[tagebuchnotizen. Zinnowitz, Usedom]

In Züssow am Bahnhof. Es gab Randalierer im Zug, wir haben den Anschlußzug für die Insel verpasst. K fragt nach einem Bier, ich sage, links ist Wiese, rechts ist Wiese, da hinten steht eine verlassene Fabrikhalle und das Bahnhofgebäude vorne, sieht nicht besuchbar aus. Sie sagt, das sei vermutlich so. Ich schlage ihr vor, dass ich kurz nach vorne laufe, Füße vertreten, vielleicht gäbe es im Bahnhofshaus ja einen Kiosk, wer weiß.
Ich laufe hin.
Draußen hängt ein Schild: Bahnhofsgaststätte. Die Fenster sind verstaubt. Ich schaue hindurch und sehe kein Mobiliar. Es ist ungastlich, die Eingangstür zugenagelt. Dann fällt mir mein Handy ein. Ich öffne die Qype-App, lasse mich lokalisieren. Wozu hat man sonst diesen Technikquatsch. Qype findet ein paar Kneipen in meiner Umgebung. Die Nächste ist 17 Kilometer entfernt. Auch Läden und Restaurants gibt es in 17 Kilometer Entfernung. Unter 17 Kilometer gibt es nur einen Asia-Imbiss. Der liegt 2,7 Kilometer von mir entfernt.

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Die Kellnerin in unserem Hotelrestaurant hat ein sanftes Gesicht. Es wirkt püppern. Wie aus Porzellan. Fast unbeweglich. Sie trägt immer dieses leicht freundliche Lächeln in ihrem Gesicht, immer ein bisschen zufrieden, immer ein bisschen zurückhaltend. Mir scheint, würde man mit einem Hammer darauf hauen, das ganze Gesicht würde lächelnd zerklirren. Und gesparte Münzen kämen dahinter zum Vorschein. Sie ist vielleicht mitte vierzig, hat etwas mütterchenhaftes, und doch ist sie hübsch, angenehm, außer ihre Ruhe vielleicht, die ist bei näherer Betrachtung ein wenig verstörend. Sie war letztes Jahr schon so. Nach dem Abendessen fing sie an, den Restaurantraum zu einem Frühstücksraum umzuwandeln, faltete die Tischdecken, ordnete Tücher, Tischdeko, alles unbeirrt und irgendwie glücklich. Und immer sanft lächelnd.
Tageintagaus.
Wäre ich Poet, würde ich sagen: in Glückseeligkeit erstarrt.

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Da der Filterkaffee im Hotel ein Graus ist, bestehe ich darauf, uns jeden Tag nach dem Frühstück einen ordentlichen Kaffee zu suchen. Wir setzen uns in die Bäckerei an der Kreuzung, mitten im Ort. Man ist an der Küste, die Bäckerei heißt Backbord. Das soll witzig sein. Wir lachen.
Ich kaufe den Usedom Kurier, wir setzen uns ans Fenster, wir lesen aus der Zeitung, schlürfen Kaffe, schauen aus dem Fenster.

Ich mag Zinnowitz ja sehr. Dieses preussische Örtchen an der Ostsee, das ganz selbstbewusst, aber unspektakulär aus einem langen Schlaf entwacht ist. Ich fahre nie im Sommer nach Zinnowitz, immer nur wenn es kalt ist, vielleicht ist es im Sommer schon zu überfüllt, zu laut. Im Frühling scheint es mir ganz richtig. Nicht zu verschlafen. Ich will keine Ruhe, ich muss mich nicht entspannen, ich will Abends etwas essen, ich will in die Kneipe gehen und Bier trinken, ich will die Mädchengruppen sehen, wie sie auf der Promenade herumalbern, weil nebenan eine Gruppe Jungs breitbeinig stehen, mit den Händen in den Hosentaschen lehnen. Ich mag diese preussische Urlaubskulisse mit diesem verkitschten Traum von damals, den man heute als Realität zu glauben meint.

