen. Während er früher, berauschende Pilze verlangte, die er zwar nie schluckte, sondern erst die Haut des Hutes abschälte und den Rest in Säuren legte, war das für mich immer irgendwie nachvollziehbar, sei es auch nur deshalb, weil es sich um Drogen handelte, doch wollte er in der späteren Phase beispielsweise von mir wissen wie das eigentlich mit Fusspilz sei, ob ich das schonmal gehabt, und wo ich mir das eingeholt hätte. Ich sagte ihm, dass 12% aller westlichen Grossstadtmenschen von Fusspilz befallen sind, dass es daher wohl kaum schwierig sei, sich den einzufangen. Leo war begeistert von dieser meiner halbwissenschaftlichen Aussage (er nannte es überraschendes Mykologisches Fachwissen), und fragte mich ob ich mit ihm ins Schwimmbad gehen würde, da er von Schwimmbädern und deren für Fusspilz günstigen Voraussetzungen wusste.
So stand ich wenig später mit diesem käsebleichen, verwirrt dreinschauenden Kerl im Schwimmbad. Ich im Wasser um Atem ringend, er behutsam seine Kreise um das Becken ziehend. Es war mir nach kopfschütteln zumute, aber das tat ich in Bezug auf Leo schon lange nicht mehr.

Es ging dann plötzlich abwärts mit ihm. Er bekam einen vorerst leichten Husten, der bis zu meinem letzten Besuch bei ihm, immer lauter und von einem Röcheln begleitet aus den tiefsten Winkeln seiner Lunge hervorzukommen schien. Er klagte über Allergien, tat diese aber als lästige, jedoch unvermeidliche Nebenwirkungen seines Hobbies ab.
Eines Tages klingelte ich bei ihm und er tat nicht auf. Was mich sehr wunderte, weil das noch nie vorgekommen war. Ich fing an, mir Sorgen zu machen und hämmerte mit der Faust an die Tür, als er leichtbekleidet aufsperrte und mich bat zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukommen. Er habe weiblichen Besuch, und müsse sich darum kümmern. Früher hätte ich mich wahrscheinlich darüber gefreut, an jenem Tag beunruhigte mich dieser Umstand jedoch. Er wirkte müde, ein wenig krank, noch blässer als sonst.
Er schwieg eine Woche lang. Doch dann rückte er mit der Sprache raus und erzählte mir von der Frau. Eine junge, hilfesuchende Frau, die er über eine Zeitungsannonce kennengelernt hatte. Als er das Wort „hilfesuchend“ erwähnte, ahnte ich es schon, dass die junge Frau ein Pilzproblem haben musste. „Eine äusserst seltene Vaginalmykose“ sagte er. Er sagte das, wie man jemandem sagt, dass man verliebt ist.
Aus der Liebe ist nichts geworden. Aus dem Pilz schon. Ich wollte nicht wissen was er damit vorhatte. Auch er schwieg.

Die Wohnung wurde von Woche zu Woche ungesünder. Mittlerweile waren so gut wie alle Wände vom Schimmel befallen, die Schimmelbehälter im Kühlschrank, auf dem Schrank, auf dem Herd, auf dem Esstisch, auf dem Wohnzimmertisch, quillten über, waren mit einer dicken, pelzigen Schicht überwuchert. Die Champignons und die Steinpilze befallen, alles was man anfasste schien mit Sporen bedeckt zu sein. Sein Bier rührte ich schon lange nicht mehr an.
Wir sassen nebeneinander auf dem Sofa, ich sagte, er sei ein Schmutzfink, dass er irgendwann daran sterben würde, dass ich nicht mehr kommen würde, wenn er nicht etwas gegen diesen Schimmelwucher unternähme. Dann entdeckte ich einen dunkelblauen oder dunkelgrauen, so genau weiss ich es nicht mehr, Fleck unter seinem Hemdärmel. Ich zog den Ärmel hoch und erschrak. Er reagierte nicht darauf, schaute zur Seite und fragte mich nach einer Zigarette. Die Erste, seit ich ihn kannte.
Er müsse mir etwas gestehen, sagte er. Er würde sein Experiment nicht zu Ende bringen können. Er würde wahrscheinlich bald sterben.
„Sie sind sehr aggresiv“ wiederholte er mehrere Male, das habe er nicht erwartet, und lachte nachdenklich, fast ein wenig stolz, aber mit einer gewissen Wehmut. Er habe einen Plan, er könne mir noch nicht verraten worum es nun genau ging, aber es sei die Revolution, die Welt würde sich verändern. Er würde mir einen Brief schreiben, mir alles mitteilen, ich sei sein Erbe, ich müsse alles zu Ende bringen. Und ich solle nun besser gehen und nicht mehr wiederkommen.

Dem leistete ich Folge. Es schien mir ernst.

Es dauerte nur wenige Wochen, als die Zeitungen und das Fernsehen von diesem grässlichen Tod berichteten. Von dieser von Pilzen und Schimmeln überwucherten Wohnung, und von dieser zwei Meter langen bewachsenen Erhebung, in der man eine Leiche fand. Leopold K.

Ingeborg

Schnell diesen Jahrhundertroman schreiben, mich nächstes Jahr für den Bachmannpreis bewerben, gewinnen, fünfundzwanzigtausend, beim Buffet nachher, den Verleger aufwarten der mir ein Glas Rotwein entegenreicht und beiläufig nach einem eventuellen Jahrhundertroman fragt, ich ganz zufällig mein Jahrhundertmanuskript aus der Jackeninnentasche ziehe. Ein Jahr später einen grossen Garten kaufen, eine Milchkuh, eine grössere Wohnung, ein Sommerhaus für den Herbst am Alpensüdrand, neue Schuhe, eine alte Fabrik in einer Grossstadt, dort baue ich Lesebühnen, lerne endlich Schweissen und kaufe mir einen Opel.

Soeben hellauf geklatscht für Kathrin Passig für den ersten Preis, mit ihrem Text beim Bachmannpreis.

proportionen

Vorhin, als ich dabei war das Büro zu verlassen, ich vor der automatischen Schiebetür plötzlich innehielt und es mich grauste, gleich von dieser Hitzewand erfasst zu werden, wie mir die Sonne gleich alle blossgestellten Teile der Haut verbrennt, da kamen mir alte Erinnerungen hoch, aus diesem furchtbaren Sommer ’03, nachdem ich mich vier Tage lang durch ein vierziggradiges Paris gequält hatte, ich am Vorabend von meiner Rückkehr nach Madrid in diesem stickigen Restaurant im 3ème Arrondissement mit der gebratenen truite um die Wette schwitzte und dieses dänische Ehepaar noch mehr jammerte als ich es tat, und mir schliesslich erzählte, Paris sei noch gar nicht schlimm, verglichen mit Madrid, wo es gerade 52 Grad Celsius mass, und mir dabei übel wurde, meine Armhaare sich aufstellten.
Als ich dann am nächsten Mittag in Madrid bepackt, beladen an der Oberfläche auftauchte, lag diese ausgestorbene Stadt vor mir, sie tänzelte regelrecht vor meinen Augen, die aufsteigende Hitze verbog die Häuser, alle Läden, Cafes, Fenster versperrt, dahinter mussten sich Leichenhäuser verbergen, verzweifelt kühl gehalten, als würde man sich fürchten. Meine Wohnung, dieses finstere Loch im Dachgeschoss, worin man die Hitze des scheinbar schmelzenden Dachteeres von oben, wirklich fühlen konnte, kühlte selbst in den Nächten den ganzen Sommer über nie aus, niemals unter fünfunddreissig Grad, meist mehr, als ich nackt auf dem Bett lag, Hände und Beine von mir gestreckt, ein Proportionsschema in pummelig, damit keine Falte Haut die andere berühre, der Körper aus jeder einzelnen Pore atmen könne, Wärmeeinheiten verdampfen liesse, alle Fenster offen, sperrangelweit, die Luft aber erstarrt war, dickflüssig geworden auf meiner Brust klebte, drückte, während draussen die Madrileños um die Wette hupten, Autos und rotgestreifte Seats, die ganze Nacht lang, als hälfe nur noch das offene Fenster des Autos, ein bisschen Frischwind ins Haar zu kriegen, und ich in nervösem, traumlosen Wachschlaf blökende Schafe riss, nur um beim Weckerklingeln wieder lauwarme Kleider über meine heisse Haut zu streifen und in den kochenden UBahnschacht zu steigen, Höhlen die direkt in des Teufels Kessel führen mussten, in diese alten, klapprigen Wagen der immer überfüllten Linie Nummer 1, die Hellblaue, der Metromadrid zu steigen, um acht Uhr von Tribunal bis Plaza Castilla, zwanzig Minuten lang, mich am Schweiss der anderen Sardinen reibend, um einen Platz für meine Hand an den Haltestangen kämpfen.

Die letzten 5000 Kilometer zum Büro, den rettenden Pol, nur noch die Buchstaben zu KLIMAANLAGE zählen, in verschiedenen Sprachen, vorwärts und Rückwärts und quer durch. Nach Ankunft, acht Stunden lang gebraucht mich abzukühlen, nach getaner Arbeit, und dazwischendurch, unter den Schreibtisch gekrochen und die Augen geschlossen. Alle Schafe laufen lassen, mich um Keines gekümmert.

Daran dachte ich vorhin, als ich kurz innehielt, bevor ich durch die automatischen Schiebetüren, hinaus in den Sommer schritt. Dieser Gedanke hat mir Mut gemacht. Und Spass.

Springweg 23 – Teil IV – Der Funkenregen

Eine leicht gruselige Erzählung mit coolen Untertiteln

(Teil eins, Teil zwei, Teil drei)

Noch angetrieben von den Ausläufern der feuerlichen Räumung, der Unterstützung der Nachbarschaft und des positiven Echos in den Medien, war die dritte Besetzung von Springweg 23 ein perfekter, militanter Schlag. Anstatt uns im Schutz der Stille und Dunkelheit der ganz frühen Morgenstunden auf dem Weg zum Haus aufzumachen, war es etwa Mittag, als die fünfzigköpfigen Gruppe sich in der Lange Nieuwstraat 37 versammelte. Wir hatten im Parterre einen riesigen Raum zur Verfügung, den wir zu einem kleinen Cafe ausgebaut hatten in dem wir manchmal Lesungen organisierten und jeden Mittwoch Tonnenweise Bier zu aufgedrehter Punkmusik verkauften. Ein idealer Treffpunkt für grössere Gruppen. Auf dem Weg in den Sprinweg trugen wir mehrere Brecheisen und Hammer demonstrativ in der Hand, von zwei Leuten wurde eine lange Leiter getragen, mehrere Matratzen wurden mitgeschleppt und anstatt uns auf dem üblichen Weg durch die engen, mittelaterlichen Stege, die sich durch die ganze Utrechter Altstadt ziehen, zu schlängeln, wählten wir die grossen Strassen. Wir waren eben zu fünfzig und die Besetzung würde aus gesetzlicher Sicht sowieso nicht akzeptiert werden. Jetzt machte man Politik. Jetzt wollten wir laut sein.
Als wir in den Sprinweg einbogen, war es fast wie nachhause zu kommen. Einige älteren Herren die sich unterhielten riefen uns irgendwas witziges zu und ein vorbeifahrender Fahrradfahrer fragte scherzend ob wir von der Polizei seien und begleitete uns bis vor den Haustüren der Nummer 23.
Dann nahm die Gruppe ihre Posten ein. Obwohl Einbahnstrasse, wurde die Strasse auf zwei Seiten von einer Menschenkette abgeriegelt. Jurij und Alex stellten die Leiter auf, klommen zum Dachgeschossfenster hoch und stiegen in das Haus ein. Fünf weitere Menschen erklommen das Dach, machten schonmal ein paar Dachziegel lose und hielten Ausschau über den wunden Punkt an der Seite des Geländes des ehemaligen Deutschen Ritterordens. Wir hatten das Gebäude bei der letzten Räumung dermassen verbarrikadiert, dass es klar war, dass wir nicht auf den konventionellen Weg in das Gebäude eindringen konnten.
Vom Mariaplaats her kamen dann auch schon zwei Streifenwagen die bis zum Gebäude vordringen wollten, doch als der Grossteil der Menschen in der Menschenkette dann Schlagstöcke zückte, blieben sie unvermittelt stehen. Einige Minuten später leuchteten die Blaulichter vom Süden her und da wiederholte sich die selbe Szene.
Das technische Problem mit der dritten Besetzung war, dass die Türen zugänglich gemacht werden mussten. Man konnte nicht die ganze Menschenschar über die Leiter in das Gebäude reinfliessen lassen. Eine Treppe vor dem Haus war ein wunder Punkt. Und es war aus psychischem Sichtpunkt nicht möglich, sich mit 50 Besetzern in einem Haus einzusperren. Man musste einfach raus- und schwer hineinkommen. Jurij und Alex sollten von drinnen einen Weg zu den Türen freiräumen. Eine aufwändige Tätigkeit, da metallene Matratzenroste, Fahrräder und Stützpfeiler von Baugerüsten an den schützenden Türen und Brettern des Vorgiebels und Fenster geschraubt und teilweise verschweisst waren. Dazu hatten wir jeden möglichen Hausschrott, vor allem Holz, dazwischen und dahintergeklemmt und -gestemmt und dahingeworfen waren. Es verging eine ganze Stunde des nervenzerreibenden Wartens auf der Strasse. Die Polizei war unentschlossen. Auf der einen Seite häufte sich dauernd das Aufgebot, nach einer Stunde waren sogar die Arrestatiebussen der Mobile Eenheid arriviert, aber es wurde nicht angegriffen. Einmal kamen zwei Sociocops heran, die mit uns reden wollten. Die wurden dann mit erhobenen Brechstangen kurzerhand verjagd. Die Nachbarn applaudierten von den Fenstern herab. Wir schäumten vor Selbstbewusstsein. Als eine Stunde um war, erschien Jurij im Dachfenster und stieg herab. Er sagte es ginge nicht. Alles war verschweisst und fest verschraubt. Man müsse mit einer Schleifmaschine zu Werke gehen, aber von Innen sei das zu gefährlich wegen dem ganzen Holz, das würde in Kürze in Flammen aufgehen. Wir mussten uns von aussen Zutritt verschaffen. Am besten die rechte Tür, damit man sofort Zugang zur Hinterseite hatte. Einige Nachbarn, worunter auch Berta beteiligten sich interessiert an der technischen Diskussion. Berta forderte ihren Nachbran schliesslich auf, seinen Flex zu holen. Der tat dies. Inzwischen machten wir uns daran, die rechte Tür zu zertrümmern, bis nur noch das dahinterliegende, metallene Gerippe stand. Wir brauchten zwei Verlängerungsschnuren quer über die Strasse um direkt am Haus schleifen zu können. Ich liebe das Arbeiten mit dem Flex. Es ist dieses elektrisierende Geräusch von sich blitzschnell abschabendem Metall, das jegliches andere Geräusch in meinem Umfeld verdrängt und dann der schier unkontrollierbare feurige Schweif von glühenden Metallpartikeln, der sich mal zwischen den Beinen auslässt, und dann wieder in weiter Ferne zerstreut und langsamere Funken auf den Boden tröpfelt. Neben Saucen kochen wäre meine Lieblingsbeschäftigung zu schleifen. Wenn es halt nicht so laut wäre. Das hält man nicht lange durch. Jurij und ich wechselten und deshalb auch ab. Er fünf Minuten und ich fünf Minuten. Nach fünf Minuten kann man einen Flex nicht mehr in der Hand halten, weil die Fingerknochen anfangen zu vibrieren. An der Hinterseite der freigeräumten Tür stand Alex, der aufpasste, dass kleine verirrte Funken im Haus drinnen keine Flammen schlügen.
Es kam dann auch die Feuerwehr, ohne Zweifel von der Polizei gerufen, ein alter Trick, wodurch sich die Polizei oftmals den Weg freiräumen liess. Die Feuerwehr greift man eigentlich grundsätzlich nicht an, weil es in erster Instanz Helfer sind, die von der Polizei lediglich oft missbraucht werden und eigentlich nichts dafür können. Die beiden Löschwagen wurden von uns zum Stillstand gebracht und den Helfern deutlich gemacht, dass es nicht brennen würde, sondern, dass man einfach nur mit dem Flex arbeite. Der Einsatzleiter schien die Situation zu verstehen und wahrscheinlich merkte er auch, dass er wiedermal missbraucht wurde, jedoch wollten sie nicht abziehen, sondern Einsatzbereit in der Strasse bleiben, falls etwas schiefgehen sollte. Es sei ja ihre Pflicht. Deren Einsatz sollte jedoch nicht lange dauern, denn bald war die Tür freigeschliffen und der Flex hörte auf zu Funken.
Die ganze Aktion war aber immer noch nicht zu Ende, weil jetzt ja ein grosses Loch in der Fassade prangte. Da aber im Haus reichlich Holz vorhanden war, beschloss man alle Menschen auf der Strasse, in das Haus zu lotsen und erstmal einen Tisch an die Innenseite der Türpfosten zu verschrauben. Im Laufen der nächsten Stunde, als das Haus also schon besetzt war, bauten wir Scharniere und mehrere Schlösser in die verschraubte Tischplatte ein. In den nächsten Tagen wurde sie noch mit Eisenhaken und langen Stahlschienen verstärkt. Ein kleines, technisches Hochständchen der Hausbesetzerkunst war das. Schade, dass es heute jene Tür nicht mehr gibt.
Aber ach, ich verliere die eigentliche Geschichte ganz aus dem Blickfeld.

