Als ich im Dezember 1995 in die Niederlande zog, hatte es bereits Minusgrade. Ich kannte Karel, einen jungen Hausbesetzer in Utrecht, bei dem ich eine Weile unterkommen konnte. Bis ich eine eigene Bleibe gefunden hatte, da ich ohnehin länger in den Niederlanden bleiben wollte. Ich war in diesem engen, habsburgerisch-grauen Wien nicht zurechtgekommen, ich brauchte einen Neuanfang.
In Schiphol rief ich Karel an, der mir noch die letzten Details der Wegbeschreibung mitgab. Dabei warnte er mich vor, dass das Gästezimmer keine Heizung habe und es momentan leider etwas kühl sei, aber in der Küche gäbe es einen Gasofen, der meistens ausreiche. Man könne dort prima sitzen und etwas lesen oder fernsehen.
Als ich in Utrecht ausstieg war es noch einmal deutlich 2 oder 3 Grad kälter als in Amsterdam. Ich musste mit der Tram in einen Außenbezirk fahren und dort noch ein Stück laufen. Den niederländischen Winterwind war ich noch nicht gewohnt, ich würde einige Winter dafür brauchen. Also hielt ich die Hände gut verstaut in den Jackentaschen und vergrub das Gesicht so gut es ging im Kragen. An eine Mütze oder einen Schal hatte ich nicht gedacht, aber das würde ich schon aushalten.
Die Schule war ein dünnwändiger Flachbau aus den siebziger Jahren. Anfang der Neunziger hatte man Asbest darin entdeckt, woraufhin die Schule in Leerstand geriet. Danach stritt sich der Bildungsträger jahrelang mit der Stadt und in der Zwischenzeit zogen Besetzer ein. Eigentlich eine feine Situation für Hausbesetzer, solange man keine Nägel in die Asbestwände haut oder diese rausreißt und Zimmer zusammenzulegen.
Das Gebäude hatte dünne Wände aus Asbestplatten, die von einem Holzrahmen getragen wurden. Außerdem äußerst große, einglasige Fensterscheiben. Ich fragte mich, warum man in einem kühlen Land wie die Niederlande überhaupt auf diese Weise baut. Die Schule war natürlich kaum beheizbar. Die Küche war nicht eine kleine Küche mit einem kleinen Fenster und einem kleinen Tisch mit einer knuffeligen Ofenheizung. Die Küche war ein ehemaliges Klassenzimmer. Also etwa achtzig Qadratmeter groß. Mit einem kleinen Gasofen, der für eine kleine knuffelige Küche ausgereicht hätte. Die Wärme des Ofens entwich durch die Wände und die Fenster. Ging man vom Ofen weg in Richtung Fenster schritt man durch 5 verschiedene Klimazonen. Am Fenster vereiste das Kondenswasser.
Karel meinte, es sei schon ganz besonders kalt gerade.
Das Gästezimmer war ein ehemaliges Abstellzimmer. Es war kleiner als die ständig bewohnten Klassenzimmer, was im Winter gut war, weil es sich theoretisch besser aufheizen ließ. Außerdem besaß es keine Fenster, was gegen Kälte druchaus gut sein kann. Andererseits war es eben auch das Zimmer ohne Heizung. Aber das würde ich schon aushalten. Außerdem wollte ich mir eine feste Bleibe suchen, das unbeheizte Zimmer würde nur eine vorübergehende Lösung sein.
Die ersten Wochen verbrachte ich damit, mich nach leeren Häusern umzusehen und mich mit Leuten zu verabreden, die ein Haus besetzen wollten. In Utrecht wurde damals jede Woche ein Haus oder eine Wohnung besetzt. Das war Routine. Es war sogar legal, solange man nachweisen konnte, dass das Haus mindestens 6 Monate leer stand. Dann bekam man Hausfrieden zugesprochen, also recht auf Wasser, Gas und Strom. Die Besitzer mussten die Besetzer dann rausklagen. Was ihnen allerdings immer gelang.
In jenen Dezembertagen schlich ich mich nächtelang durch die eisigen Utrechter Gassen um vermeintlich leerstehende Häuser auszukundschaften. Prüfen ob nachts Licht brennt, Streichhölzer in den Türrahmen stecken und in den nächsten Nächten mehrmals nachsehen ob die Streichhölzer noch steckten, weil man dadurch herausfinden konnte ob zwischenzeitlich die Tür geöffnet wurde. Kurz vor Weihnachten war das natürlich nicht hundertprozentig aussagekräftig, kleine Häuser konnten da schon mal über mehrere Wochen leer stehen und in Utrecht sind die alten Häuser oft so klein, dass sie tatsächlich nur von einer einzigen Familie oder einer einzigen Person bewohnt werden. Für jene Nächte hatte ich mir Handschuhe, eine Mütze und einen Schal zugelegt. Wenn ich mit meinem neuen Freund Jochem durch die Straßen lief, redeten wir eigentlich kaum, es war zu kalt um freiaus zu reden. Unsere Gesichter waren im Schal und unter der Mütze verschwunden. Wir redeten nur über die Eckdaten „Streichholz noch da“ „Gut, kein Licht“ „Lass uns ein Bier trinken gehen“.
