[So, 12.10.2025 – Kolonisation]

Wir suchten in Grönland natürlich zuerst nach den typischen grönländischen Sachen. Essen, Trinken, Kleidung, Kneipen, Läden, Buchläden, Cafés usw. Zeitungen konnten wir leider nicht lesen, aber immerhin standen uns alle haptischen und optischen Dinge offen. Natürlich wollten wir auch wandern und die Landschaften erkunden, aber die Menschen vor Ort, die Zivilisation, der Lebensalltag, das sind für mich wesentliche, vielleicht sogar die wichtigsten Dinge, die mich auf einer Reise beschäftigen bzw. mich interessieren. Es stellte sich aber bald eine ziemliche Ernüchterung ein. Sicherlich waren unsere Erwartungen etwas überzogen. Wir kamen gerade aus Island, wo die Isländerinnen vor lauter Islandliebe regelrecht platzen (eruptieren), die haben etwa 50 Brauereien, tausende Islandbücher über Feen, Gletscher, Vulkane und Vikinger, alles, was man isst, konsumiert oder anschaut, hat irgendwie den Zusatz, echt isländisch zu sein. So ist es ja mittlerweile in vielen Ländern, ob Portugal oder Polen, mit einer solchen Erwartungshaltung reisten wir insgeheim sicherlich auch nach Grönland.

Es gibt im Supermarkt Walfleisch, Robbenfleisch, natürlich Rentierprodukte und auch Moschusochsenfleisch. Aber das wurde alles nicht touristenfreundlich in Probier- oder Geschenksets angeboten, sondern abgepackt wie Gehacktes im Kühlregal. Das ist einerseits natürlich sympathisch und total richtig, weil ein kleines Robbensteak halt echte Nahrung ist und nicht nur ein Gimmick für Besucherinnen, andererseits steht das auch sinnbildlich für ein gewisses – wie soll ich es nennen – fehlendes Bewusstsein für die eigene Identität, für die eigene Kultur oder besser gesagt, die daraus folgende Darstellung dessen, also: stolz.

Im Nationalmuseum Nuuk erfuhr ich, dass Grönland bis 1953 nicht ohne Genehmigung betreten werden durfte. Es war eine Kolonie, die dazu diente, Dänemark und Europa mit Tierfett zu versorgen. Die Inuit waren einerseits gute, billige Arbeitskräfte, darüber hinaus aber eher störend. Dass man ab 1700 diese als unterentwickelt wahrgenommenen Wilden erstmal christianisierte, galt als selbstverständlich, und auch, dass man sich da einfach Land nehmen und es besiedeln konnte. Es ist für Inuit sehr löblich, dass sie das alles zuließen, andererseits ist das längst nicht alles freiwillig geschehen, außerdem wussten sie damals wohl auch nicht, wie invasiv die neuen europäischen Besucher sein werden, das Konzept, Land zu besitzen oder einen Staat zu verteidigen, war ihnen auch eher fremd. Irgendwann ist es halt zu spät. Nach 300 Jahren sind sie in deren eigenem Selbstverständnis ein christliches Volk. Irgendwie auch dänisch, aber eben nicht ganz. Weil die Dänen die wohlhabenden Sugardaddys sind, die letztendlich die Wirtschaft steuern. Die Inuit sind gefühlt immer noch die Minderheit, obwohl sie 90 % der Bewohnerinnen stellen.

Es gibt schon seit längerer Zeit Unabhängigkeitsbestrebungen. Dänemark ist auch durchaus bereit, die Unabhängigkeit zu gewähren, allerdings kann sich das Land derzeit nicht selbstständig tragen. Dann kam der Skandal hinzu, dass Dänen noch vor einigen Jahrzehnten Inuit-Frauen gezielt sterilisierten. Der Dialog kommt nur schleppend voran. Dass Trump nun versucht, die Insel zu annektieren, sorgt dem entsprechend nicht unbedingt für Freude. Die beiden jungen Leute von der Bootsfahrt lächelten über Trump hinweg. Das sei ein lächerlicher Clown. Andererseits sprach ich am nächsten Tag mit dem jungen Bergführer, der meinte, dass sich seit den Reden von Trump der Tourismus aus den USA verstärkt hätte. Das sei für seinen Beruf und das Einkommen seiner Familie ja sehr zuträglich. Er hatte ein wesentlich positiveres Bild von Trump, wollte sich jedoch nicht näher äußern. Er sagte, er rede nicht gerne über Politik.