Dass man ab diesem Tag nicht daran denken konnte, im Springweg 23 ruhig wohnen zu können, das war jedem sofort klar. Aber manchmal geht es gar nicht um das Wohnen selbst. Manchmal entscheidet man sich zur politischen Konfrontation und weil es um das eigene Haus geht, in dem man auch noch den ganzen Tag Reparaturen vornimmt und baut, wird der ganze Alltag politisiert.
Die paarse Stadtregierung (Paars=Violett. Rot wegen der Sozialdemokraten und Blau die Liberalen, ergibt: ja genau) war WÜ-TEND. Jedoch auch gespalten. Der damalige Räumungsgrund (der „Mietvertrag für eine Ruine“, wie die Medien immerwieder Schlagzeilten) war wirklich lächerlich gewesen, das sahen die Sozialdemokraten ja ein, die Liberalen hingegen sahen die militante Art der damaligen Räumung und nun auch ebensolche Widerbesetzung als Kriegserklärung. Dass die Nachbarschaft so koopeartiv war, störte die Sozialdemokraten hingegen wieder. Der ganze Akt der Besetzung war widerrechtlich gewesen, weil das Haus nach dem Prozess wieder ein ganzes Jahr lang leer stehen musste, und überdies war der Akt der Besetzung ja auch von der Polizei beobachtet worden. Zum Prozess würde es also gar nicht kommen. Eigentlich warteten wir bloss auf den richterlichen Räumungsbefehl. Da eine Räumung des Springweg wieder äusserst unangenehm verlaufen würde, musste sich die Stadtregierung entscheiden ob sie sich einmischen würde. Es passierte schon hin und wieder einmal, dass die Stadt ein schwer umkämpftes Gebäude vom Besitzer aufkaufte und den Besetzern eine Art Nutzungsvertrag anbot, bloss um möglichen Randalen auszuweichen. Auch erzwang die Stadt manchmal Mietverträge vom Besitzer. Aber Springweg 23 war ein etwas schwierigerer Fall. Erstens war es ein sehr kleines Haus, in dem man vielleicht sieben Bewohner unterbringen konnte. Bei den vorigen Legalisierungen handelte es sich immer um grosse Häuser an der Gracht oder etwas ausserhalb, alsob die Stadtregierung jene Häuser bloss legalisiert habe um soviel wie möglich Unruhestifter gleichzeitig zu verarzten. War es den ganzen Aufwand für sieben Hanseln dann wert? Und mit einem Mietvertrag wären wir natürlich nie einverstanden gewesen, immerhin hätten wir das Haus erst reparieren müssen und zu einem Mietvertrag gehören auch die ganzen Brandschutzbestimmungen dazu, die wir doch niemals hätten einhalten können, ohne fünfzigtausend Gulden oder mehr in das Gebäude zu stecken. Wir wollten eigentlich bloss in Ruhe gelassen werden. Vonder Stadt, vom Besitzer und von der Polizei. Wie die sich das aufteilten war uns egal. Und wenn sie uns raushaben wollten, dann würden die Strassen eben wieder brennen.

Wir gewannen sehr viel Zeit weil die Polizei nie vorbeigekommen war um Leerstand zu konstatieren und die Agenten deshalb vergessen hatten die Staatsanwaltschaft zu informieren. Natürlich wusste die ganze Stadt, dass Springweg 23 wieder besetzt war, aber die richterlichen Mühlen zermalmen kein Mehl wenn man ihnen kein Korn bringt. Als im Rathaus nach drei Wochen des Herumstreitens, schon mehrere Köpfe in Rauch aufgegangen waren, kam man erst drauf, dass es noch gar keinen Räumungsbefehl gab. Sogar der Besitzer hatte sich nicht gemeldet, da dieser nicht erreichbar war. Ob er in jenen Wochen verreist war, oder sich sonstwie verdünnt hatte, bekamen wir nie raus. Er war einfch nicht da.

Ich zog der angespannten Stimmung wegen, meine Matratze in den Springweg um und bezog zusammen mit Maleentje, die auch wieder zurückgekehrt war, und einem belgischen Jungen namens Eelco, ein Zimmer. Ich überliess Roos mein Zimmer in der Lange Nieuwstraat, bis ich irgendwann wieder zurückkehren würde. Die Leute aus meinem Haus würden sich schon um Clumsy kümmern, wenn Roos mal in die Kneipe wollte. Und ach, Clumsy kam schon immer alleine zurecht, die wusste schon was sie machte. Es war keine Seltenheit, Clumsy plötzlich irgendwo alleine in der Stadt herumlaufen zu sehen. Die brauchte eigentlich niemanden. Gleich wie Roos.
In jenen spannungsgeladenen Wochen wohnten wir bestimmt zu zwanzig in Springweg 23. Ums Wohnen ging es natürlich nicht. Es ging darum, kreative Barrikaden zu errichten, abends bei Bier beisammenzusitzen und sich nachts irgendwann samt Kleider und allem auf der Matratze breit zu machen.
Und, obwohl jeder vom seltsamen Verhalten der Hunde im Springweg 23 wusste, zogen dort beinahe ebensoviele Hunde ein wie Menschen. Ich hätte sie am liebsten alle verbannt, weil es natürlich weiterhin diese merkwürdigen Begebenheiten gab. Neben dem üblichen Anbellen der Wände jagten die Hunde manchmal im Rudel durch das Haus um an einer bestimmten Stelle -meistens vor dem kleinen Tor des Hinterhauses- halt zu machen und dort dann eine ganz lange Zeit im Chor ins Leere zu bellen. Im Rudel waren sie nicht zu bremsen. Keiner der Herrchen vermochte sie zum Schweigen zu bringen, wenn sie im Rudel in Fahrt gekommen waren und Geister jagten. Den anwesenden Augenzeugen lief anfangs immer der Schauer über den Rücken hinunter, aber mit der Zeit verdrängte man es und tat es als „kleine Verrücktheit“ der Köter ab. Wenn es beispielsweise jene gruseligen Momente gab, in denen man gesellig beisammen sass und die Hunde völlig ausser sich einen gespenstisch langsam sich bewegenden Punkt anbellten, dann drehte man einfach das Radio ein wenig lauter und schrie über die heulenden Gitarren und Hunde hinweg.

Als Maleentje und ich einmal abends beim Bier in unserem Zimmer sassen und auf das finstere Hinterhaus guckten, sagte sie mir, dass sie ursprünglich eigentlich nicht mehr hier wohnen wollte, seitdem sie damals diese Gestalt da hinten gesehen hatte. Wir starrten weiter. Dann sprach sie unheimliches Zeug, dass sie das Gefühl habe dieses Wesen wolle uns etwas mitteilen, etwas wie ein Hilfeschrei. Sie wisse, dass dieses Etwas vom Wesen her gutartig sei, nur eben verzweifelt. Damals war sie von der Angst erfasst worden und musste flüchten, aber jetzt sei sie wieder hier, weil sie etwas abschliessen müsse. Ich wollte eigentlich gar nicht darüber sprechen. Ich war einerseits froh darüber, dass jemand ausser mir tatsächlich der Überzeugung war, dass es geisterte, aber auf der anderen Seite so richtig darüber zu reden, war mir irgendwie ungeheuerlich. Aufstehende Nackenhaare undso. Fünf Minuten später vögelten wir. Das war einfacher.

Am nächsten Tag begegnete ich Berta in der Strasse, die gleich meinen Namen aus der Ferne rief. Ich mochte das nicht. In Richtung Mariaplaats stand seit der letzten Besetzung immer, und zwar wirklich immer, ein Streifenwagen und ich war mir auch sicher, dass die merkwürdigen Zeitungslesenden Menschen in der Strasse vorher nie da waren. In den Filmen erkennt man die ja auch immer. Auch wenn sie keine Löcher in der Zeitung haben. Nunja, eigentlich nannte sie mich „Mekmek“ aber Frauen verballhornern ja immer meinen Namen auf diese Weise. Ich erklärte mir das damals so, dass Frauen oft melodischer veranlagt sind. Gleich wie ihre Vorliebe zu Blumen oderso. Ganz erklären konnte ich es mir trotzdem nie. Als sie mich fast über den Haufen rannte war sie ziemlich ausser Atem. Das beunruhigte mich ein bisschen. Ich fragte was denn los sei. Sie habe den Adam gesehen. Heute in der Nähe der Stadshuisbrug. „Adam, wer?“ „Na Adam, der Alte!“. Ich verstand immer noch nicht wen sie meinte.
„Der Alte Metzger, der seine Frau geschlachtet hat.“
Ich war überrascht. An die Existenz des Metzgers hatte ich ja gar nicht mehr gedacht. Dreiundzwanzig Jahre Knast müssen das gewesen sein. Würde er etwa wieder frei herumlaufen?
„Ich weiss es nicht“ sagte Berta, immer noch ausser Atem „aber ich habe ihn sofort wiedererkannt. So einen fiesen Kerl vergisst man nicht schnell. Auch wenn er jetzt hundert Jahre älter aussieht.“
Ich fragte, ob sie sich wirklich sicher sei. „Ja natürlich.“ sagte sie. Sie hatte sogar laut seinen Namen gerufen, dann sei er davongerannt. Ich glaubte Berta sofort. Die hatte schliesslich ihr ganzes Leben im Springweg verbracht, und wahrscheinlich immer bei ihm Fleisch eingekauft. Überdies vergessen Elefanten niemals. Und Berta war eine Art Elefant. Da bin ich mir ganz sicher.
Ich erzählte das Maleentje und Jurij, die beide grosse Augen machten. Jurij kümmerte es aber gleich nicht mehr, weil eigentlich war diese Info irrelevant. Der Alte war nicht mehr der Besitzer und wahrscheinlich lebte der jetzt in einer offenen Resozialisierungseinrichtung oder ähnlichem und hatte genaugenommen mit der ganzen Sache gar nichts mehr zu tun. Da hatte er recht. Aber es blieb ein merkwürdiges Gefühl.

Castro war der einzige der ganzen Hundemeute, der immer ruhig blieb. Castro schien die ganze Meute auch zu verachten. Castro war gross, dunkel und ernsthaft. Zwar horchte er immer auf, wenn die Hunde wieder ein Gespenst witterten, jedoch beteiligte er sich nicht an die Hetzjagten durch das Haus. Er war wie sein Herrchen eben: ein harter Brocken. Wenn auch mit sentimentalen Neigungen. Umso angsterregender war es, als Castro plötzlich vor mir stand, während ich auf dem Flur kniete und ein brüchiges Brett durch ein stärkeres ersetzte und mich anknurrte. Als ich in ansah, merkte ich jedoch, dass er nicht mich anknurrte, sondern etwas unmittelbar hinter mir. Alsob jemand genau hinter mir stehen würde. Ich drehte mich sofort um. Und sah niemanden. Castros Maul war etwa dreissig Zentimeter von meinem Gesicht entfernt und knurrte weiter. Sein böser Blick verriet mir, dass es ihm durchaus ernst war. Sein Blick schweifte ganz langsam nach rechts, verfolgte etwas für mich Unsichtbares, und dann plötzlich war er wieder ruhig und sah mich an. Es war wieder weg. Ich streichelte den Hund und ging mir ein Bier holen.
Später sagte ich zu Jurij scherzend, dass man von seinem Hund Angst bekäme, weil wenn der mal Gespenster sähe. Denn dann sei es wirklich ernst. „Ja“ antortete Jurij nachdenklich und öffnete sich ein Bier. „Scheissgespenster hier drin“. Und dann ging er weg.

Vier Wochen nach der Besetzung klopften Polizisten an die Tür und überreichten uns den Räumungsbefehl. Wir hätten noch drei Wochen, dann müsse das Haus geräumt sein. Wortlos nahmen wir den Brief entgegen und schlossen die Tür. Es gab keinen Bedarf für Erklärung oder Aussagen, es war beiden Parteien klar, was uns allen in drei Wochen anstehen würde.