Ich traue mich nicht im Sommer hin. Vielleicht ist Zinnowitz da wirklich schon hinüber.
Der neue orangefarbene Bau an der Ecke Strandpromenade lässt mich schlimmes ahnen.

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Schtraziatella.

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Wir liefen am Strand südostwärts, dem Wind entgegen. K war schlecht gelaunt, sie hatte zu viel Berlin mit auf die Insel genommen. Die Laune schlug auf mich über, aber alles was wir tun konnten, war, am Strand südostwärts zu laufen, dem Wind entgegen. Irgendwann wollte ich nicht mehr, Mensch, der ganze Scheiß, nichtmal der Wind kriegt ihn raus. Ich legte mich, steif wie ein Brett, auf den Boden und war stinkig. K stellte sich breitbeinig über mich. Sie zückte ihre Kamera und fotografierte mein verwehtes Gesicht. Sie lachte, ich lachte. Das lesbische Pärchen mit dem Hund lachte im Vorbeigehen. Dann stand ich auf, klopfte mir den Sand von den Kleidern und es ging uns beiden besser.

Wir liefen bis nach Koserow. Dort aßen wir eine Bratwurst mit Erbsensuppe. K trank ein großes Bier.

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Im Primavera

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Sanddornmarmelade, Sanddornlikör, Sanddornwein, Sanddorngeist, Sanddornthee, Sanddornschnaps, Sanddornkonfitüre, Sanddornlikörverschnitte, Sanddorngrütze, Sanddornjoghurt, Sanddornvodka, Sanddornbonbons, Sanddorngummibärchen, Sanddornsenf, Sanddorngrog, Sanddorndiätmarmelade, Sanddornessig, Sanddorngeleefrüchte, Sanddornnektar, Sanddornfruchtsaftgetränk, Sanddornmuttersaft, Sanddornhonig, Sanddornmus, Sanddornsirup.

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Sanddornbier? Sanddornbier? Sanddornbier?

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Wir sitzen im Wald, nahe am Meer, wir hören die Brandung, K sitzt auf einem umgefallenen Baumstamm, ich liege am Boden und mache Fotos von ihr, über uns zwitschern Vögel, dann nehme ich das Notizbuch raus und schreibe ein paar Zeilen, K schießt Fotos von mir. Ich werde mich jetzt immer hinlegen.

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“Freizeitmode”

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-Sie sah aus, wie der aus der Serie mit Spok, wie heiß die Serie nochmal–
-Raumschiff Enterprise
-Genau, und da sah sie aus wie der Kapitän, wie hieß der nochmal–
-Captain Kirk
-Ja genau, so sah die Tochter aus

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Und dann Regen. Es ist Samstag und es regnet. Es ist unser letzter Vormittag, ich möchte sagen: bezeichnend! Weiß aber nicht genau, was ich damit sagen will, es ist eher eine Geste, siehehier, es ist unser letzter Tag und es regnet. So posermäßig betrübt. Es ist eklig.
Wir sitzen wieder im Backbord, trinken vernünftigen Kaffee, schauen raus in den Regen und warten auf die Bahn.

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Das Backbord ist übrigens keineswegs ein cooler Bäcker. Geschweige denn urig. Es ist eher eine Mischung aus Starbucks und Autobahnraststätte. Das ist voll OK

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Am Bahnhof Zinnowitz. Ein kleiner, schlichter, neoklassizitsischer Bau mit Vordach. Es steht herrenloses Gepäck herum. Mensch, herrenloses Gepäck, das ist ja gleich so ein eingeflößtes Terrording, man denkt gleich an Bilder von Flughäfen, Sprengkommandos und zerfetzten Körperteilen.
Es sind drei buntbedruckte Plastiktüten. Vollgepackt. Papageien sind draufgemalt, Sonnen, Wolken, viel grün. Kinderzimmeroptik. Drei Tüten, alle gleich. K und ich sagen uns: das sieht nicht nach Bomben aus. Und wenn, dann albern kaschiert.
Und doch drängt sich das Gefühl auf, etwas tun zu müssen, das herrenlose Gepäck, nicht herrenlos sein zu lassen. Soll man es dem Bahnhofsvorstand melden? Himmel, wie sehr der Zivilisation verpflichtet wir sind. Ich denke: man könnte ja Kinder haben. Das hört man ja immer: wenn man Kinder hat, dann denkt man anders.
Das wachende Auge über Gerechtigkeit, Fortschritt und Wohlstand. Himmel, wohin mit diesen Gedanken, Mek, es ist nur Zinnowitz.

