milonga de mis amores

Am Sonntag meine ersten Tangoschritte getanzt. Etwa acht Jahre hat es bis zu diesem Tag gebraucht.
Zwischen dem dritten und dem vierten Schritt der ganz gewöhnlichen formacion de base, wie man beim Richtungswechsel nicht nur die Richtung, sondern auch die Achse gleich mit verlässt und plötzlich Hüfte an Hüfte nebeneinander steht. Selten hatte ich das Gefühl, auf solch dezente Weise etwas vollkommen Unanständiges getan zu haben.

Ich habe lange Jahre den tanzenden Tangopaaren zugesehen und mich in unzählige Paare verliebt, während ich, am Wein nippend, mit einem schweren Brustkorb an der Anmut der mir dargebotenen Liebe vertrocknete, wobei ich bei meinen Gefährten immer schon an der Beschreibung der Ästhetik scheiterte, die ich versuchte zu erklären, womöglich nur mir selbst.

Und dann diese erstaunliche Sinnlichkeit beim Führen. Die Lehrerin sagte, ich solle führen. Ich hatte das noch nie gemacht, sie wusste natürlich nicht, dass ich direkt vom Pogo zum Tango geraten bin. Mit meinen Händen in der Mitte des Rückens der Frau muss ich sie festhalten, weit oben, noch oberhalb des Herzens, weil die Frau ab dem Herz bis hinunter zu den Zehen atmen muss. Wie man den nicht atmenden Teil der Frau festhält, sanft drückt und dreht, wortlos mit den eigenen Bewegungen die Richtung andeutet, indem man sie umschließt, sie einbettet, und dann merkt, dass es viel besser klappt, wenn man mit den Oberkörpern, also mit den nicht atmenden Teilen, einfach verschmilzt.
Wie eins und wie nahe man sich sein muss, um zu wissen, wohin es geht.
Ich habe das Führen bisher lediglich erahnt. Noch beherrsche ich ausschließlich den Baumstamm-Part. Nicht umfallen.
Ich falle nicht um. Der Rest kommt vielleicht.

(Und erstaunlich sind die Geschlechterrollen, wie sie manchmal funktionieren.)

Vor allem über Nikotinsucht gelesen. Jedes Mal, wenn ich an eine Zigarette dachte. Um genau zu sein, drei Tage lang nur über Nikotinsucht gelesen. Um mich an die Rezeptoren in mir drin zu erinnern.
Auch weiß ich nun alles über Neurologie. Frontallappen zum Beispiel. Der Frontallappen ist das Engelchen im Kopf. Der Frontallappen sagt immer Nein und Nein und Nein, wenn man beispielsweise nach Schokolade greifen will, nach der man nicht greifen sollte. Nun kann man danach hören oder nicht. Als guter Kathole glaube ich natürlich keinen albernen Engelchen auf der Schulter und habe daher weitgehend das gemacht, was verlockender klang.
Doch Frontallappen ist super. Immer wenn ich an Zigaretten denke, schalte ich den Frontallappen ein. Ich kann richtig fühlen, wie er glüht.

Nikotinsucht. Diese Mechanismen. Dermaßen faszinierend, dass es mich jetzt furchtbar betrübt, zwanzig Jahre lang nikotinsüchtig gewesen zu sein, ohne zu wissen, wie toll das eigentlich ist. Es fühlt sich an wie verschwendete Zeit. Fast möchte ich nochmal von vorne beginnen: zwanzig Jahre lang kettenrauchen und mich jedes Mal über meine inneren Rezeptoren amüsieren, wie sie sich aufstellen und mir das Gefühl geben, ich müsse mich belohnen.
Überhaupt Belohnungen. Ich könnte mich den ganzen Tag lang belohnen. Nett zu mir sein.