Drei Tage später bekam die ganze Geschichte jedoch eine unangenehme Wende. Das Haus war schon ein wenig leerer geworden, da das Räumungsdatum jetzt bekanntgegeben war. Es war Nacht und ich lag wieder in Jurijs Zimmer und war von einem Poltern wach geworden. Ich erkannte sofort die Situation. Das Poltern musste von oben gekommen sein, vom ehemaligen Zimmer der Tochter, das mittlerweile wieder leer geworden war. Und gleich darauf noch ein Poltern. Ich hasste das. Warum wurde ich immer wach bei sowas. Castro war nicht im Zimmer und Jurij schnarchte tief und fest. Ich zündete eine Kerze an, da wir immer noch keinen Strom hatten, nahm eine herumliegende Holzstange zur Hand, weil halt immer überall Stangen herumlagen und tat das gleiche wie letztes Mal auch: ich lief durch das Treppenhaus nach oben. So entschlossen ich bis zur Treppe gelaufen war, sosehr machte ich mir im Treppenhaus in die Hose. Die Kerze flackerte alle möglichen Gestalten an die Wand und die Treppe quietschte natürlich. Genau wie man es in solchen Momenten vorstellt. Im Treppenhaus hörte ich es wieder Poltern und diesmal bestand auch kein Zweifel. Das Poltern kam aus jenem Zimmer. Ich wollte eigentlich nicht mehr weiterlaufen, aber ich setzte immer wieder einen neuen Schritt auf die nächste Stufe und wand mich so durch das gebogene Treppenhaus nach oben. Die Tür zum Zimmer stand halb offen. Das Treppenhaus flackerte im hellen Licht der Kerze und dahinter sah ich das schwarze Dunkel des Zimmers. Dann hielt ich die Stange vor mir und ich stiess die Tür auf. Und dann erstarrte ich. Sieben oder mehr Augenpaare starrten mich aus dem Zimmer her an. In dem gelähmten Zustand erkannte ich dann plötzlich Umrisse. Die Augenpaare gehörten mehreren kleineren, länglichen Gestalten. Es waren die Hunde! Ich wartete auf Erleichterung, es waren bloss die Hunde, haha, die Hunde. Doch die Erleichterung kam nicht.
Die Hunde ignorierten mich wieder und drehten alle gemeinsam ihre Kopfe auf einen Punkt. Was taten die da? Es waren acht Hunde, auch Castro war dabei, die sich um die Mitte des Zimmers versammelt hatten und nach oben starrten. Ich zitterte. Dann fiel mir die Kerze aus der Hand, fiel auf den Boden und erlosch sofort.
Das reichte mir. Hals über Kopf rannte ich die Treppe hinunter, stiess mir dabei ganz fürchterlich das Knie und weckte Jurij, Alex, Maleentje, Eelco, Greetje und die Leute die im Erdgeschoss auf dem Sofa schliefen. Ich schrie lose Wörter zusammen, wie: „Gespenster, Hunde, Hexenkreis.“ Ich hatte ein wenig die Nerven verloren. Man brachte mich wieder in Jurijs Zimmer zurück und Maleentje und Eelco wollten hören was ich zu erzählen hatte. Jurij seufzte und öffnete sich ein Bier.

Ich beruhigte mich dann, Eelco und Jurij scherzten ein wenig und die Hunde kehrten wieder zurück, als sei alles normal gewesen. Castro lag neben mir und machte irgendwas mit seiner Zunge an seinem Leib, Alex hatte sich wieder in sein Zimmer begeben und sich schlafen gelegt und Jurij glättete sich seinen Schlafplatz zurecht. Ich dachte noch daran Maleentje in ihr Zimmer zu folgen, aber ich war müde und hatte es gerade wieder ein bisschen warm und kuschelig bekommen auf der Matratze auf der ich lag, und langsam nickte ich auch wieder ein. Es war vier Uhr morgens.
Als ich etwas später von lautem Bellen wieder wach wurde, war es draussen noch dunkel, aber das Morgengrauen hatte schon eingesetzt. Über den Dächern der Häuser zeichnete sich eine helle Silouette ab. Castro war wieder nicht im Zimmer. Das Bellen kam von draussen, deshalb lehnte ich mich, in einer Decke gehüllt, als erstes gleich aus dem Fenster. Unten auf der Strasse stand Clumsy. Und bellte. Was für eine verrückte Hündin, dachte ich mir und schüttelte den Kopf, steht sie doch glatt in allerherrgottsfrühe alleine auf der Strasse und bellt. Ganz automatisch wollte ich runter gehen und ihr die Türe öffnen. Dass sie das Haus eh nicht betreten würde, kam mir nicht in den Sinn. Aber schon während ich mir die Jacke überstreifte stieg mir ein verdächtiger Geruch in die Nase. Rauch.
In dem Moment fing ich zum zweiten Male an zu brüllen, in jener Nacht: FEUER! JURIJ! FEUER! Ich schlug ihn mit Fäusten aus den Träumen heraus. Jurij war augenblicklich wach und stand zwei Sekunden später auf seinen Beinen. Ich wusste nicht wo es brannte, jedoch war es nicht das erste Mal, dass ich mich in einem brennenden Haus befand und ich wusste, dass es immer verdammt schnell ging und es keine einzige Sekunde gab, die man verschwenden konnte. Ich stürmte ins Treppenhaus, wo mir schon dicke Rauchschwaden entgegenkamen und schrie: VUUR! HET BRANDT! Jurij folgte mir durch den Rauch die Treppe hinab und ich merkte wie der Rauch sich gleich etwas lichtete. Es musste also wieder oben im Dachgeschoss brennen. Es war zwecklos, nein lebensgefährlich, jenes Zimmer nach Menschen zu überprüfen. Dort oben mussten die Flammen schon den ganzen Raum ausgefüllt haben. Als Jurij noch einmal hochlaufen wollte, hielt ich ihn fest, da schlief bestimmt niemand, das Zimmer war leer gewesen, als ich nachts oben gewesen war… bis auf die Hunde. Ohje, die Hunde, wo war Castro? Ich zog ihn weiter die Treppe hinunter und von unten kamen uns schon Menschen entgegen, die wir wieder nach unten schoben. Oben war niemand mehr, man müsse schnellstens die Hinterseite überprüfen. Unten im grossen Parterrezimmer war schon ein ganzer Haufen Leute zusammengekommen und die ersten rannten in Panik aus dem Haus. Ich sah Maleentje und ich sah Greetje und auch Alex. Und auch weitere Gesichter. Doch ich war nicht imstande sie zu zählen, oder mir gar Gedanken darüber zu machen wer fehlte und wieviele Leute im Haus geschlafen hatten. Und dann kam von der hinteren Treppe die ganze Meute Hunde heruntergetrampelt, inklusive Castro. Dann schlug es über unseren Köpfen laut auf. Ein brennender Balken musste in Jurijs Zimmer von der Decke gebrochen sein. Gleich hinter den Hunden kam Eelco, der schrie: „Raus, raus, hinten ist niemand mehr!“.
Diese frohe Meldung nahmen wir als Anlass keine merkwürdigen Heldentaten zu erledigen, sondern unser Leben zu retten.
Dicker, schwarzer Rauch qualmte aus Jurijs Zimmer und dazwischen sah man immer wieder kurze orangefarbene Blitze aufleuchten. Das Fenster zum Dachzimmer sah von unten aus wie das Heizloch eines Ofens. Dahinter verbarg sich ein laut und tief knisterndes Flammenmeer. Das Dach fing dann an zu glühen, das heisst, man sah das Feuer durch die Dachziegel hindurch. Man konnte auch erkennen, dass die Hinterseite schon brannte. Das Feuer musste sich durch die Dachbalken durchgefressen haben.
Clumsy stand auf der anderen Strassenseite ein Stück weiter nördlich Richtung Mariaplaats und beobachtete nervös das Feuer. Ich ging zu ihr hin und streichelte ihr hängendes Gesicht. Berta kam in ihrem Schlafanzug und einer dicken Winterjacke darüber, mit Jurij aus ihrem Haus. Sie hatte die Feuerwehr angerufen. Das Feuer tobte diesmal richtig. Die Feuerwehr würde wohl nur mehr verhindern können, dass die Flammen nicht auf die umstehenden Häuser überschwappten. Eine grosse Menschenschar, teilweise in Pijamas und Pantoffeln, versammelte sich auf der Strasse und alle Blicke waren auf das brennende Haus gerichtet. Dann hörte man ein langsames und träges Ächzen, das eher klang wie ein klagendes Stöhnen, und das Dach brach ins sich zusammen. Ein wilder Staub von Milionen Funken sprudelte in grotesken Formen aus der oberen Hälfte des Hauses heraus und aus den drei Fenstern von Jurijs Zimmer stiessen drei dicke Rauchwolken hervor.
Das Haus schien schon dreimal abgebrannt zu sein als ich die Sirenen der Feuerwehr hörte. Es war alles zu spät, es würde nur noch ein Gerippe übrigbleiben.

Die Spezialisten der Versicherung werden später Benzinspuren am Feuerherd feststellen. Ein eindeutiges Zeichen von Brandstiftung. Schonwieder. Ich konnte es mir nicht erklären und fand die Begründung höchst zweifelhaft. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass tatsächlich jemand von uns ein Feuer gelegt hatte. Seit Karel weg war, und das war ja nun schon wirklich lange her, gab es eigentlich keine vagen Leute mehr, die im Hause ein und aus gingen. Und ich war zwei Stunden vor dem Brand noch in jenem Dachzimmer gewesen und hatte keinerlei Anzeichen einer Vorbereitung eines Brandes gesehen. Nur die Hunde waren da… wenn auch in einer merkwürdigen Szene. Hatten sie vielleicht etwas gewittert? Und woher war Clumsy plötzlich gekommen? Roos hatte sie mit ins Cafe Belgie genommen und Clumsy war dann wohl ein wenig spazieren gegangen.

Jurij zögerte nicht lange. Nach einem ausgebreiteten Frühstück für die neuen Dachlosen in der Lange Nieuwstraat packte er Castro an seinem Halsband und sagte er würde zurückkehren. Die Runde Menschen schwieg erstmal, schien kollektiv nachzudenken und ungefähr gleichzeitig standen alle Anwesenden auf und kehrten in den Springweg zurück. Die Türen und der zugenagelte Vorgiebel standen witzigerweise noch. Auch die Scheune, aber sonst waren eigentlich nur noch die Mauern und Reste der Treppen übriggeblieben. Die Polizei hatte die Türen versiegelt und einige Schaulustige standen herum. Wir traten die rechte Tür auf und stiegen in den Trümmerhaufen ein. Man spürte noch regelrecht die Wärme der verkohlten Balken. Irgendjemand lachte und sagte: „Hier gibt es noch viel zu tun“. Darauf lachten wir alle. Und fingen an, erstmal die Balken, die kaum noch etwas wogen, zu verschieben. Über uns strahlte der freie Himmel.

Das Wohnen in vier Wänden unter freiem Himmel wurde zu einem melancholischen Unterfangen. Zwei schwarze Balken, die noch an in der Luft hingen, brachen wir mit Äxten herab. Es war zu gefährlich sie noch hängen zu lassen. Einige Nachbarn brachten ab und zu Kaffee vorbei, stemmten dann aber nur die Arme in die Hüften und sahen sich den Trümmerhaufen an oder schüttelten mehrmals den Kopf. Es sei ja äusserst mutig von uns, sagte einer der Nachbarn einmal, aber es würde doch so wenig Sinn machen dieses Haus noch instande zu setzen. Wir hatten auch keinen Plan, aber irgendwie war das Haus uns wichtig geworden. Wir wollten erstmal Balken anbringen. Wie, wussten wir natürlich nicht und woher wir Balken bekommen würden erst recht nicht. Es entstanden ein paar Ideen, eine Art von Baugerüst im Inneren des Hauses aufzustellen und auf diese Weise Zimmer zu bauen, aber so richtiger Enthusiasmus wollte bei dieser Idee nicht wirklich aufkeimen. Maleentje hatte das Haus schon aufgegeben, jedoch fand sie keine Ruhe bezüglich des alten Metzgers. Sie hatte rausgefunden, dass er vor vier Jahren schon aus der Haft entlassen worden war. Also zu der Zeit als seine Tochter noch lebte. Nur musste sie noch herausfinden wo er sich jetzt befand.

Als es am dritten Tag anfing zu regnen, stellten wir Zelte auf. Es plätscherte die ganze Nacht lang. Es plätscherte eine ganze Woche lang. Eine Woche später waren wir nur noch zu dritt. Jurij, Alex und ich. Und ich muss zugeben, dass auch ich nicht mehr sonderlich anwesend war. Tagsüber bewegte ich mich mehrmals zwischen Springweg und Lange Nieuwstraat hin und her, wusste im Springweg im Regen nicht so recht wo ich anfangen sollte zu arbeiten, kehrte abends nach Hause zurück um eine Dusche zu nehmen und legte mich dann in das Zelt im Springweg zum Schlafen. Es war dann Maleentje die uns drei traurigen Gestalten einredete das Haus einfach Haus lassen zu sein. Wenn wir nicht bald gingen, würde wir in wenigen Tagen von der Polizei abgeholt werden und das Haus sei es einfach nicht mehr wert, die Hunde mochten es nicht, die ganzen komischen Sachen die immer passierten, wir sollten es einfach sein lassen. Ich stand auf und brach mein Zelt ab. Die anderen beiden folgten.

Eine Woche später betrat Maleentje nachdenklich mein Zimmer. Sie, Roos und ich teilten uns in aller Keuschheit mein grosses Bett. Sie zog ein Papier zum Vorschein und sagte sie habe den Wohnort des Metzgers ausfindig machen können. Er habe erst drei Jahre in einer geschlossenen Anstalt verbracht und folgte seit wenigen Monaten ein Resozialisierungsprojekt. Er war jedoch vor kurzem Verstorben. Er habe zwei Tage im Krankenhaus gelegen und sein Herz hatte plötzlich aufgehört zu schlagen. Sie hielt kurz inne und sagte dann: „Genau in jener Nacht als Springweg abgebrannt ist“.
Ich öffnete ein Bier.

Springweg 23 – Teil III

-Die Rache des Feuerteufels-
Eine Trilogie in vier Teilen mit coolen Untertiteln.

(Zu Teil1 und zu Teil2)