Drei Minuten später kommen die Besitzer der Bombentüten unters Vordach gehetzt. Zwei junge Männer, vermutlich aus Pakistan. Sie erblicken die Tüten und hasten zu mir herüber. Sie lächeln, ich lächle.

[Notizen, Usedom]

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Regen, Wind, Regen, Regen, Regen, Wind.
Und Kälte.
Also: Regen, Wind, Regen, Regen, Kälte, Regen, Wind, Kälte.
Freitagabend in Zinnowitz.
Ich schrieb meiner Mutter eine SMS. Meine Mutter hat ein eigenartig inniges Band zu Usedom. Dass es nördlich der Alpen Strände gäbe, war ihr früher niemals in den Sinn gekommen. Letztes Jahr schrieb ich ihr ich läge an der Ostsee auf der Insel, auf Usedom. Das fand sie unheimlich toll, diese gewisse mystische Exotik einer Insel im Norden wenn man, wie sie, nur die brennenden Mittelmeerstrände kennt. Sie spricht den Namen Usedom aus als handele es sich um eine nordische Göttin. Zu allem Überfluß hat sie letzten Winter einen netten Südtirolurlauber aus Usedom kennengelernt und jetzt musste ich ihr eine Karte versprechen. Weil das Wetter aber dermassen Pest und Hagel war, beließ ich es erstmal bei einer SMS. Ich schrieb:
Bin auf usedom. Wunderbares wetter, wir liegen auf dem strand und stecken die füsse in den sand. Grüße dich herzlich. Dein sohn.
Sofort wurde mir wärmer.

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Den Preußenhof betreten wir hungrig. Und mit durchnässter Garderobe, mir durchnässtem Haar und durchnässtem Gemüt. Es gibt zwei freie Tische, doch sagt man uns sie seien reserviert. Die typischen Reservetische die man für erwünschte Gäste bereithält. Und dass wir nicht erwünscht sind ließt man dem Geruch ab, den Gästen, und dem Gesicht der Maitren. Trotz unserer guten Kleidung. Man ahnt unsere Gesinnung. Überhaupt, wie die sozialen Klassen verschwunden sind und durch die Gesinnung ersetzt wurden.

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Zum Ortspavillon gegangen weil Musik über die Bäume hinweg ins Dorf getragen wurde. Es spielte das Jugenorchester. Die Musiklehrerin dirigierte. Sie spielten La Bamba und ein Lied von ABBA. Im Publikum saßen Menschen zwischen 60 und 70. Sie klatschten den Rythmus. Was haben die bloß 1968 gemacht?