In die Kneipe zu gehen und das erste Bier zu trinken war immer das schönste. Wenn man rein in den warmen Raum geht, Schal und Mütze abnimmt und das erste Bier von innen her Ohren und die Nase auftaut.
In der Zwischenzeit wohnte ich noch in der besetzten Schule in diesem unbeheizten Zimmer. Ich schaffte mir einen kleinen Gasstrahler für 10 Gulden und eine Propangasflasche an. Als die anderen Bewohner der Schule das erfuhren, gab es ein Riesentheater, da man man keine Gasflaschen im Haus haben wollte. Vor drei Jahren war ein besetztes Haus an der Aquamarijnlaan wegen einer Gasflasche in die Luft geflogen. Die Stimmung war eindeutig gegen mich, ich musste mich von der Gasflasche verabschieden und sie wieder zurückgeben. Mich ärgerte das ungemein, nicht nur wegen der Kälte sondern auch, weil ich für die Flasche einmaligen Pfand bezahlt hatte, den ich nicht wieder zurückbekommen würde. Das waren immerhin 30 oder 40 Gulden. Eine Menge Geld für mich. Damals war ich noch nicht so gut vernetzt, dass ich die Flasche in der Zwischenzeit bei jemandem unterbringen hätte können, auch Jochem gab mir zu verstehen, dass Gasflaschen seit dem Aquamarijnlaanvorfall, in seinem Haus unerwünscht seien. Ich wollte mich aber nicht von der Flasche trennen und versteckte sie daher im Unterholz eines Baumes am Ufer der Catharijnesingel. Ich kam da jeden Tag daran vorbei, wenn ich mit dem Fahrrad von der Innenstadt zu meiner Unterkunft in die Lanslaan fuhr. Das äußere Ufer der Catharijnesingel ist eine Böschung mit mehreren alten Bäumen. Da jener Abschnitt sehr stark befahren war gab es faktisch keinen Fußgängerverkehr, allerdings einen Fahrradweg, so konnte ich nachts einfach anhalten und die Gasflasche ins Unterholz legen und hoffen, dass sie einige Wochen unentdeckt blieb.
Zu Weihnachten waren die meisten Bewohner der besetzten Schule weggefahren. Nur wenige Leute blieben zuhause. Wir kochten gemeinsam und tranken das eine oder andere Bier. Aber der Gasofen fiel ständig aus, so musste der Zündknopf etwa alle zehn Minuten händisch gedrückt werden. Nach dem zweiten oder dritten Bier verschwanden nacheinander alle in ihre Zimmer. Ich blieb noch eine Weile in der Küche, aber das ständige Anschalten des Ofens nervte mich irgendwann auch, also ging ich in mein Zimmer, verkroch mich in meinen Schlafsack, der für minus zwanzig Grad angelegt war, und las ein Buch.
In jenen Wochen wachte ich jeden Morgen mit einer kalten Nase auf. Ich kroch aus dem Schlafsack heraus, zog meine Kleider aus, waschte mich, und zog die Kleider wieder an.
Mitte Januar besetzte ich mit Jochem, Nicolette und Linda ein Haus in der Lange Nieuwstraat. Ein knuffeliges, kleines Altstadthäuschen aus dem 17. Jahrhundert. Das Haus bestand aus einem Erdgeschoß, einer ersten Etage und einem Dachgeschoß. In den beiden Obergeschossen befanden sich je zwei Zimmer. Das Erdgeschoss war früher ein Gewerberaum, er ließ sich kurzfristig nur als Lagerraum verwenden, aber wenn wir dort länger wohnen bleiben würden, wollten wir es als Wohnzimmer umfunktionieren.
Die Obergeschosse waren zum Teil ausgebaut und renoviert worden, es gab funktionierende Wasserleitungen aber keine intakten Stromleitungen. Es gab auch ein ein Heizungssystem. Zentralheizung mit Leitungen und schicken Heizkörpern. Allerdings keinen Boiler bzw Verbrenner, der die Heizung mit Hitze versorgen konnte.
In der Hausbesetzerszene gab es immer außerordentlich viele Fachkräfte. Für jedes technische Problem gab es immer jemanden, der es lösen oder reparieren konnte. In besetzten Häusern gab man sich allgemein aber auch immer schnell mit Provisorien zufrieden. Heizungen waren immer entweder Holzöfen oder Gasöfen. Eine Zentralheizung war teuflische Raketentechnik.
Wir fanden im ersten Winter niemanden der unsere Zentralheizung in Gang setzen konnte. Richtige Heizungsfirmen hätten das sicherlich lösen können, aber vermutlich hätten sie von uns keinen Auftrag angenommen und zweitens wäre uns das sicherlich teuer zu stehen gekommen.