Frühmorgens als die Dämmerung hereinbrach weckte ich Jurij kurz, um zu sagen, dass ich das Haus verliesse, es sei alles glimpflich abgelaufen, ich hatte die ganze Nacht Wache geschoben und wollte nun nach Hause ein wenig zu schlafen.
Als ich in der Lange Nieuwstraat die Tür öffnete und Clumsy mir von Innen her entgegenkam, fiel mir erst auf, dass ich Roos den ganzen gestrigen Tag seit der Besetzung und die darauffolgende Nacht nicht gesehen hatte. Clumsy musste sich wohl äusserst hardneckig gegeben haben, bis sie sie einfach bei uns eingesperrt hatte. Roos hatte unseren Hausschlüssel. Roos hatte immer und überall Hausschlüssel von allen Häusern. Roos war mit allen befreundet. Auch wir beide waren gut befreundet. Nicht auf die sexuelle Art, sondern lediglich gut befreundet. Zwar hatte sie einen grossartigen Hintern, und ich mochte ihr Gesicht, aber irgendwie war da nie wirklich was, sie war immer zu kumpelhaft, was bei mir immer jegliche Romantik zunichte macht. Ich mochte immer eher die ernsthaften Frauen.
Das will ich nur vorweg sagen, weil ich beim Betreten meines Zimmers ihre Beine aus meinem Bett stecken sah. Sie schlief. Nein, sie pennte. Angezogen und mit ihren Springerstiefeln an, lag sie in in meine Bettdecke eingewickelt und schnarchte. Ich war totmüde und legte mich daneben.
Als ich einige Stunden später aufwachte, hatte ich eine Latte. Mein Schoss war gegen ihren Hintern gepresst und mein linker Arm auf ihrem Oberschenkel unter dem Rock, den ich irgendwie hochgezogen haben musste. Naja, ein richtiger Rock war es nicht, sondern so ein breiter Fetzen Leder, den die Punkfrauen damals immer über ihren drei Lagen zerrissener Nylonstrümpfe trugen. Es war mir peinlich und ich zog erschrocken meine Hand zurück. Daraufhin drehte sie sich um und lachte mich an. Dann merkte ich erst, dass sie die ganze Zeit schon ihren hübschen Arsch gegen meinen Schoss reibte. „Dir macht man aber leicht eine Latte“ sagte sie und lachte weiter. Ich drehte mich um und liess mir meine Verlegenheit nicht anmerken, sondern fragte sie mit einer verschlafenen
Stimme, wo sie denn gestern gewesen sei. Sie sagte sie sei erstmal Clumsy fast eine ganze Stunde lang nachgelaufen, und als sie sich nach einem nervigen Katz-und-Maus-Spiel endlich an der Leine nehmen liess, hatte sie es nicht geschafft Clumsy in die Nähe des Hauses am Springweg zu bekommen. Das Problem mit Clumsy war nunmal ihre Grösse und ihre Stärke, was sich normalerweise zwar nie als Problem dargestellt hatte, da sie ein träger und gutmütiger Riese war, aber so sieht man halt mal, dass das doch schon ab und zu relevant sein kann. Clumsy hat irgendwie ein Problem mit diesem Haus. Vielleicht knüpfte sie traumatische Erinnerungen an jenes Haus, obwohl Roos das ausschliessen wollte, da sie ja kein Utrechter Hund war, oder vielleicht hätte da irgendein unsympathischer Rüde sein Territorium markiert, Clumsy war schliesslich ja nicht die paarungswilligste aller Hündinnen.
„Und warum drehst du dich jetzt weg von mir?“ wollte sie anschliessend wissen „ich fand das sehr angenehm, komm, dreh dich wieder um“. Also drehte ich mich wieder um und drückte meine Latte gegen ihren Hintern.
So konnte ich unmöglich weiterschlafen. Ich musste das Thema wechseln.
„Du Roos, im Springweg da spukt es“, sagte ich und drehte meinen Mund ein wenig zur Seite, da ich sie nicht mit meinen morgendlichen Mundgasen ausräuchern wollte. Sie tat es als Quatsch ab doch ich wies sie auf Clumsy hin, dass Hunde doch diesen ausgeprägteren sechsten Sinn haben, und, dass es bei diesen drei tragischen Toden im Springweg durchaus Sinn machte. Dann erzählte ich ihr vom vorigen Tag, die Szene mit den bellenden Hunden und die Geräusche nachts im Zimmer der Selbstmörderin.
Sie drehte sich zu mir um, hob ihr rechtes Bein über meine Hüfte und drückte ihren Schoss gegen meinen Hüftknochen. Sie umarmte mich und vergrub ihr Gesicht in meiner Brust. Ich hielt sie etwas steif und manierlich fest. Dann fragte sie: „Warum willst du denn nicht mit mir vögeln?“
Ich sagte, dass ich das nicht gesagt hatte, worauf sie sagte: „Also willst du doch“. Darauf sagte ich erschrocken, dass ich das wiederum auch nicht gesagt hatte. Deswegen sagte sie ich solle mich einfach dazu entscheiden ob ich sie vögeln wolle oder nicht. Ich erklärte ihr, dass sie ja einen hübschen Hintern hatte, aber… „Na dann nimm mich einfach von hinten“.
Ich will nicht abstreiten, dass mich dieses Gespräch durchaus anregte, ihr Hintern auch, aber ich wollte ihr die Sache mit der Liebe und der Romantik erklären, womit ich jedoch nicht weit kam, weil sie ihren Pullover auszog und sagte: „Komm Geisterjäger!“.
Bei Jäger und Tiger und Hengst, da werde ich schwach.
Dann vögelten wir.

Die Früchte, die diese vormittägliche Romanze abwarf, waren, dass Clumsy sehr oft bei mir übernachtete und Roos sich in Cafe Belgie oder im ACU die Birne zersoff. Aber das habe ich schonmal erwähnt. Roos kam dann meistens mitten in der Nacht sturzbetrunken nach hause, pennte ein, und wollte nach dem Aufwachen eine Runde Sex. Dies nur um ein wenig Sex in die Geschichte zu bringen. Tagsüber reparierte ich zusammen mit Jurij und Alex das Dach und den Boden im Seitenflügel vom Springweg. Alex war von der Nikolaasstraat in den Springweg gezogen, obwohl der Nikolaasstraat keine Räumung bevor stand.
Er mochte die Stimmung im Springweg die damals herrschte, dieses alte und schäbige Spukhaus wieder in Schuss zu bringen. Da hatte er eine Mission. Spukhaus war natürlich bloss scherzend gemeint weil die Hunde dauernd die Wände anbellten. Gespenster gab es nämlich nicht. In den ersten Wochen blieb es sonst auch relativ ruhig. Vielleicht aber auch nur weil die vorläufigen drei Bewohner, Jurij, Maleentje und Alex niemals nüchtern ins Bett gingen und wahrscheinlich in tiefem Steinschlaf durchpennten bis die Sonne wieder aufging. Und tagsüber war man immer zu beschäftigt mit dem Bohren und Hämmern, alsdass man etwas Ungewöhnliches -ich nenne es jetzt mal Schwingungen- hätte mitbekommen können. Aber da war ja noch dieser Karel. Karel arbeitete immer schweigsam mit. Niemals in einer Gruppe, sondern immer ganz alleine, redete kaum mit jemandem und guckte eigentlich immer nur irre vor sich hin. Er bewohnte als einziger die Hinterseite des Hauses, hatte sich das unter dem ausgebrannten Zimmer befindliche Zimmer zur Wohnstätte gemacht, hegte jedoch Pläne irgendwas mit dem Ausgebrannten zu schaffen. Er reparierte oft den Schaden in diesem seit 22 Jahren verwahrlosten Zimmer, legte neue Bretter auf den Boden, bestrich die verkohlten Balken mit mehreren dicken Lagen Farbe und verputzte später die Wände neu. Das Zimmer wurde letztendlich sehr ansehnlich und schliesslich zog er auch dort ein. Karel war komisch. Als im Springweg eine neue Mitbewohnerin einzog, Greetje hiess sie, die sich im Seitenflügel niederliess, erzählte sie oft von Karels unheimlichen Ritualen, wie er fast jeden Abend am Fenster eine Kerze anzündete und die Flamme mit Handbewegungen zu beschwören schien. Oft erfasste ihn eine merkwürdige Wut, dann fing er an laut zu fluchen. In dieser Wut fing er auch öfter an mit einer Steinschleuder kleine Geschosse auf das Hinterhaus zu schiessen.
Einfach in die Dunkelheit der verlassenen Scheune hinein.
Er war der einzige der sich mit diesem Hinterhaus zu beschäftigen schien. Vorne bekam es niemand mit, nur Greetje bemerkte das, weil sie sozusagen direkten Blick in sein Zimmer und auf den Hinterhof hatte.
Einmal war Karel nachts in die Scheune gerannt und hatte laut geschrien. Ohne Licht und Plan kletterte er über das ganze Sperrholz und rostigen Metallen und Dreck in jenes Gebäude hinein. Nach fünf Minuten rief sie seinen Namen, weil sie anfing sich Sorgen zu machen, aber er antwortete nicht. Sie traute sich nicht ihn zu suchen, weil sie sich mittlerweile vor ihm fürchtete. Und erst recht war ihr unwohl dabei nachts zu Karel in das finstere, hintere Haus zu gehen. Sie verliess das Haus und ging ins ACU auf ein paar Biere.
Am nächsten Tag traf sie Karel im Flur mit verbundenen Händen, der sich jedoch um eine Erklärung zu seinen Verbänden drückte.

Die Geschichte mit Karel bekam eine merkwürdige Schleife, die uns alle ein wenig überforderte. Als einmal eine Bekannte von Greetje zu Besuch kam und während den Arbeiten Karel zu Gesicht bekam, schrie sie laut auf und fing an ihn anzupöbeln. Karel hatte einmal versucht eine Freundin von ihr zu vergewaltigen und sowieso sei er ein irrer Junkie, der seit diesem Vorfall Hausverbot im besetzten Haus am Vismarkt auferlegt bekommen hatte. Vismarkt 4/5 war ein grosses Haus voller Hippies, mit dem wir -wir, von der etwas militanteren und steineschmeissenderen Sorte- immer Probleme hatten.
Eigentlich war es bloss Neid, weil das Haus selbst ein Traum war. Riesig gross, in der schönsten und fast teuersten Strasse der Stadt, direkt an der Gracht, neben dem Rathaus. Die Hippies hatten dort eine Kneipe, die überdies noch gut besucht war. Und natürlich gingen wir dort immer gerne hin, auch wenn wir mehr die Typen vom ACU waren, aber die Stimmung war dort besser. Weniger Licht, bessere Musik und sogar billigeres Bier. Wir sassen dort gerne um uns über die ganzen Batiktücher aufzuregen, weil Hippies eben immer und überall Tücher aufhingen und wir regten uns über den Leute auf die in den Ecken kifften, aber trotzdem hingen wir dort oft herum.
Was jedoch intern in der Vismarktszene abging wussten wir nicht. Das war eine eigene Szene. Deshalb überraschte uns auch die Sache mit Karel.
Bei uns als hauptberuflichen Hausbesetzern stand das Wohnrecht über das Menschenrecht. Weil wir alle unsere Taten, so kriminell sie auch waren, mit dem Recht auf Wohnung legitimierten. Aber da unsere Szene eigentlich
sehr homogen war, kam man mit Verrückten eigentlich nie in Kontakt. Die Szene war nicht absichtlich homogen, nein, man wollte schliesslich offen sein für alles, aber richtig aktives Häuserbesetzen fordert eben einiges an Tatkraft ab. Häuser zu besetzen ist etwas anderes als in ein leerstehendes Haus einzubrechen um einen Schlafplatz zu haben. Deshalb fiel ein Grossteil der Menschen schonmal ab. Als im ACU in den Siebzigern die Besetzersprechstunde gegründet wurde, führte man schonmal Auftragsbesetzungen durch. Für Gastarbeiterfamilien oder später für Flüchtlingen, aber diese Zeiten waren mitte der neunziger schon vorbei. Da war es nur noch eine Szene die mit Feuer und Bier die Wohnungspolitik mitgestaltete.
Richtig gefährliche Menschen, oder Menschen die für ihre psychischen Probleme professionelle Hilfe brauchten, gab es damals nicht bei uns. Im Vismarkt vielleicht, aber das ist wieder eine andere Sache. Und Karel war sowohl gefährlich als auch von schweren psychischen Problemen geplagt. Überdies hatte er einen Hang zum Heroin.
Weil es aus ethischen Gründen für uns unvorstellbar war, einen Bewohner aus dem Haus zu schmeissen, verlief die Diskussion erst im Sande und mit der Zeit wurde einfach nicht mehr darüber gesprochen. Völlig verantwortungslos gegenüber Greetje natürlich, die die Wahl hatte mit einem potentiellen Vergewaltiger zusammenzuleben oder auszuziehen. Doch sie blieb. Vor allem weil sie nicht der Typ Frau war, der sich nicht wehren konnte. Glaube ich. Jedoch kam es zum Glück niemals zu Zwischenfällen.
Karel fing dann an mit dem Feuer zu spielen. Erst jonglierte er mit brennenden Bällen im Hinterhof, doch schlimmer wurde es als er anfing mit langen Ketten auf dem platten Dach des Seitenflügels zu stehen, an denen er brennende Kugeln festmachte, die er dann in einem weiten Bogen herumschwang. Stundenlang. So begannen einige kleinere Probleme mit den Nachbarn, die Angst bekamen und die Polizei riefen. Polizei kam nicht ins Haus, das war klar, aber niemand unternahm auch wirklich etwas gegen Karel.

Als es im Springweg 23 am einem Novembertag am frühen Morgen heftig brannte, war Karel eigentlich schon seit einigen Tagen nicht mehr gesichtet worden, deshalb kam man auch nie auf den Gedanken ihm dafür die Schuld zuzuweisen, obwohl die Versicherung des Gebäudes später nachweisen konnte, dass es sich tatsächlich um Brandstiftung gehandelt hatte.
Als ich, nachdem ich alarmiert geworden war im Springweg ankam, stand Jurij draussen mit viele Nachbarn und anderen Schaulustigen herum. Es hatte im Dachzimmer gebrannt. Im Zimmer mit dem umgefallenen Stuhl. Ich fragte Jurij wie das geschehen konnte, aber es sagte er wisse von nichts, er habe geschlafen und dann sei er plötzlich von Catsros Bellen aufgewacht. Normalerweise kriege er ihn ja immer zum Schweigen -ich wisse ja, dass er im Springweg immer völlig grundlos drauflosbellt- aber diesesmal wollte er nicht aufhören. Dann habe er den
Rauch gerochen und sei aus dem Haus geflüchtet. Das ganze Treppenhaus war schon vollgequalmt gewesen. Dann habe er Berta aus dem Bett geklingelt und die habe dann die Feuerwehr gerufen.
Ein ausgebranntes Haus kann einem die Stimmung gehörig vermiesen. Nachdem es gebrannt hat, riecht ein Haus sehr unsympathisch und wenn es regnet, tröpfelt es zusätzlich noch ins Haus herein. Zumindest wenn das Dach beschädigt war. Und das war hier der Fall. Und von den Kosten um das alles zu reparieren will ich gar nicht sprechen. Zudem war das ganze Haus von den Löscharbeiten nass geworden.
Natürlich war mein erster Verdacht Karel, aber Jurij winkte ab, der habe den Schlüssel zum Vorderhaus nicht gehabt, der könne das nicht gewesen sein.
Wenn ich jetzt mal ganz fest nachdenke, dann habe ich seitdem nie mehr etwas von Karel gehört noch gesehen oder sonstwie vernommen. Er war aufgetaucht und wieder von der Bildfläche verschwunden. Nein, ich will jetzt keine grusligen Spekulationen anstellen und mir ausdenken, dass er vielleicht in den Flammen umgekommen ist, sozusagen als Erbe des verbrannten Sohnes, weil er ja in gewissem Masse, obsessiv sein Zimmer bewohnte, aber doch stimmt mich das nachdenklich.

Es war erstmal tragisch, jedoch fasste man schnell neuen Mut, alle Bewohner zogen vorläufig an die Hinterseite und in den Seitenflügel, und danach schaffte man es das Haus ziemlich schnell wieder zu reparieren.
Nur das Dach blieb provisorisch. Aus der Vogelperspektive sah es mittlerweile bestimmt aus wie ein Fleckenteppich aus, gut die Hälfte bestand schliesslich aus verschiedenfarbigen Planen. Wirklich wasserdicht wurde es nie mehr, die Planen waren ja auch nur als Provisorium gedacht. Dauernd lagen Stellen frei, oder regnete es an den Schnittstellen untendurch, aber der Aufwand das Dach wieder ordnungsgemäss zu reparieren war zu gross. Und zu teuer.
Jedoch war es ein guter Grund das Zimmer der Selbstmörderin endlich zu übertünchen. Neue Bretter an den Boden (Boden ist ein grossherziges Wort, eigentlich waren es nur verkohlte Balken die einem freie Sicht ins untere Zimmer gewährten), Lackfarbe an den Dachbalken und irgendwann später wurden auch die Wände geschliffen und gestrichen. Der umgefallene Stuhl war weg. Und das war gut. Die ganzen verkohlten Stellen an der Aussenmauer liessen wir stehen, das verlieh dem ganzen einen dramatischen Eindruck.

