Eigentlich wollte ich am Samstag auf die grosse Demo gehen, da meine Frau jedoch noch auf Reise und ich mit der Hündin alleine war, blieb ich zu Hause. Am Abend war das Spiel gegen den Hamburger SV, dafür hatte sich die Nachbarin netterweise bereit erklärt, das haarige Tier zu sich aufzunehmen. Meine Frau würde erst gegen Mitternacht zurück sein und ich auch, die Hündin wäre sonst sieben Stunden alleine gewesen, das mag ich ihr nicht antun.
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In der Kurve war wieder alles voll. Es wird jedes Jahr voller und enger. Neulich hatten wir im Fanclub beschlossen, mindestens zwei Stunden vor Anpfiff unten im Block zu stehen, weil es mittlerweile nicht mehr möglich ist, dass einzelne Personen Dutzende Plätze reservieren. Bei diesen grossen Spielen wie gegen den HSV werden zudem zahlreiche Menschen in die Kurve geschmuggelt, es ist immer ein Gedrängel. Wenn ich es jetzt ganz nüchtern betrachte, stehe ich 2 Stunden ohne Fussball im Block und 1,5 Stunden mit Fussball. Glücklicherweise muss ich es nicht nüchtern betrachten, weil ich jetzt auf 1-Liter-Becher Bier umgeschwenkt bin, anstatt immer an den 0,5 Liter Bechern zu nuckeln.
An allen Plätzen waren blaue sowie weisse Papierfahnen hinterlegt. Zum Anpfiff, während wir die Vereinshymne singen, sollten alle die an dem Platz vorgesehene Fahne hochhalten. Im Gesamtbild ergab das einen Apfelbaum. Es sollte den Apfelbaum darstellen, den der verstorbene Präsident Kay Bernstein pflanzte. Heute jährte sich sein Todestag zum ersten Mal. Der Apfelbaum war sein Symbol für Hoffnung und für einen neuen Weg nach den turbulenten Jahren mit Milliarden von zwielichtigen Gestalten.
Nachdem wir die Fahnen hochhielten, wurde ein riesiges Banner vom Oberring nach unten gezogen. Es stellte ein kleines Mädchen vor einem Apfelbaum dar. Es sitzt auf einem Stuhl, vor ihr ein Korb mit Äpfeln, an der Lehne hängt die sogenannte Präsidentenjacke, die er bei der historischen Wahl trug. Rechts im Hintergrund das Olympiastadion.
Symbolik.
Siehe Bilder.
Meiner Nachbarin kamen die Tränen. Aber sie weint immer, wenn man über Kay redet.
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Die Geschichte des Spiels:
- Hertha ist die aktivere Mannschaft
- Der HSV schiesst zwei Kontertore gegen uns
- Nach sechzig Minuten kommt unser langzeitverletzter Hoffnungsträger und Beautyking Reese ins Spiel und leitet zwei Tore für uns ein
- Kurz vor Schluss fangen wir noch ein blödes Kontertor
Und so verloren wir. Es half auch nichts, dass ich „Hertha BSC heisst unser Verein“ lauter sang als sonst.
Neben mir steht neuerdings immer eine junge 23-jährige Niedersächsin. Sie hat sich als Achtjährige in Hertha verliebt und ist vor zwei Jahren in die Stadt gezogen um ihrem Verein nahe zu sein. Vorher musste immer der Vater sie zu den Heimspielen nach Berlin bringen. Jetzt ist sie autonom und steht bei jedem Heimspiel in der Kurve, zudem fährt sie zu jedem Auswärtsspiel mit Leuten aus unserem Fanclub mit. Sie ist superlieb und lustig, aber sie ist auch unheimlich frech. Es ist nichts Neues, dass Frauen frech zu mir sind. Irgendwie scheine ich das in vielen Frauen auszulösen. Heute machte sie sich ständig über mich lustig, dass ich beim Klatschen aus dem Takt falle. Ausserdem behauptete sie, dass ich auch gesanglich hinterherhänge. Ich sagte ihr, ich wisse, was ich tue, ich sei schliesslich Schlagzeuger. Damit verstummte sie. Das ist zwar gelogen, aber als Schlagzeuger musste ich ja wissen, was ich tue.
Nach dem Spiel hingen wir noch lange am Rondell, gegen halb 12 hatte sich der Ansturm auf die S-Bahnen etwas gelegt, also machte ich mich auf den Heimweg. Wir sassen dann zu viert in einer Sitzgruppe. Einer der Freunde hatte eine seltsame Hose an, deswegen sprach ich ihn darauf an und er meinte, er hätte sich gerade einer Vasektomie unterzogen und müsse daher noch zwei Wochen lang etwas vorsichtiger sein. Wir alle fanden das unheimlich interessant. Er hatte sich aus nachvollziehbaren Gründen dazu entschlossen. Zum einen schluckt seine Frau seit Jahrzehnten Hormone, um ungeplante Schwangerschaften zu verhindern und andererseits hätten sie ohnehin schon zwei Kinder, die Familienplanung sei nun abgeschlossen. Ausserdem: Er will mit 50 kein Vater mehr werden.
Wir löcherten ihn mit Fragen. Über Schmerzen, übers Masturbieren, über seine Gefühle. Ein Mix aus Neugierde, Respekt und Belustigung. Er erzählte bereitwillig und auch amüsiert darüber. Das Thema liess uns die ganze Fahrt nicht mehr los. Auch nicht, nachdem sich am Alex unsere Wege trennten. Ich fuhr da nur noch mit einem Freund auf der u5 weiter nach Osten. Wir fragten uns auch, ob sich an der Qualität des Spermas etwas verändert. Aber was bedeutet Qualität bei Sperma schon genau? Die Textur? Der Geruch, der Geschmack? Wenn man danach googelt, findet man viele Antworten, aber nicht, ob sich an der Qualität des Spermas etwas verändert. Ausgenommen natürlich, dass es nicht mehr befruchten kann.
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Heute hatte meine Frau Geburtstag. Letztes Jahr um diese Zeit waren wir in Rovaniemi bei minus 23 Grad. Sie wurde fünfzig. Wir denken gerne an jene Reise zurück. Übermorgen werde ich fünfzig. Ich überlegte das ganze Jahr, was ich zu meinem Fünfzigsten Geburtstag machen will. Entweder verreisen oder eine grosse Party. Weil ich das ganze Jahr lang keine Entscheidung traf, gehen wir wahrscheinlich Pizza essen und Bier trinken. Meine Frau findet das super.
Für ihren eigenen Geburtstag zog sie es heute vor, Horrorfilme zu schauen und zu kochen. Sie hatte ein aufwendiges Gericht ausgesucht, das uns drei Stunden lang in der Küche binden würde. Es heisst „Zucchini Rollatini„. Den Grossteil der Zeit verbringt man damit, Zucchini in papierdünne Scheiben zu schneiden, diese zu trocknen, auszulegen und wieder aufzurollen.
Die Speise war sehr gut, aber sagen wir so: der Aufwand ist den Ertrag nicht ganz wert. Jedoch hatten wir Champagner und gutes Bier und so war der Tag immerhin unterhaltsam.
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