Stabat Mater

Manchmal denkt man, dass künstlerische Werke durch höhere Eingabe entstanden sein müssen. Wo Antonin Dvorak 1875 seine Neugeborene Tochter verlor, begann er die ersten Skizzen für das Stabat Mater zu schreiben. Stabat Mater heisst auf Deutsch übersetzt Die Mutter, sie stand und beschreibt, das Leiden der Maria vor dem Kreuz ihres Sohnes.
Da Antonin Dvorak bekannterweise ein Tscheche ist, und wahrscheinlich viel zu lustig und unbekümmert um in ewigem Verdruss umherzuleiden, wandte er sich bald wieder seinen eher fröhlicheren Werken zu und liess das Stabat Mater eine Skizze sein. Dvorak ist bekannt für seine “Slawischen Tänze”, oder “Symphonie aus der neuen Welt”, und nicht für schwermütige Musik voller Schmerz und Trauer. Vielleicht schlug ihm die Musik zu sehr auf das Gemüt und war es Leid, für immer, mit schweren Knödeln in der Kehle herumzulaufen.
Bis zwei Jahre später, im August 1877, seine elf Monate alte Tochter verstarb. Und einen Monat später, im September, sein dreihjähriger Sohn. Daraufhin vollendete er das Stabat Mater in wenigen Wochen.

Und genauso hört sich das Stück auch an.

Ich war nach unserer Aufführung des Stabat Mater gestern in der Musikhalle sehr angetan. Erledigt und schwermütig, weil wegen des intensiven Probens, seit Tagen nichts anderes mehr in meinem Kopf herumschwirrt als Sätze wie Stabat Mater Dolorosa. Und nachher war ich vom vielen und schweren Wein betrunken. Wenn es solche morbiden Tage wie den Karfreitag schon gibt, dann sollen sie auch richtig knallen.

Ich will ja nicht kleinlich sein und den Leuten fehlenden Humor vorwerfen, oder sie steif und verkrampft bezeichnen, aber wenn ISDN schon vier Buchstaben hat, warum kann man dann nicht auch Analog auf vier Buchstaben herunterbringen, wenn es des Platzes wegen eh schon abgekürzt wird.

3: Hamburg Musikhalle

In Zehn minuten drei Gläser Wein trinken, dann auf die Bühne stürmen und singen. Da brodelt es im Leib. Selten standen mein Körper und Seele sich näher.

(Allerdings muss man in der Pause gleich nachgiessen, weil es nichts schlimmeres gibt als entweichenden Alkohol)

1: Bremen

Ich bin ein Weltmeister darin, aus meinen Fehlern nicht zu lernen. Man könnte meinen ein Katastrophenkonzert wie damals im NDR würde sich nicht mehr wiederholen. Ganz im Gegenteil, ich begang wieder exakt die selben Fehler.
So waren vor Anfang des Konzertes schon wieder meine Noten verschwunden. Diesesmal hatte ich aber zugegebenermassen mehr Glück gehabt, da ich es früher merkte, der Saal also nur mit einem halben Dutzend Leuten gefüllt und ich mich schnell auf die Bühne schleichen konnte. Beim dritten Mal werde ich es wohl gelernt haben.

Jedoch will ich mich gar nicht in den Details des Konzertes verlieren, und nicht die italienische Sopranistin erwähnen, die in ihrem engen, roten Korsett und halb durchsichtigem Kleid, beim Auftauchen auf der Bühne, den Einsatz der Tenöre und Bässe vermasselte.
“Si ridesti il leon di Castiglia” hätte es da tönen sollen. Laut und männlich geknödelt, so wie Verdi es wollte, aber nein nein, bloss offene Mäuler, die die Knopflöcher der Korsage zählten. Witzigerweise, und das ist wirklich kein Scheiss, hatte der schwule Bassist im Chor als einziger den Einsatz nicht verpasst. Mutig sang er ganz alleine den Männerchor, bis der Rest aus der verträumten Zählerei erwachte und langsam langsam in die Noten guckte.
Aber wie schon gesagt, das will ich ja gar nicht erwähnen.

Zu erzählen gibt es auch nichts über Bremen. Viel mehr als das Postgebäude, die Strassenbahn und einige umliegenden Häuser habe ich nicht gesehen. Wie Hans-Georg im vorigen Eintrag schon kommentierte, bleibt bei sowas keine Zeit für Besichtigungen. Er hat Recht behalten.

Erzählen will ich nur von einer älteren Frau im Publikum. Sie sass in der siebten oder achten Reihe. Normalerweise würde mir sowas gar nicht auffallen, aber im zweiten Teil des Konzertes gab es vier Arien von Puccini und Verdi hintereinander, da hatte ich halt viel Zeit in der Nase herumzubohren und das Publikum zu mustern.
Da war diese Frau die schlief. Sie muss wohl alleine gewesen sein, sonst wäre sie wohl von ihrer Begleitung kurz angestossen worden. Es sah ja nicht aus, wie sie da sass, schief im Sessel, den Kopf nach hinten und den Mund geöffnet. Eine Frau aus dem Sopran sagte nachher, sie hätte sie auch zittern sehen, so kurze, krampfartige Bewegungen. Wäre ja kein Wunder, der Pauker vom Krakauer Symphonieorchester war ja ein grosser Bursche, aber selbst gesehen habe ich das nicht. Es wunderte mich nur, dass später, beim Trinklied aus “La Traviata”, wo das Orchester (und auch der Pauker) sich so richtig ins Zeug legten und zusammen mit unserem “godiamo godiamo” einen richtigen Krach produzierten, die Dame immernoch keinen einzigen Murks machte. Spätestens dann hätte sie sich doch bewegen müssen.
Nach dem Finale wurde zehn Minuten lang kräftig geklatscht, das Publikum stand auf, der Lärm schien ewig zu dauern. Die einzige Person die sich nicht rührte, war diese ältere Dame in der siebten oder achten Reihe.
Das Publikum verliess den Saal. Ich war einer der letzten der von der Bühne abging, weil ich ganz hinten in der Mitte stand. Ich behielt die schlafende Dame im Blick, während sich alles um sie herum leerte. Weil sie immer noch keine Bewegung machte und gar nicht daran dachte den Saal zu verlassen, ja wie denn auch, wenn sie von alledem nichts mitbekam, erregte sie die Aufmerksamkeit von einigen anderen Gästen, welche sich der schlafenden Dame annahmen. Ich sah bloss, dass man versuchte sie erfolgslos wachzurütteln. Das Treiben um der Dame wurde nervöser, man legte ihr Finger an den Puls. Der Saal war zu diesem Zeitpunkt schon fast leer. Automatisiert verliess ich die Bühne, weil ich dran war abzugehen. In den Wirren der Gänge hinter der Bühne hörte ich dann Sirenen von Krankenwagen. Ich kleidete mich um, drehte mir eine Zigarette und verliess fünfzehn Minuten später das Gebäude an der Voderseite. Dort standen zwei Krankenwagen. Die Blaulichter waren schon ausgeschaltet. Ein Zeichen das ich aus meiner Kindheit kenne, das bedeutet, dass jede Hilfe zu spät gekommen ist.
Eigentlich gar kein schlechter Tod, sagte eine Dame vom Alt, nachdem ich ihr die Zigarette angesteckt hatte und wir stillschweigend die Ankunft des Notarztes verfolgten. Auch der ohne Blaulicht.
Da hatte sie wohl recht.