Als die Vorderseite wieder bewohnbar war, zogen Jurij und Alex in ihre Zimmer zurück und Maleentje blieb an der Hinterseite, im ursprünglichen Zimmer von Karel, nachdem dieser in das ausgebrannte Zimmer hochgezogen war.
Maleentje war es die dann eines Nachts eine Frau im oberen Geschoss der hinteres Hauses stehen sah, die zu ihr herüberschaute. Eine etwa dreissigjährige Frau mit langen Haaren.
Maleentje war nicht die Sorte Frau die an Gespenster glaubte, eigentlich war ich der einzige der davon sprach, aber beim Anblick dieser Frau wurde ihr anders zumute und rief das ganze Haus beieinander. Niemand sah danach auch nur die kleinste Andeutung einer Frau in der Scheune. Und man lächelte. Eine Spiegelung war auszuschliessen. Erstens hatte Maleentje kein langes Haar und zweitens hatte die Scheune keine Fenster in der sich eventuell ihr Abbild hätte widergegeben werden. Sie war aufgescheucht, doch im Laufe des Tages, als ich sie dann traf, war sie wieder entspanner. Solche gruselige Vorfälle sehen tagsüber immer wieder ganz anders, rationaler aus. Vielleicht war es schlaftrunkenheit, oder eine optische Täuschung, da es sehr gut sein konnte, dass sie erst in eine Lampe geguckt hatte und sich dann ein Bild auf der Netzhaut eingebrannt hatte. Wer weiss, tagsüber sieht die Welt wieder anders aus.
Als sie dann in der nächsten Nacht jedoch vier tanzende Lichter hinter den finsteren Fenstern der Scheune sah, reichte es ihr, weil die Lichter auch bei näherem Hinsehen noch da waren und auch nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie nicht schlaftrunken war oder kurz vorher in eine Lampe geguckt hatte. Sie zog in jener Nacht noch aus und kam zu uns in die Lange Nieuwstraat.
Diese unheimlichen Dinge geschahen immer in Schüben. In den nächsten Tagen waren auch die Hunde wieder unruhig.

Obwohl eigentlich nur Castro wirklich dort wohnte, gab es im Springweg immer Besuch. Und auch Besuch mit Hunden natürlich. Über mehrere Tage hinweg bellten die Hunde beim Hereinkommen erstmal die Wände ab und beruhigten sich erst nach zehn Minuten wieder. Wenn man dann in einer geselligen Runde beim Bier oder beim Kaffee sass, dann sprangen sie öfter mal auf, knurrten ins Leere, oder bellten und sassen sich nach ein paar Minuten wieder hin. Danach war zwei oder drei Wochen lang Ruhe.

Im Januar oder Februar flog ein Brief des Anwalts des Besitzers durch den Briefenschlitz. Anklage gegen die Bewohner des Gebäudes Springweg 23. Man habe vor Gericht zu erscheinen. Ich will mich jetzt nicht in Details
über den Prozess und den Anwaltsbesuchen verlieren, weil ich daran nicht teilgenommen habe, es sei nur kurz gesagt, dass der Besitzer einen Mietvertrag vorzuweisen hatte und deshalb das Gebäude geräumt werden müsse. Beim Gedanken, dass er bei diesem Zustand des Hauses einen Mieter gefunden hatte, war schnell deutlich, dass das ein Bluff war. Der Prozess wurde verloren, obwohl ich glaube, wenn man einen vernünftigen Anwalt genommen hätte, wäre die Sache vielleicht zu gewinnen gewesen. Aber das ist nicht mein Gebiet, deshalb will ich mich dazu auch nicht weiter äussern. Ende Februar musste das Haus geräumt sein, sonst würde es am 1. März von der ME (mobile eenheid) geräumt werden.

In der ersten Nacht nach dem Prozess brannte des Besitzers Porsche, der Anwaltskanzlei wurden alle Fenster eingeschlagen (besonders heulten sie sich in der Zeitung über den teuren massiv-hölzernen Tisch aus, der von den Farbbeuteln völlig verschandelt wurde) und das Rathaus bekam Parolen an die Fassade geschmiert. „Springweg 23 blijft“ stand in den Folgetagen an jedem zehnten Haus, an Schaufensterscheiben und auf Transparenten die aus befreundeten Häusern hingen. Es war vor allem der Räumungsgrund, mit dem wir alle Trümpfe in der Hand hielten. Ein Mietvertrag für eine Ruine. Die Nachricht verbreitete sich erst in den einschlägigen Medien von Amsterdam bis nach Den Bosch, und erreichte am Vortag der Räumung sogar die nationale Presse.
All diese Nachrichten fachten die Stimmung an. Sowohl innerhalb der Szene wollte man das Haus behalten, als auch in den Medien wurde Utrecht auf eine Eskalation vorbereitet.
Springweg 23 wurde bis in die erste Etage mit Bettrosten und alten Fahrrädern zugeschweisst. Dahinter wurden Unmengen an Sperrmüll aus der Nachbarschaft und den befreundeten Häusern einfach dazugeworfen, bis wir in der letzten Nacht die 5 Menschen die im Haus verblieben waren, mittels einem Eimer am Seil ernährt werden mussten. Das Haus war dicht wie ein Bunker. Höchstens mit einem Kran hätte man in den oberen Etagen in das Gebäude einsteigen können, aber die randalierende Menge auf der Strasse würde schon dafür sorgen, dass kein Fahrzeug auch nur in die Nähe des Hauses kommen würde.

Der ganzen Spannungen im Vorfeld wegen, versuchte die Polizei erst eine deeskalierende Politik, indem erst die sogenannten Sociocops kamen und mit den Leuten die im Haus verbarrikadiert waren, reden wollten. Doch wenn man zum Mariaplaats hochlief oder in der Lange Smeestraat um die Ecke guckte, dann sah man schon die Wasserwerfer und Arrestatiebussen aneinandergereiht stehen wie Sardinen.
Zum Erstaunen aller Anwesenden Besetzer -vor dem Haus hatten sich etwa hundert vermummte und weniger vermummte Menschen versammelt und mit Sofas, auf denen sie sassen, die Strasse verriegelt- kam plötzlich die alte Berta, mit einem ganzen Schlagerchor auf die Strasse, stellten sich vor Polizisten und den Fernsehteams und fingen an – zu singen! Die Nachbarn jubelten von den Fenstern, viele kamen auf die Strasse und klatschten und es kam eine plötzliche Feierstimmung auf. Berta gab daraufhin Interviews, dass das Haus doch sowieso nur leer zu stehen käme, weil der Besitzer nie und nimmer einen echten Vermieter für diese Ruinen bekommen würde, das sei alles bloss eine grosse Lüge und sie wollen hier keine Junkies mehr in dem Haus haben, sondern ordentliche Leute, wie die Hausbesetzer eben. Das ganze dauerte bestimmt über einer halben Stunde, alle Journalisten bekamen Interviews der Nachbarn, die dann auch wieder mit Krakelingen daherkamen, doch die Sociocops bekamen meist nur ein knappes „Wir bleiben“. Die beredeten Polizisten wollten nicht im klassischen Sinne verhandeln, sondern uns bloss zur Vernunft bringen das Gebäude in Frieden zu verlassen. Politik wurde also keine mehr geschrieben, deshalb wurde plötzlich der Hausrat auf der Strasse gestapelt und ging gleich darauf in Flammen auf. Die Polizisten verzogen sich und dann sah man schon oben am Mariaplaats sich Formationen der ME bilden. Von der Lange Smeestraat kam eine Wand behelmter Schutzschilder im Gleichschritt daher. Auch an der Seite der Langen Smeestraat brannte daraufhin der Hausrat. Einer von den Leuten im Haus selber rief auf die Strasse, dass ein ganzes Peloton der ME vom Gelände des Deutschen Ritterordens her das Haus angriffen. Damit hatte man jetzt nicht gerechnet, da gab es keine Verteidigung. Als einige der Leute auf der Strasse die ganze Runde liefen um auf das Gelände des Deutschen Ritterordens zu kommen, war es schon zu spät. Eine ganze Horde behelmter Spezialisten waren auf das Dach geklettert und machten sich schon daran mit einer Motorsäge die Barrikaden vom Dach des Seitenflügels in die Hinterseite des Hauses aufzusägen. Spätestens dann war schon deutlich, dass man sich nicht mehr wehren konnte. Das wussten aber nur die wenigsten.
Vorne auf der Strasse wurde den Nachbarn nahegelegt ins Haus zu gehen und die Fenster zu schliessen, worauf sie Folge leisteten. Nur Berta protestierte: „Ben je gek?“ Ob wir verrückt seien, das bisschen Feuer und Rauch täten ihr nichts. Was wir denn wohl glauben würden, früher stand sie ja auch immer auf den Barrikaden. Die Scheissbullen kämen ihr nicht in die Quere.
Sie stellte sich mit verschränkten Armen vor die Tür 23 bis und bewegte sich keinen Zentimeter mehr von dort weg.
Es war etwas befremdlich. Mit dieser alten Frau wollte man keine richtige Konfrontation angehen, es konnte schliesslich gefährlich für sie werden, aber es hatte eine durchaus interessante Wirkung. Man koordiniert auf Besetzerseite kaum je etwas, (was heisst hier „kaum“, nein, eher „nie“), jedoch liess man die ME näher kommen und obwohl die meisten Leute Steine in den Händen hielten fing niemand an zu schmeissen. Als die erste Reihe gepanzerter Polizisten die Barrikaden überwunden hatten, was das späteste Zeichen dafür war, endlich einen Steinehagel loszulassen, wichen wir zurück. Liessen die Steine fallen und folgten Bertas Beispiel. Wir stellten uns mit verschränkten Armen vor das Haus. Die Sofas wurden vor die Türen gestellt und man setzte sich drauf.

Letztendlich verlief alles unspektakulär. Die ME war nach einer Stunde des Sägens undBohrens in das Haus gelangt, hatte die Anwesenden drinnen festgenommen und über die Hinterseite abgeführt.
Vorne an der Strasse wurde niemand festgenommen, die ME blieb auch die ganze Zeit über auf Abstand. Die Bilder von Berta, Arm in Arm mit den Besetzern gingen jedoch durch die Fernsehstationen und Zeitungen des ganzen Landes.

Den Nutzen dieser friedlichen Aktion lernten wir erst in den nächsten Tagen zu schätzen. Weil wir gleich darauf beschlossen Springweg 23 ein drittes mal zu besetzen. Und zwar ohne lange zu warten. Jurij hatte einen Plan.

(Spätestens an dieser Stelle würde ich mich als Leser furchtbar aufregen und nie wieder dieses Weblog anklicken. Weil ich Serien hasse. Weil ich bei Serien immer bis zur nächsten Folge in Aufregung bin. Am schlimmsten fände ich es jedoch, wenn der Autor die letzte Folge ankündigt, und bei der letzten Folge dann doch wieder nicht hält was er verspricht. Vor allem wenn eine Trilogie dann aus vier Teilen zu bestehen scheint. Also ich, würde jetzt gehen. Für diejenigen die bleiben, gibt es jedoch demnächst die vierte Folge.)

Neu: die vierte Folge.

Springweg 23

Eine gruselige Trilogie mit coolen Untertiteln

Als wir das erste Mal das Haus am Springweg 23 besetzten war tiefster Winter, Januar 1996, der kälteste Winter seit Dekaden. So kalt, dass die Grachten zugefroren waren, und in der asbestverseuchten Schule in der ich zu dem Zeitpunkt wohnte, stellten wir schon die Bierflaschen in den Kühlschrank um sie vor dem Erfrieren zu bewahren. Jedoch war der Winter auch überaus amüsant, wenn ich jetzt daran zurückdenke, wie wir uns alte Schlittschuhe besorgten und von Ufer zu Ufer schlittschten, weil dort an der Gracht an der Kaimauer die Kneipen waren. Ein Bier hier, ein Bier dort, schlitsch, mit dem Arsch wieder aufs Eis, die Knie auch gleich dazu, am anderen Ufer an die Mauer gelehnt und das nächste Bier bestellt und irgendwann war man so besoffen, dass man vierbeinig über das Eis kroch und mit ein wenig Glück irgendwann nachhause kam.
In jenem Winter war meine Sorge das Wohnen, da ich gerade in den Niederlanden gelandet war und ich in jener Schule nur vorübergehend das Gästezimmer bewohnte. Ziemlich bald hatte ich mich aber schon auf das alte Pferdeschlachthaus am Springweg fixiert. Ich mochte dieses heruntergekommene Haus in dieser etwas düsteren Strasse mitten in der Alstadt. Parallel zur Oude Gracht, gleich dahinter sozusagen, ein wenig verschlafen und nachts sehr dunkel.
Wenn ich nachts dort durch die Strasse lief, um an der Nummer 23 mögliche Einstiegsmöglichkeiten zu suchen, kam ich mir immer wie im tiefsten Mittelalter vor. Es gab nur vereinzelte Lanternen, die Strasse war sehr grob gepflastert, die Häuser standen nahe aneinander, sowieso war die Strasse eng und alle Häuser waren uralt.
Springweg 23 war eines dieser typischen Utrechter Häuser aus der Zeit um 1850, drei Fenster schmal, drei Stockwerke hoch, spitzes Dach, kleiner Innenhof und ein etwas niedrigeres zweistöckiges Hinterhaus. An der linken Seite war ein kleiner, vergitterter Steg durch den man das Dach des Hinterhauses erblicken konnte und rechts davon zog sich eine sehr alte Steinmauer davon, hinter der sich das Gelände des ehemaligen deutschen Ritterordens befand. Die kleine Gruppe Leute mit denen ich dort wohnen wolte, sechs Menschen, war genau richtig. Keine grossen Häuser mehr, kein unkontrollierbarer Haufen von fünfzig oder mehr vergammelter Künstler oder hundehaltender Dosenbierpunks, sondern eine kleine Familie halt, trautes Heim, ein Holzofen und eine grosse Küche in der wir abends beinander sitzen wollten und uns Geschichten erzählen. Ja, das wollte ich.