Ich zauberte natürlich meine Gasflasche von der Catharijnesingel hervor. Mein Gasstrahler den ich an die Flasche anschließen wollte, war natürlich nicht mit einer leistungsstarken Heizung zu vergleichen. Er produzierte keine Umluft, sondern er strahlte einfach starke Hitze in seiner unmittelbaren Nähe ab. Er eignete sich also eher dafür, direkt davor zu sitzen und sich zu wärmen, oder ihn neben sich stehen haben und sich anstrahlen zu lassen während man Karten spielt. Er konnte aber, wie sich später herausstellen würde, einen kleinen Raum auch durchaus komplett aufwärmen, wenn man ihn lange genug brennen ließ.
Aber auch in meinem neuen Haus stieß die Gasflasche auf Ablehnung. Die Aquamarijnlaan.
Die ersten Nächte waren eisig. Trotz der kleineren Räume war es deutlich kälter als in der Lanslaan. Unser neues Haus war monatelang unbewohnt gewesen und damit auch die ganze Zeit über unbeheizt geblieben. Die Kälte saß in den Steinen der Mauern, sie strahlte regelrecht davon ab.
Nach der dritten oder vierten Nacht zapften wir den Strom an, legten ein langes Kabel in Nicolettes Schlafzimmer und schafften uns einen elektrischen Radiator an. So lange wir den Strom illegal verwendeten war das durchaus eine Lösung. Wenn wir mal dafür zahlen mussten, war das natürlich keine Option mehr, denn elektrische Radiatoren fressen Strommengen, die unser Geldbeutel nicht hergeben wollte. Aber wir spekulierten darauf, dass unser Stromkonsum den Winter über unentdeckt bleiben würde.
Durch Nicolettes etwas unprivaten Lebensstiles, verwandelte sich ihr Zimmer bald in so etwas wie das Wohnzimmer. Sie hatte immer Besuch und immer saßen irgendwelche Leute auf ihrem Bett. Das war ungemein praktisch, weil wir deswegen wirklich ein relativ warmes Zimmer im Haus hatten. Der Radiator lief Tag und Nacht und weil immer jemand anwesend war, blieb das Zimmer durchgehend auf einer eher günstigen Temperatur. Der Radiator war nicht besonders leistungsstark und draußen waren die Temperaturen wieder in den zweistelligen Minusbereich gerutscht, aber wenn wir uns einigermaßen ernsthaft bekleideten hielt es uns vom Frieren ab.
In der ersten Februarwoche froren dann die Grachten zu. Das sorgte allerdings auch für gute Stimmung. Man bewegte sich nicht mehr auf den Straßen, sondern spazierte auf dem Eis der Grachten. An den Ufern wurden spontane Glühweinstände eröffnet. Menschen fuhren mit den Schlittschuhen. Man konnte auf den Kaimauern sitzen und dem Treiben zusehen, wo sonst nur Wasser war.
Nachts schmissen betrunkene Leute Kühlschränke und Fahrräder von den Brücken aufs Eis. Die Kühlschränke blieben einfach auf dem Eis liegen. Sie waren nicht schwer genug um das Eis zum Einbrechen zu bringen.
In jener Woche wurde uns dann der Strom abgestellt. Damit war die Traumzeit mit dem elektrischen Radiator vorbei. Das Haus kühlte schnell wieder aus, schließlich war ja nur das eine Zimmer mäßig beheizt worden.
In den beiden häuslich warmen Wochen hatten wir uns auch einen alten Kühlschrank angeschafft. Wir wussten jetzt nicht, was wir mit der Milch und der Butter anfangen sollten. Im Kühlschrank stehen lassen, weil es draußen zu kalt ist? Ich kann mich nicht mehr erinnern wie wir uns entschieden.
Wenige Tage darauf meldeten wir aber den Strom an. Das gab natürlich Stress mit der Stromgesellschaft weil die Bleiversiegelung durchgebrochen war. Aber wir wussten davon nichts, wir sind erst gestern eingezogen. Der Mann vom Strom quittierte das mit Wegwerfgesten. Er schloss uns aber an. Den Radiator würden wir allerdings nicht mehr verwenden. Allerdings hatten wir wieder Licht und auch der Kühlschrank funktionierte wieder.
Die Temperaturen blieben jedoch niedrig, nachts hing das Mercurius bei Minus 15 Grad herum. Tagsüber wurde es manchmal einstellig. Meistens aber nicht. Ich schlief mit Mütze. Jochem auch. Nicolette hatte immer Männer im Bett. Das fand ich auch kreativ. Linda weiß ich nicht mehr. Oft schlief sie auch bei Nicolette. Aber nicht wenn Männer da waren.
So war das. Irgendwann ging der Winter aber wieder weg.