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LaConga, eine Cocktailbar. Die Szenekneipe in Zinnowitz. K bestellte einen Bushmills und dazu bitte ein Glas Leitungswasser. Die Szenewirtin, offensichtlich stolze Chefin des Hauses, lehnte ab. Sie könne ein Mineralwasser bringen, aber kein Wasser aus der Leitung. Das tun wir nicht. Komische Sache, Wasser zum Whiskey sei wie das Wasser zum Espresso– doch die Szenewirtin lehnte ab. Machen sie nicht. K fragte daher nach ein paar Eiswürfeln in einem eigenen Glas. Die würden schmelzen und sich als Wasser zum Verdünnen eignen. Das war wiederum in Ordnung.
Dann nahm sie meinen Wunsch auf. Auf der Getränkeliste gab es den Ardberg – Still Young, doch bei den ausgestellten (leeren) Flaschen an den Wänden sah ich den Ardbeg – TEN stehen. Ich zeigte auf den Stillyoung in der Karte und fragte ob sie von Ardbeg auch den zehnjährigen hätten, Stillyoung wäre mir heute nämlich ein bisschen zu grün. Und sie sagte: Stillyoung ist der zehnjährige. Ich sagte, neinnein, Stillyoung ist nicht der zehnjährige, Stillyoung ist der achtjährige, der zehnjährige trage den unmissverständlichen Namen: TEN. Und sie entgegnete: der Stillyoung ist der zehnjärhige.
Mir war das unangenehm, ich bin wahrlich kein Snob, es liegt mir nicht mit Namen und Fakten zu protzen, ich weiss nur was mir schmeckt und kenne mich daher ein bisschen aus, doch wollte ich nur wissen ob sie auch den zehnjährigen hätte. Ich zeigte auf eine der ausgestellten Flaschen an der Wand worauf stand: Ardbeg – TEN. Ob sie mir ein Glas aus so einer Flasche einschenken könne. Und sie sagte: Aber das sei doch der Stillyoung, und ich sagte resignierend, nein das ist der zehnjährige, auf dem Stillyoung stünde auch Stillyoung drauf. Und sie sagte, nein, das sei aber bei ihnen der Stillyoung. Ich sagte schongut. Also, fragte sie, Sie wollen einen Stillyoung? und ich dachte mir Baby, Dir geht es wirklich ums rechthaben, bevor ich also einen zehnjährigen als einen Stillyoung trinke, bestelle ich mir lieber einen Jack Daniels, nein, bäh, ich sagte: bitte einen Ardbeg aus der Flasche wo TEN draufsteht. Das reichte glücklicherweise.

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Am Montag auf dem Rückweg von den Ergebnissen der Wahlen im Iran gelesen.

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Ich wollte eigentlich schöne Sachen aufschreiben und jetzt habe ich nur von so bösem Zeug berichtet. War jedenfalls sehr schön wieder.

[Zinnowitz, Usedom]

I.
angekommen
Pizza gegessen
auf dem Pier gelaufen
Bier getrunken
ins Bett gefallen

II.
aufgestanden
gefrühstückt
spaziert (am Strand)
zu Mittag gegessen
am Strand den Wellen zugesehen
zu Abend gegessen
Ardbeg getrunken
Bier getrunken
Ardbeg getrunken
ins Bett gefallen

III.
aufgestanden
gefrühstückt
mit dem Fahrrad nach Peenemünde gefahren
Eis gegessen
Kaffee getrunken
zu Mittag gegessen
am Strand den Wellen zugesehen
mir ausgemalt wie es wäre einfach hier sitzenzubleiben, tagein tagaus hier sitzen, nach rechts sehen wenn die Sonne aufgeht und nach links zum Abschied am Abend, und in der Zeit dazwischen den Wellen zuschauen, wie diese einander verfolgen und beim Brechen übereinanderherfallen wie zwei kleine Hunde beim Spielen, hin und wieder bliesse der Wind und ich würde die Augen schließen, und dann die Augen geschlossen lassen, weil die Sonne so schön leicht darauf drückte, und ich danach beim Blinzeln den schwarzen Fleck an der Brandung zu erkennen versuchte, ob es nun ein Hund sei oder ein angespülter Baumstamm, und dann sähe ich hinunter zu meinen Füßen, wo ein kleines Mädchen mit einer grünen Gießkanne stünde und mir meine eingegrabenen Füße gösse, und ich würde sagen, Hey Mädchen, irgendwie gefällt mir das nicht, und das Mädchen würde mich ein bisschen traurig ansehen, wegen der vielen Blätter die ich beim Empörtsein verloren hätte, sie sagt ich sei aber schon ganz trocken, und meine Wurzeln lägen auch schon blank, doch ich würde sagen es sei noch nicht so schlimm, siehe da, und ich würde an meinen Füßen rütteln, und hinzufügen, dass ich ja noch fest im Sand verwurzelt sei, keine Sorge also, es sei alles gut […]
zu Abend gegessen
Ardbeg getrunken
Bier getrunken
Bier getrunken
ins Bett gefallen

IV.
aufgestanden
gefrühstückt
den Wellen zugesehen
zum Bahnhof gelaufen