Springweg spricht man ßprinngwech aus, sp wie Spacecake, nicht wie Spiegeleier oder Springerverlag. Und mit einem kurzen e, wie Becks. Und so brachen wir an einem eiskalten Januartag, in allerherrgottsfrühe zum Springweg auf um an der Hausnummer 23 die Türen aufzubrechen. Unser etwa fünfzehn Leute. Wir stellten unsere Fahrräder auf sicherem Abstand ab, ich steckte Vorschlaghammer und Brechstange unter die Jacke und stapfte auf die Tür zu. Es waren eigentlich zwei Türen, eine für das Vorderhaus, die Nummer 23, und eine für die Hinterseite des Vorderhauses und den Hof samt Hinterhaus, die Nummer 23 bis. Die Türen gingen auf wie ein Pizzakarton. Nichtmal der Rede wert.
Ich war überrascht von diesen Holländern, wie gut organisiert sie zur Tat schritten. Nachdem ich die Türen aufgebrochen hatte, montierte mein Kumpane Alex, mit dem ich zusammen die bescheidene Brechtruppe bildete, sofort ein dickes Schiebeschloss auf die Innenseite der Tür und der Rest der Truppe, der an allen Ecken, mit Thermoskannen und Decken gerüstet Schmiere standen, auf Alex‘ Pfeifen hin alle gleichzeitig losspurteten und ins Haus stürmten. Der Riegel ging zu: Gekraakt! Besetzt eben. Sehr sauber wie das alles ablief, da in diesem Holland.
Und dann die Formalitäten. Die Polizei anrufen, das machen die Hausbesetzer in Holland selber. Gleich morgens schon, als erstes nachdem das Haus in Beschlag genommen war. Einer der Besetzer der Schmiere steht, betritt nicht das Haus, sondern läuft zur nächsten Telefonzelle. Es gab in ’96 noch keine Mobilfunke. Die Polizei kommt dann in der Regel eine Stunde später, man lässt sie rein, sie überprüfen ob das Haus auch wirklich leer steht und gehen anschliessend zum Staatsanwalt, der daraufhin ein Urteil fällt ob die Besetzung widerrechtlich ist oder ob sie toleriert wird. Reine Routine.
Man darf sich bloss nicht beim Brechen der Türen erwischen lassen, weil dann geht es ab in den Knast. Das ist illegal.
Weil wir äusserst routiniert zu Werke gingen, geschah es schonmal, dass die ganze Aktion derart daneben ging, dass es für die doofesten Hausbesetzer des Königreiches Preise geben sollte. So geschah es einmal, dass mein fester Telefonierer, das heisst, derjenige der nach der frischen Besetzung die Polizei anrufen sollte, keine Zeit für die Besetzung hatte, weil er unbedingt irgendwas wichtiges erledigen musste. Da fragt man sich natürlich erstmal ob es denn überhaupt etwas wichtigeres gibt als ein Haus zu besetzen, aber manche Leute setzen komische Prioritäten. Jedenfalls gefiel nicht jedem die Arbeit des Telefonisten. Den meisten war es gar ein Gräuel sich mit der Staatsmacht abzugeben. Man sagte man hasse das, aber wahrscheinlich bekamen die meistens Revolutionäre bloss wildes Herzklopfen, oder kamen ins Stottern, wenn sie einen Polizisten am Hörer hatten. Ich war immer der mit der Brechstange, für die richtige Arbeit sozusagen, ich konnte daher nicht anrufen. Weil ich immer denselben Telefonisten hatte, und mich dieser unstete Umstand sehr durcheinander brachte, sagte ich ihm er solle sich nicht so anstellen. Nach kurzem überlegen schlug er vor, die Polizei einfach von einer Telefonzelle in der Uni aus anzurufen. Wir brachen um acht zum Brechen auf und er würde um zwanzig nach acht zum Hörer greifen. So geschah es dann, dass diese verdammte Tür in der Annastraat nicht aufgehen wollte. Das Brecheisen ging ohne Hilfe des Hammers sofort in den Türspalt, doch sie war wie Gummi, sie gab zwar nach, war aber sehr zäh, kein brüchiges Holz. Ein Kumpane steckte kleine Metallkeile in die öffnung die ich aufgemacht hatte, damit ich von dort aus mit dem Brecheisen noch einmal ansetzen konnte, aber das Schloss brach nicht durch. Wir liessen uns Zeit. Die Strasse war sehr ruhig, weil sie hauptsächlich aus Hinterseiten von Läden bestand. In der Annastraat waren wir nur eine kleine Gruppe junger Männer. Niemand stand Schmiere sondern jeder kümmerte sich nur um diese hartnäckige Tür. Wir testeten Techniken aus diskutierten über fehlendes Werkzeug, weil wir halt Männaer waren. Eine Viertelstunde später, stieg ein ungeduldiger Mitkämpfer die Fassade hoch um im ersten Stock das Fenster einzuschlagen und dann die Tür von Innen zu öffnen. Als er jedoch halberwege an der Regenrinne baumelte, bog ein Streifenwagen westlich in die Annastraat ein, wodurch uns die Sache mit dem Telefon wieder einfiel. Die beiden Polizisten im Wagen schienen wohl auch ein wenig überrascht davon zu sein, dass wir uns gar nicht im Hause selbst befanden sondern noch mit Brechstangen uns an der Türe zu scshaffen machten, denn der Wagen bremste kurz, dann ging erst das Blaulicht und die Sirene an, und daraufhin fuhren sie eilig in unsere Richtung. Weil niemand von uns Lust auf Knastessen hatte und auch die Gefängnisbibel schon hundertmal durchgelesen war, rannten wir um unser Leben. Nicht nur darum. Aber das klingt eben besser.

Bei der ersten Besetzung des Springweg 23 verlief jedoch alles sauber. Fast alles. Lediglich Roos‘ Hund Clumsy überfiel an der Eingangstür plötzlich eine Panikattacke und lief anschliessend wie verrückt in Richtung Mariaplaats hoch. Sofern man von hoch und runter sprechen kann in Holland. Sie lief jedenfalls Richtung Norden, und Norden ist immer oben.
Ich will ja nicht schlecht von den Toten sprechen, weil Clumsy vor einigen Jahren gestorben ist, aber Clumsy war halt, naja, wie soll ich sagen ohne schlecht über sie zu reden, aber sie war halt (Komm Mek, jetzt stell dich nicht an) ein sehr dummer Hund. Sie war gross und stark und wenn ich mich nicht täusche, floss sogar edles Blut durch ihre Venen. Aber sie war halt elend dumm. Was vielleicht den Namen erklärt. Sie war jedoch gutmütig und absolut liebenswürdig, deshalb tuhe ich mich auch so schwer, schlecht über sie zu sprechen. Aber zusätzlich war sie auch noch unheimlich träge und auch dauernd deprimiert, und so sah sie auch aus, weil zwei riesige Augenringe von ihren treuen Hundeglotzern herabsackten, parallel zu den hängenden Backen. überdies runzelte sie auch noch die Stirnfalten, sodass man in ihrer Gesellschaft nichts anderes mehr als Nick Cave oder die BadSeeds aufzulegen vermochte. Ich schwöre es, wenn ich alleine zuhause sass und alte Briefe las während sie vor mir kniete und mich beim Ship Song so anguckte wie sie halt immer tat, dann war ich den Tränen dauernd nahe und musste sie, um michselbst zu schuetzen, heulend umarmen. Ein liebenswürdiger Hund war sie, das schon.
Deshalb war es etwas merkwürdig Clumsy plötzlich so aufgeweckt zu sehen. Als sie vor der Tür stand, die ich für die restlichen Mitrevolutionäre aufhielt, fing sie auf einmal an zu bellen und machte einige entschlossene Schritte rückwärts. Ich guckte Roos an, die von Clumsies aufmüpfigem Verhalten ebenso verwirrt zu sein schien. Roos zog an Clumsies Leine, jedoch war der Hund keinen Meter zu bewegen. Ich wollte mich nicht einmischen, nicht mein Hund, und viel zu gross. überdies kannte ich Clumsy damals noch nicht so gut, damals war ich noch nicht ihr ständiger Babysitter während Roos sich in den Kneipen die Birne zersoff. Darum wartete ich ab. Roos redete ihr gut zu, zog an der Leine, ging auf sie zu, doch jedesmal entfernte sich Clumsy noch weiter von der Tür. Als Roos dann böse wurde und Clumsy anbrüllte, nahm sie reissaus und lief die Strasse hinauf. Nach Norden also. Roos rannte daher ihrem Hund nach. Aber sonst war jeder innerhalb einer Minute im Haus.

Von innen war das Gebäude alt und zum grossen Teil sehr verlottert, vor allem die hintere Seite, aber vorne war es noch halbwegs bewohnbar. Für die Hinterseite hätte man teilweise den Boden rausreissen müssen und neue Bretter in den Flur und in den Zimmern legen. Eines der Zimmer an der Hinterseite war zum fast vollständig verkohlt. Die Balken und Fensterrahmen. Und die Wände waren schwarz vor Russ. Auch neue Fenster mussten fast überall eingesetzt werden, oder halt Glas auf die Löcher geklebt. Das schlimmste aber waren wohl die ganzen Blätter, eine richtige dicke Lage und menschliche, sowie tierliche Fäkalien, die den ganzen hinteren und grösseren Teil des Wohnhauses bedeckten. Ich war in jener Zeit schon an einiges gewohnt, aber Menschenscheisse war mir immer zuwider. Ein Zeichen einer völlig verkümmerter Existenz das mich immer sehr berührte, irgendwo zwischen Herz und Magen. Jedenfalls ging ich davon aus, dass sich in einigen Wochen die grösseren Schäden bestimmt beseitigen liessen. Nur das hintere Haus entpuptte sich als unbewohnar. Für Menschen jedenfalls. Das Hinterhaus war eher eine Art Stall, das Gebäude in dem früher wahrscheinlich die Pferde geschlachtet wurden. Seitdem der Fleischer die Hütte verlassen hatte, wurde in jenem Gebäude wahrscheinlich keinem Gewerbe mehr nachgegangen. Und gemessen an der Anzahl Tauben und Vögel die dort lebten, musste das schon sehr lange her gewesen sein. Sowieso war dort kein Durchkommen. Alles stand vollgebaut mit Maschinen und altem Holz an dem dicke Spinnweben und faulende Blätter hingen und klebten. Das Hinterhaus wurde stillschweigend zum ausgeschlossenen Gebiet erklärt. Auch bei den späteren Besetzungen hat man sich nie um das Hinterhaus gekümmert.

Die alte Frau von schräg gegenüber hiess Berta. Eine alte Kommunistin. Berta war weit über sechzig, klein, dick und laut. Und wenn sie lachte, fühlte man den Boden unter den Füssen zittern. Berta war aber ausgesprochen freundlich und schien in der Strasse so eine Art übermutter zu sein. Sie brachte uns frischen Kaffee und Krakelinge. Ich liebte Krakelinge, die kleinen, süssen Kekse in der Form von Brezen, nur kleiner. Krakelinge, weil wir Krakers waren, Besetzer halt und den Kaffee gab sie uns weil wir starke Nerven brauchten. Ins Haus hinein wollte sie nicht kommen, aber liebend gerne unterhielt sie sich mit uns vor dem Haus, erzählte von der Strasse, wie es früher hier war, dass damals hier nur Kommunisten wohnten und man bei ihr in der Küche revolutionäre Versammlungen hielt. Ich glaube es lag an Berta, dass sich dann in kurzer Zeit mehrere Nachbarn zu uns gesellten, alsob ihre Anwesenheit eine Art Signal für die Nachbarschaft gewesen wäre, als Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Man hatte ja die Polizei gesehen und es gingen plötzlich viele schräge Leute in der Nummer 23 ein und aus. Besetzer hatte man im Springweg schon lange keine mehr gesehen, das letzte mal war schon 8 Jahre her gewesen, als die Nummer 90 besetzt wurde. Aber das war nur von kurzer Dauer, weil der Besitzer am ersten Tag schon mit der Pistole das Schloss kaputtknallte und mit zwei grossen Burschen das Haus erstürmte. Die handvoll Besetzer die sich an jenem Tag in dem Haus aufhielten, fanden, dass das deren Erwartungen von Wohngenuss bei weitem verfehlte, liessen ihre Siebensachen liegen und schafften es gerade rechtzeitig das Gebäude über die Hinterseite zu verlassen.

Eine der Nachbarinnen, eine ältere Dame, auch schon über sechzig, fragte ob sie eine kleine Runde durch das Haus machen könne. Sie wohne nun ja schon beinahe vierzig Jahre im Haus nebenan und wollte jetzt mal wissen wie es hier drinnen so aussah. Ich bot mich als Führer an, weil der lange Flur an der Hinterseite teilweise morsch war und die obere Treppe einige wackelige Stufen hatte. Auf dem Weg durch das Haus erzählte sie mir von der einsamen Frau die hier bis vor etwa einem Jahr gelebt hatte. Sie war die Tochter des Fleischers gewesen. Eine etwas geheimnisvolle Frau die keinen Kontakt mit den Nachbarn pflegte. Man sagt sie sei verrückt gewesen, aber das wusste man nicht so genau, sie habe ja niemanden an sich heran gelassen. Aber wundern würde es sie nicht, ist ja nicht so schön was damals passiert sei, obwohl sie vorher ein durchaus liebenswertes Mädchen gewesen ist. Das klang nach einer spannenden Geschichte und ich konnte mich nicht zurückhalten, daher fragte ich sie was es mit der Sache auf sich hatte. „Ihre Mutter wurde geschlachtet. Hinten im Stall. In kleine Stücke.“ Polizei sei überall im Haus gewesen, tagelang. Es war der Vater gewesen, der Fleischer. Sein Sohn hatte eine Vermutung oder wusste es gar sicher, und hat daraufhin seinen Vater angezeigt. Der kam natürlich gleich ins Gefängnis, der Schurke. Eine kaputte Familie sei das immer gewesen, aber die Tochter war doch immer irgendwie wie eine kleine Sonne, ein zonnetje in huis.
Der Sohn hatte dann angefangen zu trinken und verbrannte in seinem Bett bei lebendigem Leibe. Das war nicht viel später, höchstens ein Jahr. Wahrscheinlich hatte er im Bett geraucht. Ihr eigener Mann machte das ja auch immer, aber der trank zum Glück nie. Er hat es sich auch stillschweigend abgewöhnt seit der Nachbarjunge im Bett verbrannt war. Sie hatte dazu nie was gesagt, aber es sei schon gut, dass er so vernünftig sei, ihr Remco. Naja, und die Tochter blieb in dem Haus noch zweiundzwanzig Jahre wohnen, ganz alleine an der Vorderseite, und war seitdem nicht mehr die alte gewesen. Man müsse doch nur sehen wie sie das Haus verkümmern lassen habe. Bis sie dann letztes Jahr verstarb. Ich zeigte ihr das verkohlte Zimmer und stellte die überflüssige Frage ob das das Zimmer des Sohnes gewesen sei. Sie nickte und fügte hinzu, dass sie es jedoch nicht ganz sicher wisse, es habe halt an dieser Seite des Hauses gebrannt und daher wird es wohl so gewesen sein. Gottogott, zweiundzwanyig Jahre her ist das schon, wiederholte sie mehrmals.
Ins Hinterhaus wollte sie nicht, also brachte ich sie wieder zur Tür. Draussen stand eine Schar alter Weiber um Berta und einigen Revolutionären herum und waren in aufgeregten Gesprächen vertieft.
Aus diesen Gesprächen erfuhr ich, dass die letzte Bewohnerin, die Tochter, sich erhängt hatte. Oben im Dachgeschoss. Da hatte sie wochenlang gehangen bis Verwandte sie entdeckt hatten. Ach es sei doch so viel Elend geschehen in diesem Haus, hoffentlich sei es nun endlich vorbei.
Das hoffte ich auch, und langsam reichten mir diese Geschichten. Ich musste da schliesslich auch noch wohnen.

Bald darauf kam Roos mit Clumsy vom Mariaplaats heruntergelaufen. Sie hatte Clumsy erst hinter der Brücke zur Bemuurde Weerd zu fassen gekriegt. Berta bot ihr Krakelinge und Kaffee an und Roos strahlte. Nur Clumsy war sofort wieder unruhig, bellte in Richtung Tür und zog an der Leine. Diesmal zum Glück ohne wieder reissaus zu nehmen.
„Schau der Hund mag das Haus nicht“ sagte eine der Weiber, und fügte hinzu, dass es sie überhaupt nicht wundere. Das Haus sei verflucht.
Und dann kamen die Geistergeschichten. Eine sah des öfteren Licht im obersten Zimmer, eine andere behauptete sie höre Geräusche von umfallenden Stühlen, eine andere hatte sogar eine singende Mädchenstimme aus dem Haus gehört. Berta regte sich auf, sie solle uns jungen Leuten doch keine Angst machen, und Geister gäbe es nunmal nicht, aber sie liessen sich nicht davon abbringen, weil auch der Hans von gegenüber seit dem Tod der Tochter komische Schleier hinter den Fenstern gesehen hatte, und wir sollten mal die Leute von dem spanischen Lokal fragen, die hatten erst unheimliche Geschichten davon zu erzählen.
Ich war es satt und verliess die Runde.