Meine Frau sagte ständig, dass ich auf meine Wortwahl achten soll. Ich verwendete nämlich oft den Begriff „unterentwickelt“. Sie sagte, das sei rassistisch und vielleicht entspräche es auch nicht den Wertevorstellungen der einheimischen Bevölkerung, im europäischen Sinne entwickelt zu sein. Das lasse ich teils schon gelten, ich habe wenig Ahnung von den Wertevorstellungen nomadischer Kulturen oder Völker, die kulturell von der Jagd lebten. Ich beobachte aber Parallelen zur Außenwahrnehmung der Inuit in Alaska und Kanada sowie der Samen in Lapland oder der Pomoren und uralischen Völker im russischen Polarmeer. Alle diese arktischen Völker sind Minderheiten in von Europäerinnen beherrschten Staaten. Diese Völker haben halt aufgehört, ihre eigene Erfolgsgeschichte zu schreiben, es geht ihnen (zum Großteil) gut, man hat ihnen Industrie gebracht und so passt man sich ein und ihre Kulturen lösen sich langsam in der dominanteren cultura franca auf. Wahrscheinlich verkommen sie irgendwann in der Märchenwelt.

Woran ich das vor allem festmache – und das klingt jetzt wie ein Witz, aber: Es gibt in Grönland keine gescheiten Postkarten. Dieses riesige Land ist dermaßen voll von spektakulären Motiven, jedes dritte Foto in der Galerie meines Telefons taugt als Postkartenmotiv, aber in den verschiedenen Läden, sogar in der Tourist-Info von Nuuk, gibt es nur ein paar in naivem Stil gezeichnete (!) Ansichten von Ilulissat, und Nuuk. Sonst Geburtstags- und Glückwunschkarten mit zwei oder drei lieblos fotografierten Trachten. Okay, ein bisschen witzig meinte ich das schon, aber dieser Umstand machte mich fertig. Als echter Europäer dachte ich gleich daran, 5 Fotos aus meiner Galerie bei Rossmann in mittelgroßer Auflage zu drucken und sie in Nuuk an Restaurants, Cafés und Einkaufszentren anzubieten. Aber das ist ja auch wieder Kolonistenverhalten, wenn man es kritisch betrachtet.

Immerhin gibt es Mode. Drei Geschäfte, die modische Kleidung aus Robbenfell und Wolle von Moschusochsen verkaufen und teilweise auch herstellen. Taschen, Jacken, Mützen, Handschuhe. Und eine Handvoll Restaurants, die mit arktischen Zutaten experimentieren. Und es gibt eine Brauerei, die einige wenige Lokale beliefert. Dominant ist allerdings das dänische Carlsberg. Natürlich.

Ich weiß, ich sehe das alles durch meine europäische Brille, aber ich bin mir sicher, dass Grönland ein ganz anderes Land wäre, hätte es die Kolonisation nicht gegeben. Ja, keine neue Erkenntnis. Es beschäftigte mich nur. Direkt aus Island kommend, die sich selbst und ihre Inseln so feiern und dann in Nuuk diese eigenartig schöne Landschaft mit einer Zivilisation, umgeben von dänischen Supermarktketten, die noch nicht genau weiß, wohin ihre Reise geht.

Seit ich zurück bin, kriege ich auf Facebook haufenweise Island-Content empfohlen. Immer noch. Von Grönland: null.

Ich muss da wieder hin.

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