2008

In Madrid waren es immer die Trauben. Um zwölf zu jedem Glockenschlag eine. Wie ich das immer hasste und mich spätestens bei der fünften Traube verschluckte. Nicht viel Glück für das kommende Jahr, sagte man mir und schlug mir mitleidig lächelnd auf den Rücken, während ich mich ins neue Jahr hustete und es von der fünften Sekunde an schon verfluchte. Dabei war es gar nie die Gier, sondern immer diese Hast, ein klein wenig von dem Glück zu erhaschen, das sie alle in sich hineinstopften. Vielleicht doch Gier, meinetwegen, will ich jetzt gar nicht wissen.

Letzte Nacht lief dieser junge Portugiese auf der Party herum und verteilte kleine Knäuel Taschentücher. In seinem Land sei es Brauch, sagte er, diese Trauben zu Mitternacht zu essen, zu jedem Glockenschlag eine. Das bringe Glück. Ich öffnete das Tuch und sah zwölf kleine Rosinen. Und musste ein wenig lächeln. Wie klug, Rosinen.
Um drei vor Mitternacht saß ich auf dem Klo und hörte fünfvierdreizweieins. Und dann gingen die Böller hoch. Und die Kirchenglocken läuteten. Und die Menschen fielen sich in die Arme. Und küssten sich auf den Lippen. Und wünschen sich ein glückliches neues Jahr.
Ich schritt langsam die Treppe runter, raus auf die Skalitzer Straße zu den feiernden Menschen. Gegenüber läuteten die Glocken. Nachdenklich öffnete ich das Taschentuch, nahm eine Rosine raus und lutschte sie lange im Mund. Was ein Glück, dachte ich.
Bei meiner dritten Rosine hielt mir jemand eine Wunderkerze vors Gesicht und fragte mich nach Feuer. Als die Wunderkerze anfing zu funkeln, kam schon die nächste. Ich werde gerne gebraucht.
Beim Lutschen der vierten Rosine stand Scott, der Australier, neben mir. Es sei sein erstes Neujahr in Europa, sagte er. Er zuckte bei jedem Böller nervös zusammen. In Australien sei Feuerwerk verboten, ihm mache das ein bisschen Angst. Aber er möge es. Er habe gehört, es ginge darum, das alte Jahr zu verscheuchen. Ich nickte und sagte, ein bisschen wie ein wildes Tier aus dem Dorf zu jagen.
Wild animal, wiederholte er und hielt inne. Er habe 2007 eigentlich gerne gemocht.
Ich dachte kurz nach und sagte: I don’t know. I really don’t know.
Beim Lutschen der sechsten Rosine fiel mir ein, dass ich es noch nie bis zur sechsten geschafft habe. Irgendwie freute mich das. Danach wurde ich geküsst und ein glückliches neues Jahr wurde mir gewünscht.
Beim Lutschen der siebten Rosine gefiel mir plötzlich, wie bedrohlich das Glockenläuten die Raketen und die Explosionen untermalte. Auf der Kirche las ich die Inschrift: „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden.“ Diese Angst vor der Dunkelheit. Wie düster sie da stand und bedrohlich tiefe Dongs von sich gab, während drumherum das wilde Tier aus der Stadt getrieben wurde und auf das neue Tier, das neue Glück, getrunken wurde. Wie eine Hure kam mir 2008 vor. In 368 Tagen wird man sie wieder wie ein wildes Tier vertreiben. Ich wusste, dass ich blöd bin, solche Sachen zu denken, und dachte mir, falls ich das alles bloggen sollte, dann sollte ich die Sache mit der Hure nicht erwähnen. Ist irgendwie scheiße.
Danach nahm ich die letzten fünf Rosinen aus dem Taschentuch und steckte sie mir gleichzeitig in den Mund. Als ich die letzten fünf Rosinen im Mund kaute, dachte ich erst, wie gut das eigentlich schmeckt, und warum man das nicht gleich so macht. Und dann erinnerte ich mich an das Wünschen: Nach den zwölf Rosinen könne man sich ja etwas wünschen. Ich hatte einen Wunsch.