Ungefähr gleichzeitig kamen zwei Polizisten und fragten nach jemandem der ihnen das Haus zeige, weil sie Leerstand konstatieren mussten. Reine Routine. Ich führte sie durch das Haus. Erst hinten, dann vorne und die Polizisten scherzten, dass da ja Tauben wohnen würden, also nichts mit Leerstand, haha. Im Dachzimmer fiel mir der umgefallene Stuhl zum ersten Mal auf. Wie er dort genau unter dem Balken lag. Man hatte bis auf den Stuhl alles leergeräumt. Bestimmt Verwandte die vom Todeshergang gewusst haben mussten.
Die Polizisten stellten fest, dass das Haus also wirklich leer stand, nahmen unseren formellen Besetzerbrief entgegen und machten sich auf den Weg zur Staatsanwaltschaft.
Danach fingen wir erstmal an zu räumen und zu schaufeln, einige Stunden lang, tranken Kaffee und unterhielten uns mit der Nachbarschaft vor dem Haus, die die Besetzung zum willkommenen sozialen Tratschtag deklariert zu haben schienen.

Am frühen Abend kehrten die Polizisten zurück und teilten uns mit, dass das Haus vor fünf Monaten von einem Unternehmer der es renovieren wollte, gekauft worden sei. Die Besetzung war von gesetzlicher Sicht aus also illegal, weil es unter dem neuen Besitzer noch kein Jahr leer gestanden hat. Für uns gab es schliesslich die Wahl das Haus zu verlassen oder einfach zu bleiben. Zu bleiben hiesse jede Menge Theater. Dem Theater waren wir grundsätzlich nicht abgeneigt, aber in solchem eindeutigen Fall brachte man nur die Presse und das Volk gegen sich auf. Das war nutzlos. Nach einer zweiminütigen Diskussion beschlossen wir das Haus zu verlassen. Die alten Frauchen fanden das natürlich schade, wir seien doch eigentlich ganz nett, und wenn das Haus in sieben Monaten immer noch leer stünde, dann sollten wir doch einfach wiederkommen. Sie würden auch wieder Kaffee kochen und Krakelinge bringen. Das war äusserst reizend und wir versprachen wiederzukommen.

Zwei Wochen später stemmte ich mein Brecheisen in den Türpfosten des Hauses in der Lange Nieuwstraat 37, welches wirklich leer stand und überraschenderweise in einem sehr guten Zustand verkehrte. Dort blieben wir dann wohnen und vergassen das Haus am Springweg.

Bis etwa sechs Monate später die fünf Häuser in der Boorstraat geräumt wurden. Fünf baufällige, kleine Häuser die der Ausbreitung der Eisenbahnschienen weichen mussten. Ein schneller Prozess, schnelle Räumung und die Bewohner verliessen widerstandslos ihre Hütten.
Jurij aus der Boorstraat, mit seinem Hund Castro, zog vorübergehend in unsere Besenkammer. Solange er nichts neues gefunden hatte. Eines nachts als wir trunken aus Cafe Belgie kamen, forderte ich ihn auf, einen kleinen Umweg zu laufen und deshalb führte ihn ich durch den Springweg. Beim Anblick dieses alten, finsteren Hauses bekam er wässrige Augen. Es schien ihm genau so gut zu gefallen wie mir damals. Ich warnte ihn vor den alten, geschwatzigen Nachbarinnen, und sonst sei es ein wenig verkommen, vor allem an der Hinterseite und das Hinterhaus sei vollkommen unbrauchbar. Das störte ihn jedoch wenig. Jedes Haus bekommt man halbwegs vernünftig hin.
„Es sieht aus alsob es hier geistert“, sagte er noch und lachte. Ich nickte – sagte aber nichts.

(ich habe beim Abwaschen vorhin beschlossen hier aufzuhören, weil ich aus dieser Geschichte eine Trilogie mache. Weil ich immer schon einmal eine Trilogie schreiben wollte. Eine richtige Trilogie, mit coolen Titeln wie „die Rückkehr“ und „die Rache von irgendwas“ oderso. Diese Geschichte wird also eine Trilogie. Der zweite Teil kommt morgen. Oder übermorgen. Oderso.)

(Aktualisiert: der zweite Teil)

wie das unter Freunden so war

Obwohl er nun schon zehn Jahre tot ist, habe ich ihn eigentlich noch nicht begraben, meinen Freund, den ich eigentlich nie als einen Freund angesehen hatte, wobei die anderen Leute um uns herum immer sagten wir seien beste Freunde, weil, wasweissich, wir beide vielleicht immer so viel tranken, oder wenigstens so taten, als sei das die einzige Erfüllung in unserem Leben, dieses andauernde Betrunkensein, dieses stets sich wiederholende „lass uns was zum Trinken besorgen“, am Nachmittag, auf Reisen, bei nächtlichem Rumsitzen in den dunklen und ausgestorbenen Gassen in Bozen, bei Häuserräumungen, und zuhause bei Freunden, immer dieser Pegel, der uns die ganzen Jahre begleitete, um alles um uns herum erträglicher zu machen, weil der Wein wie eine Geräuschkulisse wirkte, wie in einem Cafe, weil man sich dann auch viel besser unterhält, wenn um einen herum die Welt dieses entfernte Blabla von sich gibt und man dadurch in den eigenen Gesprächen schaukelt wie in einer Wiege. Nicht, dass wir viel miteinander sprachen, dafür waren wir viel zu kurzatmig, ständig musste was geschehen, immer dieses Gefühl man würde was verpassen, etwas verpassen das eh nie da war und wenn es einmal da war, das Glück, auf einer grossen Feier, in einer wunderbaren Runde Menschen, dann war man immer noch nicht glücklich genug, weil „lass uns was zum Trinken besorgen“, die Geräuschkulisse erhöhen, denn ganz nah dran am Glück war man erst wenn der Leib dann nicht mehr mitspielte, der Film unterbrochen war und man am nächsten Tag in einer Bierlache erwachte. Da war man nah dran am Glück und die ganzen Bekanntschaften die man kennengelallt hatte, womöglich geknutscht, oder sonstwie die ganze Freude daran abgelassen hatte, blieben übrig wie dicke Nebel, von denen nur hängenblieb was man noch aufbewahren wollte für die schönen Gedanken, die man mitnimmt, auf der Suche nach diesem Glück.

Als ich ihn kennenlernte, mochte ich ihn nicht, wie er daherkam, laut und dumm. Er war etwas jünger als ich, trug einen säuberlich gestylten und gefärbten Irokesenkamm, während mich damals schon die Sehnsucht plagte, der ich mit verwaschenem grünen Haar in Hauseingängen schlief und dabei Samuel Becket las, da wartete ich nicht auf so einen, statt Godot kam er daher, mit seinem OiOi und Exploited Punk, das nervte mich, blosse Mode, Muttersöhnchen, ich hob meine Nase, er stank nichtmal, und doch blieben wir irgendwie aneinander hängen, erst am Wein, dann am Weltschmerz, für ihn die Welt, für mich der Schmerz, und an anderen Tagen anders herum, oderso.

Als wir uns kennenlernten war er sozusagen direkt aus einer Entziehungskur in die Kneipe gekommen, in der wir uns das erste Mal trafen. Er hatte ein wenig zu viel Gefallen am Heroin gefunden und mit dem Zeug ganz fürchterlich übertrieben, sodass er sich in kürzester Zeit schon in eine kriminelle Laufbahn hineinmanövriert hatte. In Bozen, das damals dieses graue Loch voller ethnischer Konflikte zwischen verkappten Burschenschaftlern und italienischen Fascisti war, gab es damals nicht viel anderes zu tun als sich zu besaufen, oder sich im Bahnhofspark die Nadel zu geben. Manchmal schien mir das die einzige Wahl, wenn man wenigstens ansatzweise ein soziales Umfeld zu haben wünschte, ohne sich mit rechtem Gesindel herumzutreiben und Stellung zu beziehen zu müssen, ob nun die deutschen oder die italienischen Ortsnamen zuerst auf den Ortsschildern geschrieben werden sollten. Einige versuchten es mit der Kunst, oder mit der Literatur, die zogen alle nach Bologna oder nach Wien und kamen meistens nicht mehr wieder. Jürgen versuchte es halt mit Opiaten. Weil er damals noch minderjährig war, und selbst wohl auch einsah, dass sein Ausflug mit seiner Heldin völlig schief gegangen war, hatten ihn seine Eltern kurzerhand in eine Klinik gesteckt, in der er dann auch freiwillig verblieben war.

In den Kreisen in denen ich mich bewegte, war Heroin verpönt, das war die Droge der Nicht-Denker, der opportunistischen Gestalten die im Bahnhofspark herumhingen, die dich heute als Freund umarmten und morgen um Geld betrogen, kleine Sklaven von sichselbst, ein winziger kapitalistischer Mikrokosmos, den man so sehr verabscheute. In meinen Kreisen wollte man die Welt verbessern, da rief man Parolen, da kämpfte man gegen die Faschisten, da wollte man was tun. Hauptsächlich tat man jedoch lediglich saufen. Meist von morgens bis abends. Was wohl Jürgens Rettung war. So sagte er jedenfalls später.

Ich hatte damals jemanden gefunden, der gleich mir, immer weg wollte, immer weg aus den Bergen, zu den besetzten Häusern nach Mailand, zum Trinken an die ligurische Steilküste, immer geradeaus, immer weiter, auch wo es nicht mehr weiter ging, wir gingen zu zweit, weil das wesentlich einfacher war, weil wir einen derartig miesen Eindruck gemacht haben mussten, dass uns die Schaffner oft gar nicht nach einer Fahrkarte zu fragen wagten und uns deshalb meistens weiterschlafen liessen oder hin und wieder mal in den Bahnhöfen mit zwei Carabinieris auftauchten, die dann die Drecksarbeit erledigten und uns aus dem Zug warfen, weil Fahrkarten zu kaufen uns irgendwie zu blöde war, es war ohnehin schon schwierig genug an Geld zu kommen, so dass wir alles lieber gleich in fünfliter Pullen Wein steckten, anstatt es der Italienischen Eisenbahn zu geben. Und Arbeitslosengeld gab es in Italien nie, überdies wäre uns das noch viel blöder gewesen, erst den Staat zu verachten, dann auch noch Unterhalt zu verlangen.

Mit der Zeit fing ich an ihn zu mögen, mit der Zeit fing seine Gradlinigkeit an mich zu amüsieren, seine Art rein gar nichts zu reflektieren, aber immer diese Aufbruchstimmung ohne irgendwas zu wollen, „komm lass uns für ein paar Wochen nach Rom fahren ein bisschen saufen und kiffen“ um dann in Firenze hängenzubleiben und an allen Sehenswürdigkeiten vorbeizulaufen ohne sie zu bemerken, womöglich gar dran zu pinkeln, weil es da nunmal immer so viele dunkle Ecken gab, und auf der anderen Seite immer diese Unzufriedenheit, dieses Rumgenöle und Gefluche, dioccane hier und dioccane da, wenn ihn etwas nervte, und es nervte ihn dauernd was.

Man traute es ihm nicht zu, aber ab und zu hatte er durchaus seine romantischen Momente, vor allem bei Sonnenuntergängen, da erfasste ihn manchmal ein verblüfftes Staunen, wie geil das doch dioccane sei, „da oben, diese ganzen roten Wattehaufen, mamma, mamma, wie auf Trip“, starrte in Richtung Horizont und fing gelegentlich an, von einigen wenigen Frauen zu schwärmen, dass er sie vielleicht doch einmal wieder besuchen sollte, vor allem die Deutsche, die mochte er eigentlich richtig gerne.
Manchmal liess er sich ohne zu protestieren seine Pickel ausdrücken, meistens musste ich ihn jedoch auf den Rücken schmeissen und mich auf seine Brust knien, weil er sich sträubte, konnte ich ja verstehen, äusserst zimperlich ging ich nie mit ihm um, obwohl es mir leid tut, dass ich ihn einmal mit einem Faustschlag fast die Nase gebrochen habe. Heute tut es mir erst leid, nicht damals. Damals hatte er es verdient, weil wir am Brenner auf den nächsten Zug warteten und die Kippen alle waren. Er hatte als einziger noch etwas Geld, nur zweitausend Lire zwar, aber das war genug für eine Schachtel Kippen. Jedoch nölte er herum, er wolle nun ein Eis, keine Kippen und ich drohte ihm ihn zu erwürgen wenn er sich so ein dämliches Eis kaufen würde, was er sich natürlich nicht zweimal sagen liess und fünf Minuten später grinsend und eisschleckend zu mir zurückkam. Die Nase blutete dann sehr stark, was man erst gar nicht sah, weil sein halbes Gesicht mit Eis verschmiert war. Vanille, und das Rote muss wohl Erdbeer gewesen sein, oder Himbeer, etwas anderes Rotes gibt es glaub ich nicht. Die Nase schwoll auch etwas an, ich hatte ihn bloss nicht richtig getroffen, aber wenigstens war das Eis auf den Boden gefallen und somit hatten wir beide nichts mehr, er kein Eis und ich keine Kippen. Nur schmerzte ihm dioccane die Nase. Ja, heute tut es mir leid. Auch wenn er es damals verdient hatte.

Wenn wir so weitermachen wie bisher, so sagte ich ihm einmal, dann seien wir beide in einigen Jahren tot. Kalt und steif unter der Erde, dort, wo uns die Maden zerfressen. „Hö hö“ lachte er und „Hö hö“ lachte ich. Er zog dann ein nachdenkliches Gesicht und sagte, dass das aber schon Scheisse sei, das mit den Maden, er möchte nicht, dass seine Tattoos eines Tages verlorengingen, er wünschte sogar, dass ich ihm seine Tattoos rausschneiden solle, falls er sterben sollte, worauf ich wissen wollte, was die Nachwelt mit seinen doofen Posertattoos dann anstellen sollte. Drauf zu pinkeln schien mir das einzig Vernünftige zu tun.
Was damit zu tun sei wusste er auch nicht, pinkeln jedenfalls nicht, es sei halt schade sie verfaulen zu lassen. Es war ein nachdenklicher Moment. Sein Tattoo der Band „Exploited“, der Totenkopf mit Irokesenkamm, war ihm heilig.

Was dann noch bleibt, sind die Fragmente der Erinnerungen, ich kann die Tage noch förmlich riechen, wie staubig sich unsere Tage immer anfühlten, stundenlang im Nirgendwo auf der Autobahn auf anhaltende Autos warten, wie wir uns nachts beim Schlafen umarmten wenn es kalt war, und das Ufo das er gesehen hatte, beim Pinkeln in den Dünen, wie er zurückkam und mich weckte und von der grossen, roten Scheibe erzählte, die über ihn hinweggeflogen war und dahinten irgendwo niedergegangen sein musste. Das war das zweite Mal, dass ich ihm die Nase hätte brechen wollen, vor allem weil er wollte, dass ich aufstand und mit ihm mitginge das Wrack aus dem Weltall zu suchen. Oder wie wir uns gegenseitig auf den Treppen der Bozner Herz-Jesu-Kirche tätowierten, mit Tinte und Nadel Wörter und Zeichen auf unsere Arme stachen, weil wir immer dafür stehen wollten, für das, was wir taten, und uns auch dementsprechend brandmarken. Oder als wir mitten in der Nacht auf der Staatsstrasse von Meran nach Bozen standen und in Hoffnung auf eine Mitfahrgelegenheit versuchten Autos anzuhalten, was bei unserem Anblick ein aussichtsloses Unternehmen war, hielten nur die Carabinieri, und Schweine wie die eben immer sind, zerschlugen sie damals unsere halbvolle Whiskeyflasche, einfach so, weil es eben Schweine sind und unsere Visage denen nicht passte und sie wohl frustriert waren, weil sie uns sonst nichts anhaben konnten, nachdem sie uns bis auf die Unterhosen auf andere berauschende Mittel durchsucht hatten. Und da lagen sie dann, die Scherben, in einer Lache Whiskey, der in alle Richtungen floss, das Gesöff das uns als einziges noch am Leben halten konnte, in jener langen Nacht auf der Staatsstrasse von Meran nach Bozen. Wie er damals fluchte, so viele Wörter in so vielen verschiedenen Tonarten und Lautstärken, länger als eine Viertelstunde, an einem Stück durch, eine Litanei an Beschimpfungen, dass ich erst genervt wurde und hoffte ihm mögen endlich mal die Worte ausgehen, so viele gab es doch gar nicht, und ich dann irgendwann einfach nur noch darüber lachen konnte, über ihn, über uns, über die verdammte ganze Welt.

Wären wir irgendwo auf unseren Reisen geblieben, in irgendeiner der Städte zu denen es uns immer hinzog, wäre vielleicht alles anders ausgegangen, vielleicht wären wir dort in eine WG, in eine der riesigen italienischen Stadtwohnungen eingezogen, hätten uns verliebt und wären irgendwann abgekühlt und alles wäre gut geworden, man glaubt ja gerne daran, dass der Verlauf der Zeit ein blosser Irrtum gewesen ist. Stattdessen verschwand einfach die Lust am Herumstreunen, dieses ewige Herumirren als gäbe es wirklich nie einen Plan oder ein Ziel, weil jedes grossartige Erlebnis musste einem in den Schoss fallen, nichts sei vorauszusehen, was ja auch so war, aber ich war der ganzen Leute, die wir trafen, müde, ein Gesicht nach dem anderen, die ganze Aufregung und all die Abenteuer wurden vorhersehbar, wiederholten sich, letztendlich war man immer bloss betrunken, oder wieder verliebt in irgendjemanden in weiter Ferne, das ganze wilde Leben war spiessig geworden, weil wir in Muster verfielen, und letztendlich einer Routine hinterherliefen.
Wir zerstritten uns in Rovereto, nachdem wir zwei oder drei Tage mit ein paar Mailänder Gesinnungsgenossen am Gardasee, na was schon, getrunken hatten, und auf Pilzen einander zugeredet hatten, von Abenteuern erzählten und ich war schon des Erzählens müde, schonwieder diese gleiche Geschichte, ich wollte nicht mehr, mich nicht fühlen wie ein Abenteurer der sichselbst wiederkäut, weil alles, was er macht, darin besteht, das selbe Abenteuer Tag für Tag wieder zu erleben. Wir konnten noch einige Jahre in diesem Zweivierteltakt weiterhin Pillen schlucken und diesen Hunger, der uns trieb, mit Traubenschnaps ertränken, wir würden dann irgendwo im Viervierteltakt verenden, ohne jemals etwas dazugelernt zu haben. So sagte ich ihm das und er schien mich nicht ganz zu verstehen. Was denn los sei mit mir, ob ich nun abgehoben werde. Ach was Streit, das war es gar nicht, es war eher völliges Unverständnis füreinander, alsob sich plötzlich ein riesiger Graben auftut, nach all den Jahren der Selbstverständlichkeit, nach all den Jahren des Gefühles, immer alles richtig gemacht zu haben, weil wir eben taten, was wir wollten ohne uns um irgendwelche Konsequenzen zu kümmern oder an die Zukunft zu denken, weil das Leben eben geradeaus ging.

So fuhr ich wieder nach Bozen und er fuhr in den Appennin.

Erst drei Monate später trafen wir einander wieder und mir kam es vor als wären es Jahre gewesen, viele Jahre, wir standen voreinander wie Fremde, ich sagte ihm, ich würde erstmal nach Wien ziehen und dann weitersehen, ich sei das Nichtstun satt, ich wolle Theaterstücke schreiben, oder meinetwegen zum Zirkus und Feuer spucken. Es lag diese Erkenntnis zwischen uns, dass sich unsere Wege ab nun trennen würden, dass wir plötzlich realisierten, dass dieser Schritt vorauszusehen gewesen ist und unweigerlich irgendwann passieren musste, nur, dass wir es nie gemerkt hatten, alle Worte, die wir tauschten, klangen nach Abschied, eine hingenommene Trennung, und dann die dauernden Fragen „wirst du…?“ und „glaubst du…?“, als gäbe es noch diese Hoffnung, sich irgendwann wiedermal zu treffen. Als Freunde.
Dann verschwand er für einige Wochen, und als er zurückkam, ergatterte er eine Stelle in einem Obstmagazin – zum Schleppen. Das erste Mal, dass ich ihn arbeiten sah. „Ein bisschen Geld verdienen und im Sommer für ein paar Wochen weg“. Abends sass er in der Kneipe, mit Freunden und trank. Dann zog ich nach Wien.

Er war schon seit etwa zwei Wochen tot, als ich ein halbes Jahr später von der Nachricht erfuhr. Ich war in Brüssel und telefonierte mit einem Freund, der sich aufregte, dass man mich nie erreichen könne, und er hatte mich vorher gewarnt, er habe eine schlechte Nachricht, ich solle mich hinsetzen, oder mich wenigstens darauf gefasst machen, dass ich nachher noch ein Bier trinken müsse um das Ganze besser schlucken zu können. Jürgen sei gestorben, vor zwei Wochen, auf dem Parkplatz des Ex-Monopolio, man habe ihn da mitten auf dem Weg gefunden, er habe im Todeskampf wohl gemerkt, dass es ihm nicht gut ging und noch versucht raus auf die Strasse zu kriechen, da im Licht, wo man ihn eventuell sehen konnte um einen Krankenwagen zu rufen. Als man ihn fand, war er jedoch schon tot gewesen.
Ich wusste erstmal gar nicht was ich sagen sollte, wiederholte mehrere Male ein mmh, und sagte, dass das grosse Scheisse sei, auch dass ich nun ein Bier bräuchte, oder nein, besser einen Whiskey, oder zwei, drei. Auf meine Nachfrage hin, woran er denn überhaupt gestorben sei, sagte der Freund „Überdosis“, was mich sehr wunderte, weil er, das letzte Mal als ich ihn gesehen hatte, nicht den Eindruck machte, dass er wieder mit Junkies rumhängen würde. Aber dem war anscheinend auch nicht so, es schien sein erster Schuss gewesen zu sein, seit damals, und ich müsse ja wissen, seine Leber seit der Hepatitis… die hatte es wohl nicht mehr ausgehalten, ein anderer würde bestimmt überlebt haben, aber er halt nicht. War er schon begraben? Ja klar, draussen Überetsch, das Begräbnis war natürlich die Reinste Heulerei gewesen, die ganze Meute versammelt, auch F., mit der er gerade was angefangen hatte. Was die F.? Ja genau. Wie gehts ihr? Dreckig. Ja, klar, du ich muss jetzt unbedingt was trinken, ich ruf dich in ein paar Tagen wieder an. Ja, ciao.
Ich konnte nicht trauern. Es schien mir fast, als sei das für ihn noch der einzige stilvolle Ausweg gewesen, mit der Alternative in Aussicht, in der Obstfabrik plötzlich auf Sparflamme getaktet, Stück für Stück zu verkümmern.
Vielleicht sagte ich mir das aber auch bloss, um nicht trauern zu müssen, oder einzusehen, dass die Freundschaft zwischen uns vollkommen am Ende gewesen ist, oder gar weil mich manchmal das Gefühl nicht loslässt, dass ich ihn wenigstens nach Wien hätte holen sollen und dann alles anders abgelaufen wäre.

Wahrscheinlich würde er jetzt aber ohnehin nur sagen „dioccane so Scheisse, dass die Tattoos jetzt verfaulen“ – und sich über diesen pathetischen Text furchtbar aufregen.

mein Freund der Priester

Vor drei Monaten in Rom, habe ich neben singen und trinken, einen Priester kennengelernt, der trinken konnte wie ein Walfisch in süffiger Laune und fluchen wie ein sizilianischer Mafioso, bei dem jegliche Hoffnung auf ein Weiterleben im Himmel verschwunden war. Nun mag man sagen, dass wir Katholen ohnehin nicht vor Fluchwörtern zurückschrecken und dabei am liebsten mit Wörtern, die heilige Sakramente und allerheiligste Fäkalien enthalten, um uns schmeissen, aber doch bleibt es fragwürdig in meinen Augen, auch wenn man sich nicht weiter darüber den Kopf zerbrechen soll. Und das mit dem Saufen ist nun mal so, dass Mönche und Priester und andere Kuttenträger eben viel Zeit zwischen ora und labora totzuschlagen haben, dass oft nicht viel anderes übrigbleibt als den Wein und das Bier, das aus dem labora gewonnen wird, zu trinken.
Der Priester den ich kennenlernte war ein Südtiroler, was das ganze vielleicht noch um einige Grade verschlimmert. Er war ein Freund meiner Schwester. Als ich sie am Bahnhof Termini abholte, erzählte sie mir, dass wir von dem Priester in ihrer Bleibe ageholt werden würden. Er ginge mit uns essen, in einer Trattoria im Trastevere, auf der anderen Seite des Tibers.
In ihrer Bleibe, ein Kloster, oder bessergesagt, ein Schwesternhaus, das zum Hotel umgebaut wurde, erwartete er uns schon. Er war jung, etwa um die Dreissig. Die Freude war gross, er begrüsste uns mit einem kräftigen Handdruck und einer herzlichen Umarmung und zeigte uns schliesslich das Zimmer. Während ich meiner Schwester mit dem Auspacken des Gepäckes half ging er nach unten um mit einer der Nonnen weiterzuquatschen.
Danach gingen wir los, ach, es sei nicht weit, nur den Hügel hinunter, an der Tiberinsel vorbei, dann über den Fluss ins Viertel hinein. Er zeigte uns die kleinen Geheimnisse Roms, viele Steinhaufen an bedeutungslosen Ecken die Weltgeschichte zu schreiben schienen, verwildete Katzensiedlungen, er wies uns gute Kneipe an und Trattorie die furchtbaren Wein auftischten. Es musste Stunden gedauert haben, es war schon dunkel geworden, vonwegen den Hügel runter, ganze sieben solcher Hügel müssen wir gelaufen sein, als endlich der rettende Tiber hinter einer dunklen Gasse auftauchte, und tatsächlich, ab dem Tiber war es nicht mehr weit. Wir sassen uns hin, bestellten erstmal grosse Biere um den Schweisspegel wieder auf eine akzeptable Höhe zu bringen, und als wir wieder halbwegs schwitzen konnten, machten wir uns über die Menükarte her.
Dann meldete sich die allerkleinste Schwester auf dem Handy, dass der Zug aus Napoli ungefähr zwei Stunden Verspätung haben würde, es würde sehr spät bis sie in Rom sei, ob wir sie trotzdem abholen können. Ja natürlich Schwesterchen, melde dich eine halbe Stunde vor Rom, dann holen wir dich alle ab.
Der Priester war ein grosser Trinker. Das Wort bodenlose Fass will ich mir hier mal verkneifen. Allerdings war er auch ein weiser Denker. Aus hitzigen Diskussionen, in denen ich meine katholischen Kritikpunkte an einen Verteter der Kirche vor den Boden warf, kamen wir zum Ergebnis, dass wir das gleiche dachten, und je betrunkener ich wurde, desto mehr kam mir in den Sinn, mich zum Priester weihen zu lassen, immerhin ist ein Leben zwischen Weintrinken und dem Nachdenken über Gott und die Welt, gar kein schlechtes Leben, die Kutten sind auch schick, und an das frühe Aufstehen würde ich mich mit der Zeit schon gewöhnen. Nur mit dem Zölibat ist das halt so ne Sache, meinte ich. Achja, sagte er und zuckte mit den Schultern, das ist nicht so schwierig, man vögelt halt nicht. Ah genau, man vögelt halt nicht. Ich guckte in die Menge leichtbekleideter Römerinnen auf der Piazza, seufzte kurz und der Priester und ich hoben gleichzeitig das Bierglas.
Eine Viertelstunde später rief die kleinste Schwester wieder an, sie führe gerade am Bahnhof Termini ein, sie habe da was falsch verstanden mit der Verspätung, ob wir sie nicht abholen können. Nein, können wir nicht, das Essen käme jeden Moment, sie solle ein Taxi nehmen und ich würde es bezahlen. Eine halbe Stunde später hielt ein Taxi mit quietschenden Reifen neben unserem Tisch und meine kleine Schwester fiel mir beim Aussteigen fast in mein Teller hinein. Ein teurer Spass so ein Taxi in Rom, was der eine ganze halbe Stunde lang zwischen Termini und Trastevere gemacht hat und wieviele dutzende Hügel der umfahren hat, wollte ich gar nicht mehr wissen. Die Schwester war angekommen und das war das wichtigste. Wir wollten noch ein wenig weiterziehen nach dem Essen, ein paar Gläser Rotwein trinken in ein paar Cafes, aber das gestaltete sich nun etwas schwierig, da die kleine Schwester eine halbe Pferdekutsche voller Gepäck bei sich hatte. Zurückzukehren in das Schwesternhaus war keine Option, wenn wir da wären, war es schon wieder Zeit ins Bett zu kriechen. Aber der Priester wusste Rat, alles sei kein Problem, wir würden an einer Kneipe vorbeilaufen, bei der wir die Koffer und Rucksäcke liegenlassen können und auf dem Nachhauseweg wieder abholen.
Wir machten uns bald auf den Weg. Die Kneipe befand sich gleich um die Ecke. Eine laute, sehr laute Spelunke, aus der mir The Clash draussen schon die Ohren zudröhnten und mich trotz generellen Rauchverbots in Italien, beim ersten Schritt durch die Tür, eine giftige Haschischwolke einräucherte, bei der ich beim blossen hingucken schon stoned wurde. Der Priester trat in die Kneipe ein, grüsste hier ein paar Leute mit Dreadlocks, da ein paar Leute in Lederkleidung die ihm aus der Ferne zuprosteten und erreichte die Theke, wo er erstmal den Kellner, einen etwas verwegenen Punk, begrüsste und dann mit ihm die Sache mit dem Gepäck besprach. Nach kurzem Wortwechsel winkte der Punk uns heran, stellte vier Biere auf die Theke und nahm das Gepäck meiner Schwester an, das er in einem Hinterzimmer verstaute. Alles geregelt.

Im Laufe der Nacht stiegen wir auf Wein um und stiegen anschliessend in das düsterste Rom ab. Als ich mitten in der Nacht, ganz alleine auf dem Fusse einer Säule sitzend, auf den Nachtbus wartete, da ich in einem anderen Hotel übernachtete, fühlte ich mich wie ein Spiesser, der zwar vögelte, aber sonst nicht viel vom Leben vor dem Tod verstand.
Die restlichen Tage war ich zu sehr beschäftigt, um mich nochmal mit ihm treffen zu können, aber bei meinem nächsten Rombesuch lasse ich mich gerne wieder, und dann am liebsten noch viel ausführlicher, von der katholischen LebensTrinkweise belehren.